Richtige und „falsche“ Rebellen

Der Philosoph Ken Wilber hat sehr treffend analysiert, wie postmoderne Dekonstruktion und Pluralismus der „kulturell Kreativen “ (also just die von Paul Ray so bezeichnete Gruppe, in der ich jüngst im Weltbild-Test gelandet bin…) ins Leere laufen können: „Bei dem noblen Versuch (…), über die konformistischen Regeln hinauszugehen (von denen viele in der Tat unfair und ausgrenzend sind), und in dem ehrlichen Wunsch, eine starre Rationalität aufzubrechen (die in vieler Hinsicht repressiv und verdummend sein kann) – also in dem bewundernswerten Bestreben (…), postkonventionell zu werden -, hat es oft jegliches Nichtkonventionelle propagiert. Und zum Nichtkonventionellen gehört nun einmal (…) vieles, das eindeutig präkonventionell, rückschrittlich und narzisstisch ist.“ Anders gesagt: Wer bei allen aneckt, kann manchmal auch den „richtigen“ Gegner bekämpfen. Er ist damit aber noch immer kein Wohltäter, weil es ihm nur um den eigenen Vorteil gegangen ist.

Offenbar ist dieser Narzissmus auch eine Gefahr mancher neuer Ansätze von Kirche. So hat mehr als eine Gemeinde, die ich kenne, Schwierigkeiten bekommen, etwa mit dem typisch postmodern-dekonstruktivistischen Ansatz von Jim Thwaites, der institutionelle Kirche als „Konstrukt“ (!) bezeichnet, das geradezu verhindert, dass der einzelne Christ seine Rolle in der Gesellschaft wahrnimmt und erfüllt. Thwaites vermeidet es, seinerseits konkrete Modelle für die praktische Umsetzung seiner Thesen zu formulieren. Aber wo diese Theologie nun auf frustrierte oder unreife (eben narzisstische) Individuen trifft (ähnlich kann man auch mit Hauskirchen-Theologie verfahren), da wird mit einem seltsamen Eifer „reformiert“. Nur ist es eben oft leicht zu sagen, wogegen man ist, aber viel schwerer, wofür man dann positiv steht.

Wilber sagt treffend, die oft beschworene Ganzheitlichkeit sei „ein Amalgam aus monologischen Ganzheitsthesen (wie sie etwa von der Physik oder der Systemtheorie angeboten werden), einem Argwohn gegenüber konventionellen Formen von „Fast-Allem-und-Jedem“, einer bewundernswerten Sensibilität gegenüber der Ausgrenzung von Minderheiten, einem Engagement für pluralistische Werte und subjektivistische Vollmachten und einer weitgehend translatorischen (übertragenden) statt etwa transformativen (verwandelnden) Spiritualität.“ (Ganzeitlich handeln, S.44)

Mindestens eine Gemeinde, die ich kenne, hat mit dieser Verwechslung große Schwierigkeiten bekommen und eine hat sich mehr oder weniger „in die Gesellschaft hinein“ aufgelöst – eigentlich völlig zerlegt. Das Konstrukt war weg, und mit ihm verschwand Gemeinschaft und kostbare Beziehungen und es bliebt bei vielen Frust und Enttäuschung. Bei näherem Hinsehen muss man zumindest die Frage stellen, ob da nicht eine Theorie zum Hebel gemacht wurde, mit dem eine frustrierte nachwachsende Generation das gemeindliche Establishment aus dem Amt gekippt hat. Nur waren sie der Aufgabe nicht gewachsen – im wortwörtlichen Sinn. Hätten sie nicht eine gewachsene Gemeinde umgekrempelt, sondern mit deren Segen eine neue Arbeit begonnen, mit der sie hätten mitwachsen können, wäre es vielleicht anders gelaufen.

Ein Hauptproblem in diesen Fällen war beispielsweise die unterschwellige Polemik gegen jede Art von „Zusammenkunft“. So etwas wie „organisierte“ Gemeinschaft in einem festen Rahmen sieht das Modell nicht vor, weil daraus gleich wieder eine Hierarchie entstehen könnte: Es unterscheidet nicht zwischen Zwangs- und „Wachstumshierarchien“. Nur wer den lebenserhaltenden und -fördernden Wert von Ordnungen verinnerlicht hat, kann alte Ordnungen durch neue, zweckmäßigere ersetzen. Aber wo Ordnungen einfach nur aufgelöst werden, schießt unreife Selbstbezogenheit nur allzu leicht ins Kraut. Statt Herrschaftshierarchien braucht es aber so etwas wie Wachstumhierarchien. Ohne zielstrebiges, aber sanftes kybernetisches Handeln geht es also nicht, wenn Transformation das Ziel sein soll.

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