Heute legt mir ein Freund ein Pamphlet hin, in dem jemand erklärt, dass die christliche Kirche seit 1900 (!) Jahren degeneriert. Drunter ein Diagramm, wie es richtig wäre. Ein Glück, dass wir das endlich erfahren. Das finstere Mittelalter, die Zeit der babylonischen Gefangenschaft hat ein Ende und hier ist der Prophet (stopp: Apostel!) der uns den Durchblick verschafft. Er tut das im Übrigen alle paar Jahre mit einer anderen Idee.
Wie verzweifelt muss man eigentlich sein, um auf solche Rhetorik hereinzufallen? Und warum muss jede nette (und meinetwegen auch hilfreiche, richtige, biblische, …) Idee dadurch zum Glänzen gebracht werden, dass man alles andere runtermacht? Gibt es zeitlos richtige Konzepte oder hatten die anderen eben auch in mancher Hinsicht ihre Zeit und Ihr Recht?
Vor 500 Jahren hat man auch mit großem Eifer Reformkonzepte verhandelt. Aber den reformatorischen Vogel hat einer abgeschossen, der gar nicht als Reformator angetreten war, sich erst mühsam in dieser Rolle zurecht fand (im Grunde hat er es nie richtig geschafft), weil er eigentlich nur Gott suchte und das Evangelium verstehen wollte (kein Diagramm…).
Wenn einer vollmundig den großen Wurf ankündigt (statt das Urteil darüber anderen bzw. der Nachwelt zu überlassen, oder – wie wäre das? – Gott selbst!), dann mag ich schon gar nicht mehr weiterlesen. Machen wir es doch eher wie die Bundeskanzlerin: Kleine Schritte, auch wenn Westerwelle (warum fällt mir jetzt ausgerechnet der als Vergleich ein – gibt’s da Parallelen?) über das Trippeln spottet und große Sprünge sehen will.
Den Stein der Weisen lassen wir lieber bei Harry Potter. Reformieren muss jede Generation, aber vielleicht etwas bescheidener im Anspruch nach außen.