Der klassisch griechischen Anschauung zufolge ist die Welt im Wesentlichen unveränderlich. Die Geschichte ist eine Abfolge von Zyklen, die sich endlos wiederholen. Man kann nichts Neues erwarten. Die Zeit ist unfruchtbar, ihr Vergehen ohne Bedeutung. Nur der Raum hat Bedeutung: Territorium, Boden, Blut, Rasse. Eine gewisse Art von Religion – normalerweise als „priesterliche Religion“ bezeichnet – feiert und stärkt diese Sicht der Welt. Priesterliche Religion ist die Religion von Menschen, die an das geheiligte Land gebunden sind, eine Religion, die die Grenzen sanktioniert. Ein Volk vertraut seinem Gott, dass er sein Gebiet beschützt.
Im Gegensatz dazu war die jüdische Weltsicht dynamisch, man verstand die Geschichte als kontinuierlichen Entfaltungsprozess, in den Gott mit „mächtigen Taten“ eingreift, und die Zeit ist möglichkeitsschwanger. Wichtiger noch als Blutsbande war der geschichtliche Bund mit Gott. Diese Weltsicht feiert man in einer anderen Art von Religion, die man normalerweise „prophetisch“ nennt. Prophetische Religion ist die eines Volkes, das nicht an Grund und Boden gebunden ist, ein Volk im Aufbruch, ein Volk, das eine historische Aufgabe vor sich hat – die Aufgabe, Grenzen zu überwinden.
gefunden in: Ronald Marstin, Beyond Our Tribal Gods. The Maturing of Faith (1979)