Vor ein paar Wochen wollte ich eine alte Dame zum 90. Geburtstag besuchen. Ich suchte ihre Telefonnummer heraus und rief an, um einen Termin auszumachen. Kurz darauf klingelte mein Telefon. Die Jubilarin war dran. Ihr Tochter hatte sie gebeten, doch noch einmal zu überprüfen, ob das wirklich der Pfarrer war, der da angerufen hatte.
Denn es rufen allem möglichen Leute an. Falsche Polizisten zum Beispiel, die vor allem ältere Menschen manipulieren und unter Druck setzen. Kürzlich berichtete die „Süddeutsche“ von einem Fall in Nürnberg, wo jemand schließlich 70.000 € in bar vor die Tür legte, die ein Handlanger der Gaunerbande dann einsackte.
Zum Glück geben sich die Trickdiebe (noch?) nicht als Pfarrer aus. Aber die Frage bleibt, wie man sich vor solchen gerissenen, skrupellosen Betrügern schützen kann. Im Fall der Polizei ist es einfach: Die echten Beamten rufen nie mit der „110“ im Display an und sie holen nie Geld und Wertsachen ab.
Original oder Fälschung?
Die Frage, ob der „echt“ ist oder ein Betrüger, stellt sich auch im Blick auf Jesus. Die Meinungen der Zeitgenossen gingen erheblich auseinander. Eine Gruppe stand ihm ganz besonders kritisch gegenüber: die Schriftgelehrten. Sie verstanden sich als eine Art Aufsicht in religiösen Fragen – und damals war alles eine religiöse Frage, von den Speisen bis zu den Steuern. Immer wieder verlangten sie von Jesus, sich irgendwie auszuweisen – als einer von ihnen, als rechtgläubig (oder „bibeltreu“), als „echter“ Messias.
Fakt ist, dass es damals tatsächlich auch „falsche“ Messiasse gab: Judas der Galiläer, Menahem, Theudas zettelten im Namen Gottes Aufstände gegen die Besatzer an. Die Römer schlugen hart zurück. Wie Assad in Syrien, wie das Militär im sudanesischen Khartoum oder die Polizei in Moskau, die kürzlich 400 Demonstranten verhaftete.
Es stand also eine Menge auf dem Spiel. Jesus hat die Anfragen und Zweifel der Schriftgelehrten trotzdem ziemlich ungehalten kommentiert:
Jeremy LishnerIhr erforscht die Heiligen Schriften, weil ihr meint, durch sie das ewige Leben zu erhalten. Auch die sind meine Zeugen. Aber ihr wollt euch mir nicht anschließen, um das ewige Leben zu erhalten.
Johannes 5,39-47 (Basisbibel)
Ich bin nicht darauf aus, dass Menschen mir Herrlichkeit zugestehen. Außerdem habe ich euch durchschaut: Ihr habt keine Liebe zu Gott in euch. Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, und ihr lehnt mich ab. Wenn aber irgendjemand anderes in seinem eigenen Namen kommt – den nehmt ihr auf.
Wie könnt ihr denn zum Glauben kommen? Es geht euch doch nur darum, dass einer dem anderen Herrlichkeit zugesteht! Aber nach der Herrlichkeit, die der einzige Gott schenkt, strebt ihr nicht.
Ihr braucht nicht zu denken, dass ich euch vor dem Vater anklagen werde. Es ist vielmehr Mose, der euch anklagt – Mose, auf den ihr eure Hoffnung gesetzt habt. Denn wenn ihr Mose wirklich glauben würdet, dann würdet ihr auch mir glauben. Denn er weist in der Heiligen Schrift auf mich hin. Wenn ihr schon seinen Schriften nicht glaubt, wie wollt ihr dann meinen Worten glauben?«
Wie kam das wohl an? Ich stelle mir vor, dass ein paar Tage später ein offener Brief in der Jerusalem Post erschien. So ähnlich könnte er gelautet haben:
Sehr geehrter „Kollege“ Jeschua Ben Josef,
Hochachtungsvoll,
mit Befremden haben wir Ihre jüngsten Anschuldigungen und Unterstellungen aus der Mitschrift eines gewissen Johannes zur Kenntnis genommen. Sie konfrontieren uns darin mit dem schwerwiegenden Vorwurf des Unglaubens und unterstellen uns ein defizitäres Verständnis der Heiligen Schriften. Wir weisen das mit aller Entschiedenheit zurück. Desgleichen weisen wir Ihren Anspruch zurück, über uns Schriftgelehrte ein solches Urteil aussprechen zu können. So lassen wir uns als anerkannte Fachleute nicht abkanzeln.
Ihre eigenwillige Interpretation des göttlichen Willens fällt dadurch auf, dass Sie sich selbst stets in dem Mittelpunkt rücken. Diese Verengung und Personalisierung erscheint uns unangemessen. Niemand kann sich heute ernsthaft mit dem unvergleichlichen Mose auf eine Stufe stellen wollen. Die Dreistigkeit, mit der Sie sich als Sprachrohr Gottes ausgeben, erscheint uns überzogen und hochgradig manipulativ.
Möglicherweise liegt der Grund dafür in ihrer unzureichenden theologischen Ausbildung: Ihr letzter längerer Aufenthalt im Tempel liegt schon Jahre zurück. Sie waren damals erst Zwölf. Über eine längere Lehrzeit bei einem anerkannten Rabbi ist nichts bekannt. Auch an einschlägigen Auffrischungs- und Fortbildungsmodulen haben Sie nicht teilgenommen. Dabei fanden etliche davon sogar in ihrer galiläischen Heimat statt.
Um das Gespräch auf einem sachlich angemessenen Niveau zu führen, sind aus unserer Sicht zwei Bedingungen zu erfüllen: Legen Sie erstens einen anerkannten Studienabschluss vor und machen Sie zweitens deutlich, dass Ihre Ausführungen auch nur eine Lehrmeinung unter und neben anderen enthalten.
Bis dahin bitten wir Sie höflichst, die Fragen nach Gottes Reich in der Welt und der Zukunft der Menschen bewährten und fachkundigen Personen zu überlassen.
die Innung der Schriftgelehrten
Die Situation erinnert ein bisschen an die unbeholfenen, pikierten Reaktionen aus den Reihen von CDU/CSU auf das Youtube-Video von Rezo: Wer ist der? Darf der sowas sagen? Da könnte ja jeder…! Der soll doch erst mal…!
Wenn Gott seinen Leuten entwischt
Jesus verweist auf die Heiligen Schriften, seine Kritiker auch. Eben dort gibt es allerdings zwei unterschiedliche Traditionen, die in erheblicher Spannung zu einander stehen: Die prophetisch-machtkritische mit dem freien Gott auf der Seite der Leidenden – und die königlich-priesterliche Tradition, die Gott auf der Seite der Hierarchie sieht und ihn schnell mal für die eigenen Interessen vereinnahmt.
Der Konflikt zwischen beiden begegnet uns bei Jeremia, der sich als einzelner Mahner und Warner gegen Macht und Mehrheit stellt. Jeremia prangert in der heutigen Lesung aus dem Ersten Testament trügerische Beschwichtigungen an, die jegliches Umdenken blockieren: Falsche Propheten predigen nichts als Wunschdenken und egozentrische Träume. Das priesterliche Lager verkleidet sich als prophetisch. Gott bleibt weiterhin das Maskottchen eigener Pläne. Mit anderen Worten: Er wird zum Götzen.
Gott wäre aber nicht Gott, wenn er nicht Wege hätte, diesem Käfig der Monopolisierung zu entkommen. Er ist nicht nur der Nahe, Zahme und Vertraute, sondern manchmal eben auch der Fremde, Ferne und Verstörende. Nun läuft er frei auf der Straße herum und heilt einen Kranken. Wir lesen davon am Beginn des 5. Kapitels des Johannesevangeliums – ich komme gleich darauf zurück. Und er sagt dabei auch noch unpopuläre Sachen.
Profis unter sich?
Wir würden alle gern weitermachen wie bisher: In der Kirche, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft. Wir tun uns alle schwer, auf Stimmen zu hören, die uns das Gegenteil sagen. Das ist einfach nicht sehr sympathisch. Wir würden uns gern gegen ungebetene Kritik isolieren. Und genau damit laufen wir Gefahr, Gottes aktuelles Reden zu verpassen, wenn wir ihn nur noch drinnen bei uns sehen und nicht mehr draußen bei den anderen.
Wo wir allerdings immer schon „wissen“, dass wir alles richtig machen, hören wir auch nur auf die, die uns das bestätigen. Bei allen anderen suchen wir, auch mit Hilfe der Bibel, nach Fehlern, um ihnen nicht zuhören zu müssen. Und wir bestätigen uns gegenseitig darin, dass wir im Recht sind. Das ist das, was Jesus meint, wenn er sagt, dass da Leute „Ehre von einander“ annehmen. Mit der Zeit wird es in solchen Gruppen, die sich ständig selbst rechtfertigen, undenkbar, noch einen anderen Standpunkt einzunehmen.
Solche Organsationen gibt es ja, in denen ein geschlossener Zirkel alles dominiert und nur seinesgleichen duldet. Aufsichtsräte, Machtkartelle, Seilschaften, und Hierarchien, die sich gegenseitig legitimieren und Störungen verhindern: „Überlasst das den Profis“. Dann reicht zur Beglaubigung auch der eigene Name oder Titel. Den erwirbt man sich durch Anpassung an die etablierte Ordnung. Und man bekommt die Achtung, so lange man nicht aus der Reihe tanzt. Der unvermeidliche Preis: wachsende Betriebsblindheit.
Hierarchien hacken
Der ganze Streit entbrennt, weil Jesus einen Kranken heilt, der keine Chance hatte, den Wettlauf um Heilung am Teich Bethesda zu gewinnen. Wenn sich das Wasser kräuselte, wurde (so sagte man) derjenige von Engelhand geheilt, der als erster im Wasser war. Aber die Schwachen und Langsamen, die besonders Bedürftigen also, hatten keine Chance. Was für eine Ungerechtigkeit! Und da soll Gott dahinter stecken?
Jesus ignoriert die Hausordnung an diesem heiligen Ort einfach. Er hilft dem Kranken nicht ins Wasser, sondern heilt ihn vom Fleck weg: „Nimm deine Matte und geh!“ Und dann trägt der Mann seine Matte nach Hause – freilich am Sabbat. In den Augen der Glaubenswächter ist das verbotene Arbeit. Und Jesus der Anstifter zum Gesetzesbruch. Wer sowas tut, kann auf gar keinen Fall ein Prophet sein…
Original oder Fälschung? Biblische Kriterien in der Frage, wo Gott am Werk ist, wären, wie die Heilung am Teich Bethesda zeigt, zum Beispiel solche eminent theologischen Fragen:
- Wo regt sich neues Leben?
- Wo kommen Menschen wieder auf die Beine?
- Wo stehen sie auf für Veränderung?
- Wo wird Ausweglosigkeit, Abstumpfung und Resignation überwunden?
- Was bringt Menschen zum Staunen, Jubeln und Danken?
Der Evangelist Johannes zeichnet Jesus schon im Licht der Auferstehung. Nirgendwo zeigt sich deutlicher als an Ostern, dass Gott sich zu hundert Prozent zu Jesus stellt. Aber diese enge Verbindung blitzt schon vorösterlich immer wieder einmal auf. Insofern sehen wir nachösterlichen Betrachter leichter als die Schriftgelehrten damals, was jene übersehen. Wenn es nämlich Gott ist, der da mit und durch Jesus handelt, dann darf er auch die Regeln verändern. Zumal menschliche Regeln wie die Ausführungsbestimmungen zum Sabbat. Oder Kirchenordnungen, die sich überlebt haben. Oder die traditionellen Geschlechterverhältnisse. Oder Dogmatismus und Kontrollbedürfnisse.
Neu sehen lernen
Die Schriftgelehrten in dieser Episode sind nicht mehr empfänglich für andere Sichtweisen. Die Botschaft Jesu prallt förmlich an ihnen ab. Das ist weniger ein theologisches als vielmehr ein spirituelles Problem.
Rowan Williams, der frühere Erzbischof von Canterbury, sagte jüngst: „Unser Problem ist, dass wir in einem gesellschaftlichen und kulturellem Umfeld leben, in dem ein falsches Verhältnis zur Wirklichkeit systematisch verbreitet und belohnt wird. Am extremsten ist das Ausmaß dieser Verleugnung der Realität da, wo wir uns weigern, uns der Krise unserer Umwelt zu stellen.“ Und er fährt fort:
Spirituelles Wohlbefinden dreht sich, wie andere Arten von Gesundheit, um lebensfördernde Beziehungen (…) Spirituelles Wohlbefinden hat damit zu tun, jene Kontexte zu finden, jene Disziplinen, die in der Lage sind, es mit den Phantasien und Mythen aufzunehmen, die uns aufgedrückt werden. (…) Das geistliche Leben hat mit einem Bildersturm zu tun – darauf zu achten, dass wir unseren Phantasien gegenüber kritisch bleiben, damit unser Sehen letztlich frei bleibt von Zwang, Machthunger oder Gier.
Rowan Williams
Immer wieder machen uns Menschen auf diese Verleugnung der Wirklichkeit und unsere persönliche wie gemeinschaftliche Verantwortung aufmerksam. Letzte Woche hat der Kirchentag erneut eindringlich an die Krise der Seenotrettung im Mittelmeer erinnert. Gleich um die Ecke in Aachen haben „Fridays For Future“ und „Ende Gelände“ zusammen demonstriert. Da ist einerseits Hartnäckigkeit gefragt, andererseits reagieren viele erst einmal ärgerlich und genervt. Sind das Feinde der hergebrachten Ordnung, wie manche behaupten? Oder Vorboten einer anderen, menschenfreundlichen Ordnung?
Auf welcher Seite würde der Jesus vom Teich Bethesda wohl stehen? Diese Frage zu beantworten heißt freilich, sich im nächsten Schritt zu fragen: Und wo stehe ich? Wo stehen wir? Wie halten wir einander diesen Raum des Umdenkens und der Neuorientierung offen, den Jesus in diese Welt gebracht hat?