„pornographische Anbetung“

Ein grandios wütender Kommentar von Alexander Gorkow heute in der SZ zur Verleihung der goldenen Kamera, dem Heiratsantrag von Monica Lierhaus und der Frage, was unser Fernsehen eigentlich im Innersten antreibt:

Hinter den Kulissen von deutschen TV-Unterhaltungsformaten finden rituelle Gebete statt. Es geht in diesen Gebeten selten um die Hoffnung auf den großen Erkenntnisgewinn während einer bevorstehenden Sendung. Es geht selten auch um jene Subversion, die Engländer und Amerikaner beherrschen (…) Es geht in unserem Gebührenfernsehen – dem mit jährlich rund acht Milliarden Euro teuersten der Welt – in Ermangelung an Stil, Humor und Vertrauen in die Zuschauer wenig um Sprache. Es geht stattdessen um eine Art Gott, und es ist dies der Gott des emotionalen Augenblicks.

Es ist eine inzwischen quasi pornographische Anbetung des einen, großen und bitte absolut geilen Moments, der ins Bild muss – und heute können wir sagen: koste es, was es wolle, zum Beispiel die Würde einer Frau wie Monica Lierhaus. Es wird wegen der Fixierung der Sender auf diesen Moment kein Mensch mehr sagen können, wer zum Beispiel bei welchem „Bambi“ oder „Fernsehpreis“ mit einer Trophäe nach Hause ging. Es wird sich hingegen jeder an den Auftritt des todkranken Rudi Carrell erinnern, oder daran, wie Marcel Reich-Ranicki plötzlich herumbrüllte, weil ihm das Niveau einer Preisverleihung mit einem Mal zu niedrig vorgekommen war.

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8 Antworten auf „„pornographische Anbetung““

  1. ich finde den vorwurf, dass es dem fernsehen wenig um sprache geht ziemlich daneben. natürlich ist die sprache des fernsehens vor allem das bild. was sonst?
    ich kann die kritik von herrn gorkow am auftritt einer in ihrer gesundheit eingeschränkten frau, sowie der emotionale moment ihres heiratsantrags, den sie selbst frei gewählt hat, nicht teilen. als würdelos würde ich ihn auf keinen fall bezeichnen, denn es würde letzlich heißen, frau lierhaus habe sich selbst durch diesen auftritt ihrer würde beraubt. und das wäre paradox.
    ich betrachte es eher als besonderheit, wenn ein mensch, der vor der kamera nicht mehr perfekt wirkt wie früher, durch einen preis vor der kamera geehrt wird und diesen preis auch annimmt.
    nun, recht hat herr gorkow jedenfalls damit, dass das fernsehen gut mehr niveau vertragen könnte – wer könnte das nicht? – und dass nicht alle aufgezeichneten emotionalen momente auf einen lcd-bildschirm gehören.

  2. Gorkow möchte m.E. sagen, dass Heiratsanträge (zumal nach so einer tragischen Vorgeschichte) nicht in die Öffentlichkeit einer Unterhaltungsshow gehören. Und da gebe ich ihm uneingeschränkt Recht. Die Macher von Bild und ZDF setzen aber bewusst auf genau solche Momente.

    Er sagt nicht, dass Kranke oder Behinderte nicht ins Fernsehen dürfen. Wenn sie aber primär um der kollektiven Rührung willen dort erscheinen, dann bekommt des etwas Unanständiges.

  3. mir scheint der Zeitungsbeitrag sehr daneben zu sein.

    Ich möchte gern an die Samstagsabendshows erinnern. Was mir da manchmal an Religiösität entgegenschwappt macht mich oft sehr betroffen und auch neidisch, ganz besonders die Shows mit Florian Silbereisen.

    Da wird gebetet, geweint, von Gott gesprochen, da treten singende Nonnen wiederholt auf, da wird verstorbenen Künstlern ein Lied nach oben gesungen und das alles vor einem Millionenpublikum das immer wiederkommt.

    Ich frage mich warum kommen die Leute nicht in die Kirche, warum kommen sie immer wieder gern zu diesen Shows die ihren Bedarf an Religion scheinbar abdecken?

    Religion wandelt sich seit Jahrtausenden, in unserem Medienzeitalter noch schneller und manchmal auch nicht so recht durchschaubar. Aber ich denke niemand von uns hat das Recht einer Frau Lierhaus oder einem Herrn Silbereisen oder den Fernsehmachern hinter den Kulissen etwas vorzuwerfen.

    Solang es Menschen gibt die sich per Knopfdruck für solche Sendungen entscheiden, haben diese Sendungen eine Daseinsberechtigung.

  4. der heiratsantrag war doch nicht vom fernsehen initiiert, sonst wäre das ganze tatsächlich eine ganz üble nummer. ich gehe davon aus, dass frau lierhaus den heiratsantrag bewusst und völlig selbstbestimmt so vor der kamera gewählt hat. man kann das daneben finden; das ist nach meiner einschätzung dann aber vor allem eine frage des persönlichen geschmacks.

    herr gorkow stilisiert frau lierhaus zum opfer eines im allgemeinen völlig niveaulosen fernsehens, das sich beschämend an ihrem emotionalen auftritt ergötzt. diese sichtweise teile ich im fall von frau lierhaus nicht, und ich glaube auch nicht, dass sie persönlich damit einverstanden ist.

  5. @Karola: Ich hab das schon verstanden, dass der Antrag freiwillig war. Auch Gorkow bestreitet das ja nicht, er sagt nur, dass das aus Sicht der „Macher“ als großer Erfolg gefeiert und nicht etwa selbstkritisch reflektiert wird. Aber es sticht immer das Private das Öffentliche aus. Lies bei Gelegenheit mal Richard Sennett, „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: Die Tyrannei der Intimität“

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