Paradies und das

Die Landtagswahl ist vorbei und halb Bayern (genauer: 51% der Bayern, 59,9% der Erlanger) wachte heute mit einem schwarzen Kater auf. Für 49% (resp. 40,1% der Erlanger) dagegen ist die Normalität wieder hergestellt, und eben jenes Paradies gerettet, als das der alte und neue Ministerpräsident sein Bundesland so eifrig ausgegeben hat in den letzten Wochen. Zur Abwechslung hat er zwischendurch auch gern mal vom „gelobten Land“ gesprochen.

Beim weiteren Nachdenken über die populäre Paradies-Metapher kamen mir allerdings ein paar Zweifel an der Idylle:

Erstens gibt es im Paradies (nebenbei: wer da regiert, ist ja Gott…) nach landläufiger Anschauung kaum etwas zu verbessern, wohl aber zu beschädigen. Das wissen wir ja schon aus der Bibel. Wer glaubt, dass er das Paradies regiert, wird also tunlichst dafür sorgen, dass alles beim Alten bleibt – ganz besonders natürlich die absolute Mehrheit der Staatspartei.

Zweitens muss man das Paradies ständig gegen Bedrohungen von außen schützen: Die Autobahnen vor den Holländern und ihren Wohnwagen, das stabile Geld vor den undisziplinierten PIGS-Staaten, die Selbstbestimmung Bayerns vor der regelwütigen EU, die klammen Sozialkassen vor jeder Art von Flüchtlingen und Zuwanderern, den ausgeglichenen Haushalt vor den begehrlichen Saarländern, Bremern und Ossis (ok, am meisten hat uns bislang freilich das Desaster der Bayern-LB gekostet, aber daran waren ja die kriminellen Kärntner schuld!).

Im Grunde ist also erst einmal alles verdächtig, was sich unseren Grenzen nähert – es würde den paradiesischen Zuständen des Mia San Mia aller Wahrscheinlichkeit nach bloß schaden. Und wer im Inneren vom Baum der Erkenntnis nascht, könnte auch Schwierigkeiten bekommen.

Es werden also 5 interessante Jahre im „Paradies“.

 

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Parker Palmer, der Papst und die Wahrheit über die Wahrheit

 

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Wenn in unserer pluralistischen Gesellschaft nach der Wahrheit gefragt wird, dann machen nicht alle Christen dabei eine gute Figur. Die einen scheinen sich gar nicht mehr zu trauen, von Wahrheit zu reden, die anderen tun es in einer monopolisierenden Art, die vielen verständlicherweise plump, überheblich oder intolerant erscheint. Aber es gibt zum Glück auch gute Beispiele, und um die geht es mir:

Papst Franziskus hat diese Woche in einem offenen Brief an Nichtglaubende einen interessanten Satz geschrieben, in dem er sich vorsichtig distanziert von einer bestimmten Art und Weise, Wahrheitsansprüche zu stellen, vor allem „absolute“. Dabei war es ja sein unmittelbarer Vorgänger, der jeglichen „Relativismus“ mit großem Eifer bekämpfte. Er schreibt

Sie fragen mich auch, ob es ein Irrtum oder eine Sünde sei zu glauben, dass es keine absolute Wahrheit gebe. Ich würde zunächst auch für einen Glaubenden nicht von ,absoluter‘ Wahrheit sprechen – für den Christen ist die Wahrheit die Liebe Gottes zu uns in Jesus Christus, also eine Beziehung! Und jeder von uns geht von sich selbst aus, wenn er die Wahrheit aufnimmt und ausdrückt: von seiner Geschichte, Kultur, seiner Lage usw. Das heißt nicht, dass Wahrheit subjektiv oder veränderlich wäre, im Gegenteil. Aber sie gibt sich uns immer nur als Weg und als Leben.

Ganz ähnlich äußert sich auch Parker Palmer in To Know as We Are Known: A Spirituality of Education: Education as a Spiritual Journey im Blick auf das moderne Verständnis „objektiver“ Wahrheit – im Grunde sind die Attribute austauschbar, sie stehen für dieselbe Abstraktion: einer „Wahrheit“ im Sinne eines reinen „Sachverhalts“, also unter Absehung von den beteiligten Personen und deren Beziehung zu einander. Palmer beschreibt die Folgen dieses Denkens sehr treffend:

Christen haben zu oft in einer Weise davon geredet „Jesus zu kennen“, die zu einem von zwei Extremen neigt. Entweder „kennt“ der Glaubende Jesus so, dass es ihn der Aufgabe enthebt, noch irgendetwas anderes zu kennen (sei es Physik oder Psychologie oder englische Literatur), oder der Glaubende packt seine „Kenntnis“ von Jesus in eine Schublade, auf der „religiös“ steht, und betreibt andere Formen des Wissens, als bestünde keine Verbindung dazu. Wenn Christen Jesus auf diese Art „kennen“, ist es recht und billig, dass andere ihre „Wahrheit“ zurückweisen, weil sie entweder irrelevant für das übrige Leben ist oder die Art von prinzipieller Ignoranz hervorbringt, die schon so viel Böses verursacht hat.

Über Wahrheit als personale Beziehung, als Weg und als Leben muss man anders reden als über Fakten und Feststellungen, die – einmal korrekt erfasst – keinerlei Interaktion mit ihrem „Gegenstand“ mehr bedarf und den Wissenden nur insofern verändern, dass dieses Wissen ihn überlegen macht. Wer sich auf eine Beziehung zu Christus einlässt, der ist damit zugleich auch in die Gemeinschaft mit allen Menschen und der gesamten Schöpfung gestellt und damit verpflichtet, sich dieser Wahrheit seiner Mitgeschöpfe auch auszusetzen. Die biblische Geschichte ersetzt weder das Studium der Wissenschaft noch das Hören auf die Poesie, sie bereitet uns vielmehr – richtig verstanden – darauf vor, das Gespräch mit beiden in der größtmöglichen Offenheit zu führen und ganz neue Zugänge zu finden.

Ich glaube, der Quäker Parker Palmer und der Katholik Franziskus würden sich prächtig verstehen.

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Goodbye Lenin und die flüssige Moderne

Das Thema „Macht und Ohnmacht“ beschäftigt mich schon seit einem guten Jahr und das Ganze wird irgendwann auch noch in geeigneter Form zu Buche schlagen. Aktuell liegenPlutocrats. The Rise of the New Global Super-Rich and the Fall of Everyone Else von Chrytia Freeland (das ist auch noch ein paar Posts wert…), Autorität von Richard Sennett und Zygmunt Baumans souverän, leidenschaftlich und aufrüttelnd geschriebenes Buch Collateral Damage: Social Inequalities in a Global Age auf meinem Schreibtisch.

Zu letzterem poste ich heute und in den nächsten Tagen ein paar Anmerkungen, weil ich die dort angesprochenen Schieflagen für die entscheidenden und weitgehend ungelösten Aufgaben jenseits aller Tagespolitik halte. Das erste Kapitel habe ich mich neulich schon thematisiert. Im zweiten nimmt Bauman, der Krieg und den Totalitarismus Hitlers und Stalins noch aus eigener Erfahrung kennt, Abschied von der mit einem Requiem auf den Kommunismus. Er ist ist ein Kind der „festen“ Moderne („solid modernity“), eines Projekts, das es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Welt aufzuräumen und Gefahren zu beseitigen, und so die Vergangenheit zu zerstören und die Zukunft zu regeln:

It had been tacitly assumed that contingency and randomness, a profusion of accidents and an overall unpredictability of events, were anomalies; they were either departures from well-established norms, or the effects of the human inability to entrench a ‘normality’ visualized, postulated and designed as a state of equilibrium and regularity. The task was to lift up and put back on the rails a world that had been derailed by an engine fault or driver’s error, or to relay the rails on a tougher and more resistant bed. … The purpose of change was to bring the world to a state in which no more change would be called for: the purpose of movement was to arrive at a steady state. The purpose of effort was the state of rest, the purpose of hard labour was leisure.

Mit dem Kapitalismus lieferte sich der Sozialismus (und später Kommunismus) im Industriezeitalter einen Wettstreit darüber, wie dieses Ziel am schnellsten und einfachsten zu erreichen sei. Im Zuge dieses Wettstreits machte der Staat taktische Zugeständnisse an die Arbeiterschaft. Der Sozialismus drohte zu einer sich selbst widerlegenden Prophezeiung zu werden. Lenins Kommunismus, in dem Berufsrevolutionäre einspringen, wo die Massen versagen, und den Umsturz gewaltsam erzwingen, bezeichnet Bauman als „Abkürzung“ eines stagnierenden historischen Prozesses – in seiner totalitären Praxis war er der Todesstoß für jegliche Art menschlicher Freiheit und zugleich die vielleicht konsequenteste Umsetzung der Ideen fester Moderne:

In a nutshell, communism, Lenin’s version of socialism, was an ideology and practice of shortcuts – whatever the cost. Pushed to an extreme never tried anywhere else, the modern promise of bliss guaranteed by a rationally designed and rationally run, orderly society was revealed to be a death sentence on human freedom.

… To sum up, the communist experiment put to an extreme and perhaps ultimate and conclusive test the viability of the modern ambition of complete control over the fate and living conditions of human beings – as well as revealing the awesomeness of the human cost of acting on that ambition.

Im Übergang von der festen zur flüssigen Moderne gelang es dem Kapitalismus, sich neu zu erfinden, der Kommunismus hingegen (ich bin nicht sicher, wie Bauman China hier einordnen würde, vermutlich aber nicht als kommunistisches Land) ging unter. Im Westen gab man den alten Traum von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit allmählich auf, es blieb nur „Freiheit“ übrig, die man im Sinne von „Deregulierung“ interpretierte: Die Freiheit des Kapitals und der Märkte, während aus Brüderlichkeit der grenzenlose Wettbewerb wurde und Gleichheit in der zunehmend hohlen Prämisse bestand, jeder könne es nach oben schaffen, wenn er nur entschlossen genug daran arbeitet:

… in the liquid stage of modernity capitalism opted out from that competition: its wager was put instead on the potential infinity of human desires, and its efforts have focused since on catering for their infinite growth: on desires desiring more desire, not their satisfaction; on the multiplying instead of the streamlining of opportunities and choices; on letting loose, not ‘structuring’, the play of probabilities.

Bauman trauert dem Kommunismus nicht nach, aber er gibt zu bedenken, dass es ein ausgewachsenes Monster war, das ihn schließlich besiegte, und seither dazu führte, dass ein Prozent der Weltbevölkerung 90% über des Reichtums verfügt und dass Goldman Sachs für seine 161 Aktionäre mehr Gewinn macht, als der Staat Tanzania mit 25 Millionen Bürgern an Einkünften erzielt:

Most of the offputting and revolting, immoral aspects of the human condition that made that programme so attractive in the eyes of millions of denizens of ‘solid modernity’ (such as a blatantly unjust distribution of wealth, widespread poverty, hunger, humiliation and denial of human dignity) are still as much with us, if not even more blatantly, as they were two hundred years ago; if anything, they keep growing in their volume, force, hideousness and loathsomeness.

Die meisten der abstoßenden und widerlichen, unmoralischen Aspekte des Menschseins, die dieses Programm in den Augen so vieler Bürger der „festen Moderne“ so attraktiv gemacht hatten (etwa die krass ungerechte Verteilung von Reichtum, die weit verbreitete Armut, Hunger, Demütigung und die Missachtung der Menschenwürde) sind im Vergleich zu vor zweihundert Jahren immer noch vorhanden, wenn nicht gar verschärft; sie nehmen an Umfang, Einfluss, Bösartigkeit und Widerlichkeit eher noch zu.

In der neuen Situation der flüssigen Moderne sind aber viele staatliche und gesellschaftliche Institutionen überfordert, unter anderem auch die Nationalstaaten. Auch deshalb haben viele Menschen das frustrierende Gefühl, diesen Entwicklungen hilflos ausgeliefert zu sein. Kirchen und Glaubensgemeinschaften (zumal die katholische Kirche als echte globale Größe und unter dem neuen Papst) könnten bei dieser nächsten großen Aufgabe, die uns gestellt ist, eine wichtige Rolle spielen und dazu beitragen, die nötigen universalen Strukturen zu schaffen für die Bändigung des globalen Kapitalismus, umfassende Integration und die Überwindung von Armut und Ungleichheit.

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Angst essen Freiheit auf…

Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, muss sich um die Zukunft der Demokratie ernsthaft Sorgen machen. Spätestens seit ihr das Attribut „marktkonform“ verschrieben wurde, ist unübersehbar, dass sich die Macht vom Volk zu den Märkten verlagert und damit hin zu denjenigen, die sie über Geld und Institutionen beeinflussen können. Zugleich wird das immer ohnmächtige Volk von einer Sicherheitsdebatte in Atem gehalten, die die eigentlichen Ursachen der Angst und Verunsicherung verdunkelt.

Zygmunt Bauman ist sicher einer der renommiertesten Sozialwissenschaftler. In seinem neuen Buch Collateral Damage erinnert er daran, dass die Wiege der Demokratie im antiken Griechenland um die Agora kreiste, auf der Privates und Öffentliches vermittelt wurde. Die Geschichte der Demokratie seither kann man, so Bauman, als den Versuch begreifen, die in größeren Staaten nicht mehr allen physisch zugängliche Agora in neuen Formen wiederzubeleben, um den Bürgern die Partizipation am politischen Prozess zu ermöglichen:

What was essentially expected or hoped to be achieved in the agora was the reforging of private concerns and desires into public issues; and, conversely, the reforging of issues of public concern into individual rights and duties.

Rede- und Meinungsfreiheit werden heute als Gradmesser einer demokratischen Gesellschaft herangezogen. Der Soziologe Albert O. Hirschmann schlug vor, für Bürger und Verbraucher dieselben Kriterien zu verwenden, da er davon ausging, dass ökonomische Freiheit und Demokratie einander fördern und bedingen, eine wirtschaftliche Liberalisierung also über kurz oder lang auch die Freiheitsrechte der Bürger stärkt. Die These darf man heute als widerlegt ansehen, viele Wirtschaftswunder spielen sich in autoritären Staaten ab. Und auch in de demokratischen Gesellschaften tut sich eine Kluft aus zwischen den theoretisch gleichen Rechten der Bürger und deren Fähigkeit, sie tatsächlich wahrzunehmen.

Die Väter das Sozialstaates im 20. Jahrhundert hatten es sich zum Ziel gesetzt, diese Kluft zu überwinden. Sie waren darin keineswegs Sozialisten, sondern echte „Liberale“ im damaligen Sinn, denen es darum ging, möglichst vielen Menschen eine gesunde und gute Lebensperspektive zu ermöglichen, in der das liberale Ideal der Wahlfreiheit nicht nur Theorie bleibt:

Lord Beveridge, to whom we owe the blueprint for the postwar British ‘welfare state’, later to be emulated by quite a few European countries, was a Liberal, not a socialist. He believed that his vision of comprehensive, collectively endorsed insurance for everyone was the inevitable consequence and the indispensable complement of the liberal idea of individual freedom, as well as a necessary condition of liberal democracy.

Die Gemeinschaft muss dem einzelnen eine Grundsicherheit gegen Absturz und Ausschluss bieten, damit eine Bürgergesellschaft überhaupt funktionieren kann. Für Bauman ist der Sozialstaat die moderne Verkörperung der Idee menschlicher Gemeinschaft, in der wirtschaftliche, politische und soziale Rechte im Gleichgewicht sind:

…democratic rights, and the freedoms that accompany such rights, are granted in theory but unattainable in practice, the pain of hopelessness will surely be topped by the humiliation of haplessness; … Without social rights for all, a large and in all probability growing number of people will find their political rights of little use and unworthy of their attention.

T.H. Marshall konnte vor 60 Jahren noch postulieren, es gebe ein allgemeines Gesetz, nach dem sich aus Eigentumsrechten politische Rechte und daraus wiederum soziale Rechte entwickeln. Der Markt stärkt die Agora, und die wird immer inklusiver, bestehende Ungleichheiten werden zunehmend überwunden. Dagegen vertrat John Kenneth Galbraith die These, die zufriedene und gesättigte Mehrheit verliere das Interesse am Wohlfahrtsstaat, der zunehmend als störende Einengung statt als beruhigende Absturzsicherung empfunden werde. Und so kam es dann auch:

The introduction of the social state used indeed to be a matter ‘beyond left and right’; now, however, the turn has come for the limitation and gradual dismembering of welfare state provisions to be made into an issue ‘beyond left and right’.

Die Privatisierung führte zu einem immer stärkeren Abbau des Sozialstaates (Bauman versteht den Begriff nicht so sehr im Sinne einer abstrakten Umverteilung sondern einer gemeinschaftsdienlichen Zuwendung und Fürsorge) und damit zu einer Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts – in bedrohlichem Ausmaß:

‘Privatization’ shifts the daunting task of fighting back against and (hopefully) resolving socially produced problems onto the shoulders of individual men and women, who are in most cases not nearly resourceful enough for the purpose; whereas the ‘social state’ tends to unite its members in an attempt to protect all and any one of them from the ruthless and morally devastating competitive ‘war of all against all’.

Die „Ordnung der Gleichheit“ – und mit ihr das Zutrauen und die Solidarität – nimmt ab, die „Ordnung des Egoismus“ kehrt zurück – und mit ihr das Misstrauen. Der Sozialstaat hatte Menschen vor einem dreifachen Fluch geschützt: dem Verstummen, der Exklusion und der Demütigung.

And it is the same principle that makes the political body democratic: it lifts members of society to the status of citizens, that is, it makes them stakeholders, in addition to being stockholders of the polity; beneficiaries, but also actors responsible for the creation and decent allocation of benefits.

Diese Demontage der Solidarität führt zu einem wachsenden Desinteresse an gesellschaftlichen und politischen Themen. Die Autonomie des einzelnen bedeutet, dass er nun auch Probleme zu lösen hat, die eigentlich den privaten Bereich weit übersteigen. Wahrgenommen wird das als eine verschärfte Konkurrenz der Individuen innerhalb einer Gesellschaft, die zu immer größeren Polarisierungen führt und große existenzielle Unsicherheit verbreitet:

Not much prompts people, therefore, to visit the agora – and even less prods them to engage in its works. Left increasingly to their own resources and acumen, individuals are expected to devise individual solutions to socially generated problems, and to do it individually, using their individual skills and individually possessed assets.

… To a steadily growing extent, the task of gaining existential security – obtaining and retaining a legitimate and dignified place in human society and avoiding the menace of exclusion – is now left to the skills and resources of each individual on his or her own;

Die Stars und Superreichen spielen dabei eine groteske Rolle: Sie werden zu Idolen, deren unerreichbaren Lebensstil man nachzuahmen versucht in der absurden und illusorischen Annahme, im Grunde könne es doch jedem gelingen, reich und berühmt zu werden. Die Illustrierten und Promi-Magazine sind das neue Opium des Volkes.

Die allgegenwärtige, nebulöse und unterschwellige Angst vor dem Scheitern und den Risiken des Lebens in dieser Gesellschaft spielt dabei den Politikern wie den Konzernen in die Hände. Produkte werden als identitätsstiftende Symbole vermarktet, die der Vergewisserung von Identität und Teilhabe dienen. Und die Regierenden führen öffentlichkeitswirksame Schaukämpfe an allen möglichen Fronten, um sich dem verunsicherten Wahlvolk als Retter anzubieten, wie Bauman scharfsichtig anmerkt:

… they are interested in expanding not reducing the volume of fears; and particularly in expanding fears of the kinds of dangers which TV can show them to be gallantly resisting, fighting back against and protecting the nation from. … However successful the state might be in resisting the advertised threats, the genuine sources of anxiety, of that ambient and haunting uncertainty and social insecurity, those prime causes of fear endemic to the modern capitalist way of life, will remain intact.

Ob Einwanderer oder Terroristen, Sozialschmarotzer oder Schuldenländer, die allzu gern beschworenen Risiken unterscheiden sich nur recht bedingt, während die wahren Ursachen der Verunsicherung weitgehend ungenannt und praktisch völlig unangetastet bleiben. Verletzungen und Bürger- und Menschenrechten werden dabei klaglos hingenommen, in der ebenso illusorischen Annahme, es treffe nur „die anderen“.

We, the ‘democratic majority’, console ourselves that all those violations of human rights are aimed at ‘them’, not ‘us’ – at different kinds of humans (‘between you and me, are they indeed human?!’) and that those outrages will not affect us, the decent people.

Das ganze liest sich wie ein prophetischer Kommentar zu den Ereignissen der letzten Monate – „Supergrundrechte“ etwa. Baumans Fazit zu den Mechanismen gegenwärtiger Politik fällt entsprechend düster aus (und diesmal hänge ich die Übersetzung an):

In an insecure world, security is the name of the game. Security is the main purpose of the game and its paramount stake. It is a value that in practice, if not in theory, dwarfs and elbows out of view and attention all other values – including the values dear to ‘us’ while suspected to be hated by ‘them’, and for that reason declared the prime cause of their wish to harm us as well as of our duty to defeat and punish them. In a world as insecure as ours, personal freedom of word and action, the right to privacy, access to the truth – all those things we used to associate with democracy and in whose name we still go to war – need to be trimmed or suspended.

In einer unsicheren Welt heißt das Spiel: Sicherheit. Sicherheit ist der Hauptzweck des Spiels und der vorrangige Einsatz. Ein Wert, der in der Praxis, wenn nicht auch in der Theorie, alle anderen Werte in den Schatten stellt und verdrängt – einschließlich derer, die ‚uns‘ teuer sind und von denen wir glauben, sie seien ‚ihnen‘ verhasst. und aus diesem Grund wurden sie zum Hauptgrund erhoben, warum sie uns schaden wollen und warum es unsere Pflicht ist, die zu besiegen und zu bestrafen. In einer Welt, die so unsicher ist wie unsere, müssen persönliche Freiheit in Wort und Tat, Zugang zur Wahrheit – all die Dinge, die wir immer mit Demokratie verbunden haben und in deren Namen wir immer noch in den Krieg ziehen – beschnitten oder außer Kraft gesetzt werden.

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Liebe Deutschlehrer

der von euch, an den dieser Text sich richten sollte, ist leider nicht mehr unter uns. Aber vielleicht ist es ohnehin wichtiger, dass die Aktiven es lesen: Ihr habt eine wichtige Aufgabe in dieser Gesellschaft.

Erst heute wurde ich wieder daran erinnert, sechste Klasse, Textgattung „Bericht“ glaube ich. Das Thema lautete „Fahrrad flicken“. Also musste ich mich informieren und die ganze Sache einmal ausprobieren (irgendein Rad ist in größeren Haushalten immer platt…). Rad ausbauen, Mantel runter, Schlauch raus, Loch finden, aufrauen, saubermachen, Flicken anzeichnen, Gummilösung, Flicken drauf, Folie ab, Schlauch rein, Mantel drauf, Rad einbauen (dabei auf die Felgenbremse achten), aufpumpen – losfahren. Eine echte Lektion fürs Leben, und weil ich es aufschreiben musste, habe ich es auch nie mehr vergessen.

Heute ist das leichter: Schnellspanner statt 15er-Schlüssel, Kleben statt Vulkanisieren, Kevlarstreifen zur Pannenverhütung im Mantel. Und trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass diese immens lebensertüchtigende Aufgabe immer noch Standard im gymnasialen Lehrplan wäre. Denn wenn heute in unserem (immer noch großen) Haushalt eines der vielen Räder platt ist (und eines ist immer platt), dann bin ich die erste Anlaufstation. Und ich kann nicht auf Unwissenheit plädieren…

Alles nur wegen dieses Aufsatzes in der sechsten Klasse. Was wären wir ohne Euch alle!

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Nicht verkriechen

Letzte Woche habe ich im Morgengebet der Iona Community dieses Lied mitgesungen, das schön widerspiegelt, wie man dort Spiritualität und Engagement als Einheit versteht. DIe Autorin, Kathy Galloway, war einige Jahre die Leiterin der Kommunität. Lieder aus Iona sind in diesem Buch erschienen.

Sich um richtige und wichtige Dinge wie den Garten zu kümmern, die eigene Seele und die Familie, darf nicht dazu führen, dass wir im Privaten steckenbleiben, so beschreibt es dieses Lied:

Do not retreat into your private world,

That place of safety, sheltered from the storm,

Where you may tend your garden, seek your soul

And rest with loved ones where the fire burns warm.

 

To tend a garden is a precious thing,

But dearer still the one where all may roam,

The weeds of poison, poverty and war,

Demand your care, who call the earth your home.

 

To seek your soul it is a precious thing,

But you will never find it on your own,

Only among the clamor, threat and pain,

Of other people’s need will love be known.

 

To rest with loved ones is a precious thing,

But peace of mind exacts a higher cost,

Your children will not rest and play in quiet,

While they hear the crying of the lost.

 

Do not retreat into your private world,

There are more ways than firesides to keep warm;

There is no shelter from the rage of life,

So meet its eye, and dance within the storm.

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„Es wird regiert“

Dieser Satz ist ein berühmtes Zitat des großen Karl Barth aus der Zeit des kalten Krieges und eigentlich ein Ausdruck christlicher Hoffnung. Ich habe mich in einem ganz anderen Zusammenhang wieder daran erinnert, als ich nämlich letzte Woche durch einen Tipp vom Simon de Vries diese Analyse von Carolin Emcke fand, in der die Sprache von Angela Merkel scharfsinnig beleuchtet wird. Viele Beobachtungen, die ich bei Merkels Rede neulich hier in Erlangen machte, habe ich dort wiederentdeckt, nun aber an einer repräsentativen Auswahl von Merkeltexten verifiziert.

Ein Punkt, vielleicht der Wesentlichste, ist dabei das Verschwinden von Subjekt und Verantwortung, beziehungsweise dessen sprachliche Verschleierung. Emcke schreibt:

Nicht sie, die Bundeskanzlerin, ist es, die im Verbund mit Troika und den europäischen Regierungschefs Griechenland bestimmte fiskalische Vorgaben diktiert, sondern es ist der „Prozess aufeinanderfolgender Maßnahmen“. Diese gleichsam aus dem Nichts entstandenen Maßnahmen sind subjektlos und „alternativlos“. Politik ist in dieser Logik nur Exekution von Notwendigkeiten. Es ist bemerkenswert, wie oft eine Kanzlerin, die regelmäßig an „Freiheit in Verantwortung“ appelliert, Entscheidungen beschreibt, als ob sie weder Freiheit noch Verantwortung implizierten.

Es wird also regiert in Deutschland, und diesmal ist es kein Grund, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken, denn gerade das, was Barth meinte, als er diesen Satz prägte, dass die Zukunft offen ist, weil Gott sie offen hält, und dass man sich aus den Denk- und Sachzwängen lösen kann, genau das verschwindet hier aus dem Blickfeld. Während sich also bei Barth das „es“ auf Gott und seine Möglichkeiten bezeigt, steht das „es“ bei Merkel für die unpersönlichen Notwendigkeiten ihres Pragmatismus.

Zygmunt Bauman merkt in seinem neuen Buch Collateral Damage: Social Inequalities in a Global Age kritisch an, dass viele Mächtige die negativen Folgen ihrer Entscheidungen für andere, vor allem Arme, damit herunterspielen, dass beim Hobeln eben Späne fallen – und dabei verschweigen, dass sie und niemand anders darüber entscheiden, zu wessen Lasten die vermeintlich not-wendigen „Maßnahmen“ konkret gehen.

Ebenso brisant, und kürzlich ebenfalls in Erlangen zu hören, ist das Merkel’sche Narrativ des 21. Jahrhunderts. Emcke fasst treffend zusammen, mit welchen dunklen Folien hier gearbeitet wird. Milliarden von Indern und Chinesen etwa wollen dem kleinen Deutschland seinen hart erarbeiteten Wohlstand streitig machen:

Die Schrecken der Globalisierung erzeugen das apokalyptische Narrativ, mit dem Angela Merkel erst Angst schürt, um sich sogleich als nüchterne, notwendige Rettung anzubieten. Der rhetorische Gestus der Kanzlerin, dieses Undramatische, kommt erst dann zur Geltung, wenn die historische Entwicklung besonders dramatisch gerät. Je uferloser und unkontrollierter die Kräfte der Globalisierung walten, je dynamischer und jünger Chinesen und Inder sind, je zügelloser die „Südeuropäer“ Regeln missachten, so die Logik des düsteren Narrativs, umso beruhigender, umso vertrauenserweckender die deeskalierende Erzählung der Kanzlerin.

Wenn wir also derart gehetzt werden, dann ist ja auch keine Zeit mehr für ausführliche Diskussionen (die heißen dann gern „akademisch“ oder „philosophisch“) über gerechte Teilhabe im Innern, über Bürgerrechte, Macht und Verantwortung, denn es müssen sich alle reinhängen und die Galeere aus der Sturmzone rudern. Und was könnte in einem solchen Inferno für unsere geplagten Gemüter tröstlicher sein als die Gewissheit, dass regiert wird…?

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Klöster am Rande der Welt (5): Applecross

Ein gutes Jahrhundert nachdem Columba (oder auch Colum Cille) das Kloster auf Iona gründete, ließ sich Máelrubai auf der Halbinsel mit dem heutigen Namen Applecross nieder, die daraufhin im Gälischen A‘ Chomraich (das Heiligtum) genannt wurde. Er lebte dort 59 Jahre und sein Kloster gedieh über die nächsten 120 Jahre bis zum Einfall der Wikinger als ein Zentrum der Mission unter den Pikten auf Skye und in Wester Ross. So ähnlich wir auf dem Bild unten dürften die „Coracles“ ausgesehen haben, mit denen die Mönche über die irische See und entlang der Küsten Schottlands unterwegs waren.

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Máelrubai stammte väterlicherseits von dem irischen König Niall ab, seine Mutter war eine Nichte von St. Comgall, der ein Schüler des großen Ciaran von Clonmacnoise war, eine enge Beziehung zu Colum Cille pflegte und in der Nähe des heutigen Belfast 552 das Kloster Bangor gründete, aus dem nicht nur Máelrubai, sondern auch Columbanus stammte. Einer späterer Abt von Applecross, Ruaraidh Mor MacAogan, soll 801 als Abt von Bangor gestorben sein.

Es ist kaum etwas übrig geblieben aus dieser Zeit. Im Heritage Centre von Clachan wird ein Modell gezeigt, wie das damalige Kloster angelegt war: Strohgedeckte Holzhütten, eine kleine Kirche und eine Ringmauer. Nach Columba war Máelrubai der vielleicht populärste lokale Heilige in Schottland. Über 20 Kirchen sind ihm gewidmet. Letzte Woche, am 25. August, war sein Gedenktag.

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Priester oder Propheten?

Der klassisch griechischen Anschauung zufolge ist die Welt im Wesentlichen unveränderlich. Die Geschichte ist eine Abfolge von Zyklen, die sich endlos wiederholen. Man kann nichts Neues erwarten. Die Zeit ist unfruchtbar, ihr Vergehen ohne Bedeutung. Nur der Raum hat Bedeutung: Territorium, Boden, Blut, Rasse. Eine gewisse Art von Religion – normalerweise als „priesterliche Religion“ bezeichnet – feiert und stärkt diese Sicht der Welt. Priesterliche Religion ist die Religion von Menschen, die an das geheiligte Land gebunden sind, eine Religion, die die Grenzen sanktioniert. Ein Volk vertraut seinem Gott, dass er sein Gebiet beschützt.

Im Gegensatz dazu war die jüdische Weltsicht dynamisch, man verstand die Geschichte als kontinuierlichen Entfaltungsprozess, in den Gott mit „mächtigen Taten“ eingreift, und die Zeit ist möglichkeitsschwanger. Wichtiger noch als Blutsbande war der geschichtliche Bund mit Gott. Diese Weltsicht feiert man in einer anderen Art von Religion, die man normalerweise „prophetisch“ nennt. Prophetische Religion ist die eines Volkes, das nicht an Grund und Boden gebunden ist, ein Volk im Aufbruch, ein Volk, das eine historische Aufgabe vor sich hat – die Aufgabe, Grenzen zu überwinden.

gefunden in: Ronald Marstin, Beyond Our Tribal Gods. The Maturing of Faith (1979)

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Spruch des Tages (27)

I never meant to say that the Conservatives are generally stupid. I meant to say that stupid people are generally Conservative. I believe that is so obviously and universally admitted a principle that I hardly think any gentleman will deny it.

― John Stuart Mill (1806-1873)

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Beten: ungekünstelt kunstvoll

Walter Brueggemann ist nicht nur jemand, der die poetischen Texte der Propheten und Psalmisten wunderbar erklären kann, es gelingt ihm auch, dieses sprachliche und gedankliche Niveau in seinen eigenen Gebeten zu halten. Im Vorwort zu einem Sammelband schreibt er, warum ihm das wichtig ist, und bringt das, wie so oft, schön auf den Punkt:

… ich bin zu der Ansicht gelangt, dass vieles öffentliche Beten in der Kirche achtlos und schlampig ist, und dass vieles als Spontaneität durchgeht, was in Wirklichkeit nur der Verzicht auf Vorbereitung ist. Ich glaube daher, dass öffentliche Gebete „gut gesprochen“ werden wollen, auf eine kunstvolle Art; nicht um auf die Kunstfertigkeit selbst aufmerksam zu machen, sondern um die Aufmerksamkeit der betenden Gemeinschaft zu mobilisieren und zu erhalten. Solch ein Gebet muss kunstvoll genug sein, um durchlässig zu werden, so dass die ausgesprochenen Worte Zugänge schaffen für die anderen Mitglieder der betenden Versammlung, diese Äußerungen zu ihren eigenen machen.

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Widersprüchliche Jesusbilder

Der Religionswissenschaftler Reza Aslan ist vor einiger Zeit durch ein Fernsehinterview, das auf Youtube die Runde machte, groß herausgekommen – was allerdings nicht an ihm, sondern an der selten dämlichen Journalistin von – wie könnte es anders sein? – Fox News lag.

Nun hat Zeit Online es besser gemacht. Spannender als den Inhalt seines Jesus-Buchs „Zealot“ (seinen Kurzfassungen konnte ich noch nichts bahnbrechend neues entnehmen) fand ich beim Lesen seine Biographie: Aslan hat eine Jesuitenschule besucht, wurde als Jugendlicher begeisterter Christ, und es war ausgerechnet das Bibelstudium, das ihn ins Zweifeln brachte:

Ich bin aus der Kirche ausgetreten, nachdem ich begann, die Bibel zu studieren. Plötzlich wurde mir klar, dass Jesus sich selber nie als Gott sah. Wenn er sagt: „Ich bin der Messias!“, dann heißt das: Ich bin ein Nachkomme König Davids! Kein Jude würde das übersetzen mit: Ich bin Gott! Das ist eine rein christliche Interpretation.

Mit diesem Satz hat er natürlich recht. Anscheinend hatte er mit einem Frömmigkeitstyp und in einem Milieu zum Glauben gefunden, wo ein unkritisches, dogmatisches Jesusbild so dominierte, dass der Zweifel daran auch zum Bruch mit dem christlichen Glauben führen musste. Als ihm dann im Studium auffiel, dass der Jesus des Evangelien sich zwar in der Rolle des Messias sieht, aber (wenn man die Texte aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang heraus versteht) nicht den Anspruch erhebt „Gott zu sein“, wandte der gebürtige Iraner sich wieder dem Islam zu.

Die evangelische Theologie hat die Frage seit dem Fragmentenstreit intensiv beackert, wie sich die altkirchlichen Bekenntnisse (das trinitarische Dogma und die „Zweinaturenlehre) und die historische Jesusüberlieferung zu einander verhalten. Dass man sie nicht, wie bis zur Aufklärung geschehen, naiv miteinander identifizieren kann, ist den meisten klar. Die Folgerung, dass sich das christliche Bekenntnis zu Jesus als dem menschgewordenen Gott – von Paulus über Johannes und weiter bei den Kirchenvätern – und die Selbstaussagen Jesu in den synoptischen Evangelien gegenseitig ausschließen, ist andererseits aber auch keineswegs zwingend.

Freilich muss man sich die Zeit nehmen und die Mühe machen, beides sauber und ohne historische oder dogmatische Kurzschlüsse zusammenzudenken. Ein guter Ansatzpunkt dafür ist von der neutestamentlichen Seite her N.T. Wrights gründliche und umfangreiche, aber durchaus auch für Nichttheologen lesbare Untersuchung Jesus und der Sieg Gottes. Wenn einiges davon sich unter frommen Verkündigern herumspräche, wären solche Konflikte, wie Aslan sie erlebte, vielleicht seltener.

Gern werden solche Episoden als Beleg dafür herangezogen, vor dem Theologiestudium zu warnen, weil man da angeblich seinen Glauben verliert. Ich denke, es wird allerdings auch andersherum ein Schuh draus, dass nämlich in vielen Gemeinden so selten, so denkfaul und so angepasst über theologische Schlüsselthemen diskutiert wird, dass sich manch einer regelrecht betrogen vorkommt, wenn er entdeckt, was ihm dort alles verschwiegen wurde. Dass dann mit den allzu simplen und naiven Theologumena auch noch die Kirchenzugehörigkeit über Bord geht, ist kein großes Wunder.

Reza Aslan bezeichnet sich übrigens immer noch als Jesusnachfolger:

But I am a follower of Jesus, and I think that sometimes, unfortunately — I think even Christians would recognize this and admit it — those two things aren’t always the same, being a Christian and being a follower of Jesus.

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Warum Sterngucker im Vorteil sind

Sternschnuppen am Himmel sind für viele ein bewegendes Schauspiel, auch wenn wir das nur noch ein kleines bisschen „magisch“ finden. Im Augenblick stehen die Chancen ja wieder bestens, und so war ich am Sonntag Abend noch mal draußen, um den Nachthimmel rund um den Perseus zu betrachten – gar nicht so leicht, bei der Häufigkeit genug Wünsche parat zu haben. Irgendwie fühlt es sich schon so an, als würde Gott uns zuzwinkern.

Comet ISON Source: Hubblesite.org

Man kann an diesem Beispiel aber auch schön sehen, wie die Kunst der Aufmerksamkeit funktioniert. Fotografen zum Beispiel empfahl die Wissenschaftsredaktion des BR, einen Weitwinkel und Langzeitbelichtungen zu nutzen, um Sternschnuppen aufs Bild zu bekommen. Ein Teleobjektiv dagegen hätte wenig Sinn, höchstwahrscheinlich würde ich damit immer gerade auf die falsche Stelle zielen.

Aufmerksamkeit bedeutet, das Gesichtsfeld möglichst weit und offen zu halten. Sie ist etwas anderes als die Konzentration auf einen einzelnen Punkt. Weil sie sich ganz wach auf Sinne und Empfindungen richtet, bedeutet Aufmerksamkeit auch, möglichst nicht in Gedanken abzuschweifen in Zukunft (ob meine Fotos gelingen und was ich damit mache), Vergangenheit (warum es beim letzten Mal nicht geklappt hat und was wohl der Grund gewesen sein könnte) oder an einen anderen Ort (wo ich vielleicht eine viel bessere Sicht hätte), sondern in der Gegenwart zu bleiben.

Gerade der weite Horizont der Aufmerksamkeit hat einen befreienden Aspekt. Am Himmel des Augenblicks entdecke ich viele kleine und große Dinge, und plötzlich ist die störende Wolke, über die ich mich geärgert hatte, oder der dunkle Fleck, der mir Kummer oder Angst macht, nur noch eine Sache unter anderen. Immer noch präsent, aber nicht mehr so erdrückend. Immer noch ein reales Gefühl, aber nicht mehr eines, das mich völlig besetzt. „Ich“ bin mehr als diese eine Empfindung, dieser eine Gedanke, ich kann meine Aufmerksamkeit wandern lassen und wieder zurückkehren – in aller Freiheit.

In Jesaja 40 hat das schwer gebeutelte Israel den Eindruck, Gott habe es vergessen. Der Prophet benutzt die Sterne als ein Beispiel für Gottes liebevolle Aufmerksamkeit: So unwandelbar wie der Fixsternhimmel ist auch Gottes Zuwendung. Sein unermüdliches Interesse ist es, das die Sterne jede Nacht wieder pünktlich ihren Platz einnehmen lässt. Und mit derselben aufmerksamen Verlässlichkeit begleitet und lenkt er den Weg seines Volkes durch unergründliche Tiefen und Finsternis auf ein gutes Ende hin – es lohnt sich also, ihm zu vertrauen und aufmerksam abzuwarten, was gerade Unerwartetes geschieht. Der Blick nach oben bereitet uns darauf vor, auch die Dinge vor unserer Nase neu und anders zu sehen:

Hebt eure Augen in die Höhe und seht: Wer hat die (Sterne) dort oben erschaffen? Er ist es, der ihr Heer täglich zählt und heraufführt, der sie alle beim Namen ruft. Vor dem Allgewaltigen und Mächtigen wagt keiner zu fehlen. Jakob, warum sagst du, Israel, warum sprichst du: Mein Weg ist dem Herrn verborgen, meinem Gott entgeht mein Recht? Weißt du es nicht, hörst du es nicht? Der Herr ist ein ewiger Gott, der die weite Erde erschuf. Er wird nicht müde und matt, unergründlich ist seine Einsicht.

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Warum wir am 3. Oktober Grund zur Trauer haben

Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus verschwanden nicht nur eine Reihe diktatorischer Systeme von der Weltkarte, sondern nach und nach auch die soziale Marktwirtschaft mit ihrer breiten Mittelschicht, deren Wohlstand seit dem Zweiten Weltkrieg auch dadurch gewachsen war, dass der Staat Spitzenverdiener stark besteuerte. Margaret Thatcher und Ronald Reagan hatten schon eine Weile an der Aushöhlung dieses Systems gearbeitet, aber mit dem endgültigen Ende der Bedrohung durch eine sozialistische Revolution fiel auch der letzte Grund für die Plutokraten weg, an diesem gesellschaftlichen Kompromiss festzuhalten.

Wer also das Jahr 1989 als das Jahr der Befreiung feiert, sollte immer auch daran denken, dass dies zugleich die Geburtsstunde der wachsenden Kluft zwischen den Superreichen und dem Rest der Gesellschaft war, die dem globalen Club der Milliardäre massiven Auftrieb bescherte, und zwar nicht nur durch die russischen Oligarchen, sondern auch die kaum noch ernsthaft besteuerten Topverdiener im Westen.

Chrystia Freeland zeigt in Plutocrats. The Rise of the New Global Super-Rich and the Fall of Everyone Else, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland, Schweden oder Neuseeland in den letzten beiden Jahrzehnten schneller wuchs als in den USA. Dort wanderten drei Viertel des Ertrags vom Wirtschaftswachstum der Jahre 2002 bis 2006 in die Taschen des einen Prozents der Spitzenverdiener. Noch schärfer fiel der Kontrast nach der letzten Finanzkrise aus: Die wirtschaftliche Erholung der Jahre 2009 und 2010 kam zu 93% dem einen Prozent der Reichsten zu Gute, erschütternde 37% entfielen auf die 0,1% der Superreichen. Freeland spricht von der „neuen virtuellen Nation des Mammon“, die schwarz-gelbe Regierungskoalition bevorzugt in der Regel den Terminus „Leistungsträger“, bezeichnenderweise wird die CDU auch von Großspendern bevorzugt.

Der prominente Historiker Hans-Ulrich Wehler nennt derweil auf SPON folgende Zahlen:

Bis etwa 1989 zahlten die 30 Dax-Unternehmen den Vorständen 500.000 D-Mark Jahresgehalt. Im Vergleich zum Einkommen ihrer Arbeitnehmer war das ein Verhältnis von 20 zu 1. 2010 beträgt dieses Einkommen sechs Millionen Euro. Und das Verhältnis zum Einkommen der Arbeitnehmer beträgt, man mag es kaum glauben, 200 zu 1.

Wäre es nicht viel ehrlicher, wenn wir am 3. Oktober nicht nur den Sieg der Demokratie feierten, sondern auch deren Bedrohung durch die Plutokratie betrauerten und ernsthaft über Wege zu einer gerechteren Welt diskutierten? Die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in Ost und West sind ja doch vergleichsweise gering im Vergleich zu der gigantischen Kluft, die sich hier auftut. So lange die erwirtschafteten Zuwächse überwiegend an der Spitze der Einkommenspyramide verteilt werden, fehlen dem Staat ja auch die Spielräume, um andere Lücken zu schließen.

Freeland zitiert aus einem Roman von Scott Turow: „Jeder, der noch dabei war, sich dafür auf die Schulter zu klopfen, dass die Roten in die Tonne gewandert sind, wird sich fragen, wer da eigentlich gewonnen hat, wenn Coca-Cola sich um einen Sitz bei den Vereinten Nationen bewirbt.“

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Pausenbild (2)

Knapp drei Wochen Urlaub liegen vor mir – Zeit, einen Gang herunterzuschalten, ein paar schöne Ecken aufzusuchen, ein gutes Buch (oder zwei, oder drei…) aufzuschlagen und die Nase in den sommerlichen Wind zu hängen!

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