Heute hat ELIA 30. Geburtstag gefeiert. 25 Jahre davon habe ich miterlebt und mitgewirkt. Vor 30 Jahren hat diese Gründung ordentlich Staub aufgewirbelt und es ist wohltuend zu sehen, wie viele Hoffnungen sich erfüllt haben und wie viele Befürchtungen nicht. Wir haben heute einen fröhlichen Gottesdienst mit vielen wunderbaren Menschen genossen. Ich habe einen kurzen Beitrag dazu verfasst. Ein Brief an ELIA, inspiriert von Bruno Latours Brief an sein jüngstes Enkelkind. Vielleicht interessiert er auch ein paar, die nicht dabei waren:
Liebe ELIA,
als Du auf die Welt kamst, war ich fast so alt, wie Du jetzt bist, und gerade junger Vater. Seit ein paar Wochen bin ich nun Vater eines jungen Vaters. Eine ganze Generation liegt zwischen damals und heute.
Über Generationen wird gerade fast schon inflationär geschrieben. Alle paar Jahre (nicht etwa Jahrzehnte…) erfinden Medienschaffende und Marketingabteilungen wieder eine neue. Lassen wir das also beiseite.
Ich erspare dir auch nostalgisch-rührselige Geschichten darüber, wie süß Du warst, als Du noch klein warst. Davon kriegen meine Kinder schon genug ab.
Aber vielleicht können wir ein bisschen drüber reden, was nach dem 30. auf dich zukommt. Davon habe ich inzwischen ein bisschen Ahnung.
Reden wir also übers Älterwerden. Am Montag war ich im Seniorenheim. Auf einer Bank saßen ein paar Bewohnerinnen, und als ich vorbeiging, fragte eine die anderen halblaut, wer „der junge Mann“ denn sei. Alter ist relativ. In den nächsten Jahren wirst Du merken, dass das mit der Selbstbeschreibung „jung“ nicht mehr so einfach ist. Ich wünsche Dir, dass es dir gelingt, nicht jugendlicher sein zu wollen, als du bist. Dann wird es auch leichter auszuhalten sein, dass andere frischer, hipper und cooler sind als du selbst. Und wenn Du Dich zwischendurch trotzdem mal richtig jung fühlen willst, mach’ einfach mal einen Besuch im Altersheim.
Die gute Nachricht lautet: Künftig rückt sowas wie „Weisheit“ in greifbare Nähe. Die Schwaben sagen ja: „Mit 40 wird man gescheit“. Ungeduld und Übermut lassen sich besser zügeln, und Illusionen sind zwar noch möglich, aber es wird immer anstrengender, sie aufrechtzuerhalten.
Vor ein paar Tagen habe ich einen Brief des Philosophen Bruno Latour an seinen jüngsten Enkel Lilo gehört. Er sagt, die nächsten 20 Jahre werden höchstwahrscheinlich sehr schwer. Die Krisen werden sich verschärfen und die Versäumnisse früherer Generationen (vor allem beim Klimaschutz) werden sich bitter rächen. Aber dann, in 20 Jahren, könnte sich die Zivilisationskrise vielleicht doch lösen lassen. In der Zwischenzeit ist es ganz wichtig, dass sie Mittel und Wege kennt, sich selbst und andere zu heilen.
Mich hat das ins Nachdenken gebracht: Früher, als viele von uns noch dachten, die Welt wird quasi automatisch immer besser, ging es mal darum, progressiv zu sein. Setz dich an die Spitze der Bewegung, sei Schrittmacher und Motor. Wo es hingeht, war klar: Fortschritt wird von Forschung und Technik angetrieben, Wissen und Innovation nehmen stetig weiter zu, das Leben wird besser und die Menschen glücklicher. Das glauben heute nur noch die paar Prozent im Lande, die FDP wählen.
Seit ein paar Jahren bröckelt dieses Bild. Technischer Fortschritt findet immer noch statt, aber plötzlich sind es Viren und Waldbrände, Fluten und Hitzewellen, die uns in Atem halten (oder ihn uns nehmen). Plötzlich nehmen sich die Autokraten der Welt wieder ein Vorbild an Stalin, Hitler, Mussolini und Mao. Die Geister einer längst überwunden geglaubten Vergangenheit sind zurück. Und wir sind unvorbereitet, die Regierung arbeitet vielfach im Panikmodus – und die Opposition erst recht.
Was gestern noch „progressiv“ war, ist morgen schon obsolet. Es gibt keine klare Richtung mehr, kein Vorne und Hinten, die Schläge treffen uns aus dem toten Winkel, von rechts und links, oben und unten.
Ich glaube, Jesus war nicht progressiv, sondern prophetisch. Wie die großen Propheten vor ihm sieht er die Welt in einem Zustand der Disruption, der Erschütterung, voller Brüche und Risse. Und wie sie stellt er sich auf die Seite derer, die bereits unter diesen Erschütterungen leiden. Denen gehört das Reich Gottes.
Er warnt die Sorglosen und Selbstzufriedenen, dass es auch sie treffen wird. Er unterbricht die Gleichgültigkeit der Mehrheit mit seiner Forderung nach einer besseren Gerechtigkeit und konfrontiert sie mit den Folgen ihrer destruktiven Lebensweise. Er klagt, er weint, er droht, er rüttelt auf. Und ja, manchmal heilt und tröstet er dann auch.
Wenn ich Gott also irgendwo „vorne“ und auf kontinuierlichen Linien suche, könnte das künftig schwer werden. Die gute Nachricht ist: In den Brüchen und bei denen, die nicht mehr sagen können, was morgen kommt und wo vorne und hinten ist, wird es reichlich Gelegenheit geben, ihm zu begegnen.
Und wenn wir uns dann in 30 Jahren wiedersehen (und ich dann noch da bin), können wir einander davon erzählen.
Das Evangelium für den Trinitatissonntag morgen ist das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus in Johannes 3, in dem Jesus von der (für sein Gegenüber befremdlichen) Notwendigkeit spricht, von neuem (genauer: „von oben“) geboren zu werden. Und dann noch den kryptischen Satz über den Geist/Wind anhängt, der Menschen treibt.
Nikodemus (…) suchte Jesus bei Nacht auf und sagte zu ihm: Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, der von Gott gekommen ist; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist. Jesus antwortete ihm: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus entgegnete ihm: Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und ein zweites Mal geboren werden. Jesus antwortete: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von neuem geboren werden. Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.
Joh 3,1-8
Aus den vielen Dingen, die es dazu zu sagen gibt, greife ich hier nur ein paar Punkte heraus. Ich fange mal mit dem Begriff „Wiedergeburt“ an. Wenn zur „natürlichen“ Geburt da in irgendeiner Form eine Analogie besteht, dann am ehesten darin, dass Geburt für die, die geboren werden, weder eine Errungenschaft noch eine Erfahrung ist. Sondern ein Widerfahrnis, aufgrund dessen ich mich in einem Geflecht von Beziehungen wiederfinde. Und deren werde ich mir zunehmend bewusst.
So wie ein Neugeborenes in eine Familie – klein, groß, eher heil oder eher traumatisiert, reich oder arm – hineingeboren wird, so finden sich Menschen auch in einer Beziehung zu Gott wieder. Noch genauer (wir feiern ja die Dreieinigkeit): Sie nehmen, ohne es darauf angelegt zu haben, teil an der Beziehung, die Gott in sich schon ist. Und dem Beziehungsgeflecht, das um ihn herum entsteht (dem „Reich Gottes“). Diese Verbindung mit Gott wird für sie zur prägenden, identitätsstiftenden Beziehung.
Ich bin also nicht mehr durch meine soziale und biologische Herkunft definiert und festgelegt, sondern dieses neue Verhältnis bestimmt, wer und wie ich bin und wohin mein Weg führt. Nicht die Vergangenheit mit ihren Altlasten und Erfolgen legt meine Zukunft fest, sondern Gottes fürsorgliche Gegenwart in meinem Leben. Nicht das „Fleisch“ in seiner Vergänglichkeit, Anfälligkeit und den nachlassenden Kräften (und der Verzweiflung, Aggression und Niedergeschlagenheit über diesen Verfall in der Welt, bei mir selbst und anderen) macht mich aus. Nicht die guten oder schlechten Gene, die meine Eltern mir mitgegeben haben. Sondern ein geheimnisvoller Antrieb, der immer wieder ganz unvermittelt gute Dinge geschehen lässt.
Diese Kraft kann ich ebensowenig dingfest machen wie den Wind oder die Wolken am Himmel. Aber wenn ich lerne, mich auf sie einzustellen, dann wird (wie beim Wind) einiges leichter.
So weit, so bekannt für viele. Aber hier kommt der neue Gedanke: Wenn Gott mich aus einer Lebensweise befreit, die von der Vergangenheit gespeist wird und in der sich die Vergangenheit reproduziert (History will teach us nothing, lautet ein Songtitel von Sting), und mir ein Leben in und aus seiner Gegenwart ermöglicht, dann hat diese Transformation eine ganz aktuelle Parallele: Die hart umkämpfte Klima- und Energiewende.
Denn auch da geht es darum sich von einer Lebensweise zu verabschieden, die Ablagerungen der Vergangenheit (fossile Brennstoffe, die in vielen Millionen Jahren entstanden, noch älteres und länger strahlendes Uran, aber auch Holz, das Jahrzehnte braucht zum Wachsen) verbrennt. Weil das die Zukunft aller Menschen verqualmt und beschädigt. Wir müssen also maßgeblich bis ausschließlich von dem leben, was uns im jeweiligen Augenblick an Energie in Wind und Sonne zur Verfügung steht. Auch hier also: Bezug zur Gegenwart vor Bezug zur Vergangenheit.
Kann die persönliche Energiewende der Wiedergeburt in Gottes verzweigte Sippe die kollektive Transformation unserer Lebens- und Wirtschaftsweise erleichtern? In den USA halten viele Christen, die sich selbst als „wiedergeboren“ bezeichnen, Ökologie und Klimaschutz für Teufelszeug. Aber ich denke, das ist eine bis zur Unkenntlichkeit entstellte Form des Glaubens. Eine Form von Kirche, die ebenso destruktiv ist wie die parasitäre Lebensweise, die sie mit dem Reich Gottes verwechselt. Die sich an die Vergangenheit klammert und sie festhält, statt sich dem Wind des Wandels auszusetzen.
In der kommenden Woche haben wir in Nürnberg den Kirchentag zu Gast. Mit dabei ist unter anderem auch Eckart von Hirschhausen. Der schrieb kürzlich in Chrismon davon, welche Rolle Christen in den Krisen dieser Zeit spielen könnten:
Während der Zeithorizont von Politikern oft nicht ausreicht, um auf den ersten Blick unpopuläre Entscheidungen voranzubringen, könnten es sich die Kirchen in der Gewissheit ihres Auftrags und ihrer Geschichte leisten, jetzt in Vorleistung zu gehen. Wenn sich so viele Menschen ohnmächtig fühlen, wo ist denn dann diese ominöse Macht? Was können Sie tun?
Als Wiedergeborene leben wir in den Geburtswehen der neuen Schöpfung. Auch diese noch ausstehende Geburt ist etwas, das nicht in unserer Hand liegt – zum Glück. Aber wir können jetzt schon, so gut es geht, leben, als wäre das Neue schon da.
Noah hat sich im vergangenen Jahr wieder an die Spitze der Vornamen-Hitliste für kleine Jungs gesetzt und Matteo auf Platz 2 verwiesen. Es wird ihnen später vielleicht ähnlich gehen wie mir früher (in der fünften Klasse war ich einer von drei Peters), oder wie all den Bens, den Hannas, und was da noch im Trend lag die letzten Jahre.
Was die Eltern im einzelnen zu dieser Wahl veranlasst hat, mag unterschiedlich sein. Ich frage mich allerdings, ob im Falle der Noahs auch das kollektive Unbewusste eine Rolle spielt. Ob es also kein völliger Zufall ist, dass steigende Meeresspiegel, schmelzende Gletscher und zunehmende Extremwetterereignisse (Flut, Dürre, Sturm und Hitze) inzwischen ein stetes Hintergrundrauschen in den Nachrichtenkanälen darstellen.
Und weil wir uns an die Ursachen dafür (und unsere Verstrickung darin) so ungern erinnern lassen, weil viele sich lieber über Klimaproteste aufregen und vor den immer offensichtlicheren Folgen unserer Lebensweise die Augen verschließen – könnte es sein, dass sich das, was da schon die ganze Zeit brodelt, nun eben auf diesem Wege meldet?
Und damit nicht genug – vielleicht steckt ja auch Gott dahinter? Weil er sich freut, wenn sich jemand um den Erhalt der Artenvielfalt sorgt. Weil diese Welt Menschen braucht, die mehr auf ihn hören als auf die Stimmen der Maßlosigkeit und Dominanz. Weil wir das ohne leise und laute, vor allem aber ständig präsente Erinnerungen so schnell aus dem Blick verlieren.
Bäume altern unterschiedlich, wie Menschen auch. Auf den Wiesen im nahen Pegnitzgrund stehen etliche alte Weiden. Manche von ihnen sind im Lauf der Zeit innen so morsch und hohl geworden, dass sie nach allen Richtungen auseinanderklappen. Die dicken Äste liegen nun flach am Boden und bilden einen großen Kreis. Manchmal hat der einen Durchmesser von zwanzig, dreißig Metern.
Aber der Baum lebt noch. Und so treiben die alten Äste weiter junge Zweige aus. Die wachsen wieder senkrecht in die Höhe, bilden allmählich ein neues Blätterdach. In den hohlen Stämmen nisten sich Tiere ein und auf den dicken, horizontalen Ästen setzen sich Leute hin, ruhen sich aus, schaukeln ein bisschen oder machen ein Picknick.
Und ich denke mir: Was für eine schöne Art, alt zu werden! Diese Weiden bleiben nicht stehen, bis sie irgendwann tot zusammenklappen. Statt immer weiter in die Höhe zu wollen, wenn es schon nicht mehr richtig geht, klappen sie auseinander. Und werden einladend für andere. Jedesmal, wenn ich vorbeikomme, berührt es mich wieder.
In wenigen Tagen, an Christi Himmelfahrt, liegt Ostern vierzig Tage zurück. Vierzig Tage, das ist ein transformativer Zeitraum: In vierzig Tagen oder mehr kann es gelingen, alte Gewohnheiten abzulegen und neue einzuüben. Während der Fastenzeit – also der vierzig Tage vor Ostern – tun das viele, indem sie etwas weglassen und auf etwas verzichten. So werden sie offen für das Neue, das mit dem Auferstandenen in die Welt gekommen ist. Es ist ein bisschen so, wie wenn ich im Garten den Boden lockere und Platz schaffe für einen jungen Baum oder eine neue Blume. Doch wenn die dann gepflanzt ist, sind neue Gewohnheiten gefragt: Ich gieße sie, gebe etwas Dünger dazu, und wenn eine kalte Nacht droht, decke ich sie vorsorglich zu.
Neues Leben, neue Gewohnheiten
Ich denke an einen Kollegen, der gerade zum zweiten Mal Vater wurde und jetzt ein paar Monate in Elternzeit verbringt. Die ganze Familie nimmt sich Zeit, um die Ankunft des Neugeborenen bewusst zu feiern. Und um in Ruhe zu lernen, wie das Leben zu viert jetzt funktioniert. Denn das Neue verändert alles: Die Rollen in der Familie, die Rhythmen des Alltags, das Haushalten mit den inneren Ressourcen.
Was für eine schöne Möglichkeit: Zeit zu haben, in der das neue Leben sich einwurzeln und einruckeln kann. Auf das geistliche Leben umgemünzt wäre dann die Frage: Wie kann die Anwesenheit Jesu meinen Alltag prägen? Wie wirkt sie sich aus auf meine Rollen in Beruf, Familie, Gesellschaft? Wie finde ich einen neuen Rhythmus, der dazu passt, und wie kann mir der in Fleisch und Blut übergehen?
Brauche ich solche spirituellen Flitterwochen auch – nicht nur einmal im Leben, sondern regelmäßig? Die Sonntage zwischen Ostern und Pfingsten tragen wohl auch deshalb klangvolle Namen: Sie rufen mich auf zum Jubeln, Singen, Beten, Ostern ausgiebig nachklingen lassen. Der kommende Sonntag heißt: Rogate, Betet.
Nach seiner Auferweckung von den Toten ist Jesus über vierzig Tage hinweg seinen Jünger:innen immer wieder erschienen. Die haben das damals richtig ausgekostet. Wir wissen nicht viel darüber, was Jesus mit seinen Leuten in dieser entscheidenden Zeit geredet hat. Wahrscheinlich musste auch erst einmal alles sacken: Der Schock über die Verhaftung und Kreuzigung Jesu; die Enttäuschung darüber, dass sie ihn im Stich gelassen hatten; die anfängliche Verwirrung über das leere Grab und dann die wundersamen Begegnungen, die bei aller Freude immer auch die Frage aufwarfen: Wie soll es jetzt weiter gehen?
Dass es weitergeht, lag auf der Hand: Die Auferweckung ist das große Ausrufezeichen hinter dem Leben und Wirken Jesu. Die Bekräftigung, dass Gott Wort hält. Dass seine Zusage gilt und er die Welt nicht den Kräften überlässt, die sie zugrunde richten. Dass Hass, Tod und Zerstörung nicht das letzte Wort haben – nicht im Leben der einzelnen Menschen, nicht in der Weltgeschichte insgesamt.
Krisen kommen ganz bestimmt
Die zurückliegenden Tage, vor allem der Karfreitag, hatten noch etwas gezeigt: Der Weg zu diesem Ziel führt durch tiefe, dunkle Täler. Ich stelle mir vor, das ist wie bei einer Bergwanderung, wo der gegenüberliegende Gipfel mich schon in strahlendem Sonnenschein anlacht. Doch um ihn zu erreichen, muss ich einen steilen, beschwerlichen Abstieg und einen weiteren kräftezehrenden Aufstieg hinlegen. Und wer weiß, ob das schöne Wetter so lange hält oder ob zwischenzeitlich ein Gewitter aufzieht? Wie bereite ich mich darauf vor, dass mein Glaube herausgefordert wird? Oder anders gefragt: Was ist nötig, damit das zarte Pflänzchen der Jesus-Bewegung nicht erfriert, wenn kurz nach Ostern die Eisheiligen kommen?
Gegen Ende der Zeit, die Jesus bei seinen Jünger:innen verbringt, erwähnt er immer wieder das Beten. Bestimmt erinnert er sie an so manches, was er früher schon einmal gesagt hatte. Darunter die folgende Geschichte (Lukas 11,5-8 / Basisbibel):
Stellt euch vor: Einer von euch hat einen Freund. Mitten in der Nacht geht er zu ihm und sagt: ›Mein Freund, leih mir doch drei Brote! Ein Freund hat auf seiner Reise bei mir haltgemacht. Ich habe nichts im Haus, was ich ihm anbieten kann.‹ Aber von drinnen kommt die Antwort: ›Lass mich in Ruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen, und meine Kinder liegen bei mir im Bett. Ich kann jetzt nicht aufstehen und dir etwas geben.‹ Das sage ich euch: Schließlich wird er doch aufstehen und ihm geben, was er braucht – wenn schon nicht aus Freundschaft, dann doch wegen seiner Unverschämtheit.
Unpassende Analogien
Ein Gespräch unter Freunden. Jesus weiß, dass viel davon abhängt, in welchen Zusammenhang er das Gebet einzeichnet. Er weiß: Je nachdem, mit welchen Erwartungen und Vorstellungen ich ans Beten herangehe, mache ich mir es leichter oder schwerer. Wenn ich mir Gott vorstelle wie eine gute Fee, bei der ich drei Wünsche frei habe, dann ist die Enttäuschung programmiert. So wie in den vielen Witzen über gute Feen, in der beim dritten Wunsch meistens irgendetwas Dummes passiert, das der Bittsteller nicht bedacht hatte. Beim Beten sind nicht die unüberlegten Bitten hinderlich, sondern die Vorstellung, dass Gott vor allem dazu da ist, Wünsche aller Art zu erfüllen. Gott funktioniert wie ein Automat: Ich spreche etwas aus und – schwupps – ist der Wunsch erfüllt. „Lieber Gott, ich weiß, ich müsste nicht unbedingt mit dem Auto in die Innenstadt fahren. Aber vielleicht regnet es heute ja noch. Würdest Du mir bitte einen Parkplatz direkt vor dem Laden freihalten?“
Ich kann freilich auch auf der anderen Seite vom Pferd fallen: Ich stelle mir Gott als erhabenen Regenten vor, der Gesuche seiner Untertanen entgegennimmt. Die Anträge durchlaufen dann alle möglichen bürokratischen Instanzen und werden am Ende, nach langer Wartezeit, ohne Begründung gewährt oder abgelehnt. Also kommt es darauf an, dass ich meine Bitten möglichst so formuliere, dass sie bei ihm Wohlwollen hervorrufen: Garniert mit Höflichkeitsfloskeln, Komplimenten und Bekundungen meiner Ergebenheit. Gern auch mit einer langen Liste von Unterstützer:innen.
Irgendwo in der Mitte zwischen beiden liegen jene (natürlich von Erwachsenen erdachten) „Kindergebetchen“, über die sich Joachim Ringelnatz schon vor 100 Jahren lustig gemacht hat:
Freundschaft ist voller Zumutungen
Erwachsen sind auch die zwei Freunde, von denen Jesus spricht. Die Beziehung zwischen den beiden beginnt nicht in dem Moment, als spätabends Gäste hereinplatzen. Sie kennen einander. Oft haben sie zusammen am Abend nach der Arbeit im Schatten eines Olivenbaums gesessen und einander bei einem Becher Wein von ihren Freuden und Sorgen erzählt. Sie haben einander Werkzeuge ausgeliehen und bei Reparaturen von Haus und Hof mit angepackt. Sie sehen zu, wie ihre Kinder aufwachsen, und vielleicht fragt einer den anderen sogar, ob er sich um sie kümmern würde, falls ihm ein Unglück zustoßen sollte.
Wenn es einem von beiden nicht gut geht, wäre der andere enttäuscht, nichts davon zu erfahren. Natürlich ist es anstrengend, in die Probleme anderer verwickelt zu werden. Aber das ist halt der Unterschied zwischen Freunden und Bekannten: Für einen Freund ist es schlimmer, wenn ich meine Sorgen verschweige, mich allein damit herumschlage um ihn zu schonen, als wenn ich sie ihm zumute. Selbst dann, wenn er auch keinen Rat weiß und nur schweigt oder in meine Klage einstimmt. Oft ist das schon Hilfe genug: Wenn ich jemandem mein Herz ausschütten kann, bringt mich das einer Lösung näher.
Gegen Ende ihrer Lehrzeit redet Jesus seine Jünger ganz bewusst als Freunde an – nicht mehr als Schüler und Untergebene. Das Herz ausschütten, sich mitteilen, zuhören und zusammen schweigen, all das gehört zu einer guten Freundschaft. Um Hilfe bitten natürlich auch.
Ganz so ideal ist es freilich im richtigen Leben nicht. Manchmal zerbrechen Freundschaften daran, dass einer den anderen überfordert oder ausnutzt. Manchmal lassen Freunde einander hängen. So wie der Mann, dessen Kinder neben ihm schon schlafen, als der andere klopft, weil sein Brot nicht reicht. Jesus beschreibt ganz ungeschminkt, wie genervt er zunächst auf die Störung seiner Nachtruhe reagiert. Aber spätestens als er kapiert, dass seine Kinder vom unablässigen Klopfen genauso aufwachen wie vom Aufstehen und Öffnen der Türe, wimmelt er den anderen nicht länger ab, sondern gibt ihm die Brote. Und der zieht erleichtert davon, weil er nun seinerseits nicht mehr in der Verlegenheit ist, dem Überraschungsgast – noch ein Freund! – nichts zu essen anbieten zu können. In einer Kultur, die das Gastrecht groß schreibt, wäre das ein schrecklicher Makel. Da ist es leichter zu ertragen, dass der Freund nebenan wegen der aufgewachten Kinder eine Weile schmollt.
Gott auf die Nerven gehen?
Abraham und Mose, die großen Gestalten der hebräischen Bibel, gelten als Freunde Gottes. Sie lassen sich von Gott in seine Angelegenheiten und Pläne hineinziehen. Zugleich haben sie keinerlei Hemmungen, Gott mit den Anliegen der Menschen um sie herum in den Ohren zu liegen. Mit erstaunlichem Erfolg: Gott lässt sich von ihrer Hartnäckigkeit tatsächlich beeinflussen. Freilich geht es in den Gebeten von Abraham und Mose auch nicht um Eigennutz und persönliche Vorteile, sondern um Gerechtigkeit und die Rettung von Menschen aus Not und Gefahr. Das sieht auch Walter Wink so. Der Theologe und Bürgerrechtler hat zwei historische Durchbrüche hat mit erkämpft und erlebt: Die Abschaffung der Rassentrennung in den USA und das Ende der Apartheid in Südafrika.
»Damit Fürbitte christliches Beten ist, muss es um das Kommen des Reiches Gottes auf Erden gehen. Es muss ein Gebet sein für den Sieg Gottes über Krankheit, Gier, Unterdrückung und Tod – jetzt, in den konkreten Lebensumständen von Menschen. In unserer Fürbitte richten wir unseren Willen auf die Möglichkeiten Gottes, die jetzt in diesem Augenblick latent vorhanden sind, und finden uns wieder im Wirbelwind Gottes, der darum ringt, sie zu verwirklichen.
Gott verlangt von uns, dass wir mit Gott feilschen um der Kranken willen, der Besessenen, der Schwachen – und unser Leben dann in Einklang bringen mit diesen Fürbitten. Der Gott der Bibel erfindet die Geschichte im Zusammenwirken mit jenen, die „hungern und dürsten nach Gerechtigkeit“.«
(Walter Wink. Engaging the Powers. Discernment and Resistance in a World of Domination, Minneapolis 1992, S. 303)
Ray Charles macht es uns vor: „Himmel, hilf dem Schwarzen, der sich Tag für Tag abmüht. Hilf dem Weißen, der sich von ihm abwendet. Hilf dem, der den mit Füßen tritt, der am Boden liegt. Hilf uns allen.“
Immer wieder einmal fragen mich andere und frage ich mich selbst: Warum ist es Gott so wichtig, mich in das Ringen um eine bessere Welt hineinzuziehen. Wenn Gott doch allmächtig und allwissend ist, alles kann und alles weiß, warum passiert das Gute dann nicht einfach von selbst? Warum ist es dann immer noch ein Kampf, warum gibt es immer noch Streit, und warum dauert das alles so lange?
Seltsam unsouverän
Dieses „Gott braucht keinen Rat, er weiß es besser“ und „Gott macht eh, was er will. Was soll ich ihm reinreden?“ führt dazu, dass ich mich ins anscheinend Unvermeidbare füge. Wenn ich mir nicht mehr vorstellen kann, dass Beten etwas verändert, außer vielleicht meine eigene Einstellung, wird es zur zähen Pflichtübung. Oder zur gefühlten Zeitverschwendung. Denn in der Zeit, die ich mit Beten zubringe, könnte ich auch etwas tun, das wirkt.
Der Gott, von dem Jesus spricht, ist offenbar anders als menschliche Monarchen – und garantiert anders als Autokraten und Diktatoren. Die stellen sich Souveränität in der Regel als Willkür vor – ich mache, was ich will, und lasse mir von niemand reinreden. Gott aber kommt dabei immer seine Liebe zu den Menschen in die Quere. Walter Dietrich schrieb einmal treffend, Israel habe mehr Macht über Gott, als es einem allmächtigen Gott lieb sein könne.
Dieser Gott möchte nicht über unsere Köpfe hinweg seine Sachen durchziehen, sondern mit möglichst vielen seiner Freundinnen und Freunde zusammen. Ständig sucht er sich ein Gegenüber, das er an seinen Plänen beteiligt. Er haut auch nicht gleich im Affekt drauf, wenn etwas aus dem Ruder läuft, sondern er hält Rücksprache mit seinen Leuten. Er fordert sie buchstäblich ein! Wenn es darum geht, diese Partnerschaft mit einem manchmal seltsam unsouveränen Gott zu beschreiben, wird sogar ein Intellektueller wie Walter Wink zum Poeten. Hören wir ihm nochmal zu:
»Beten heißt, am Käfig Gottes zu rütteln und Gott aufzuwecken und zu befreien und diesem ausgezehrten Gott Wasser und Nahrung zu geben, die Stricke von Gottes Händen abzuschneiden und die Eisen an seinen Füßen zu lösen und den verkrusteten Schweiß von Gottes Augen zu waschen und dann zuzusehen, wie Gott an Leben und Vitalität und Energie zunimmt – und Gott dann überallhin zu folgen, wo er geht.
Beten ist keine Bitte an einen allmächtigen König, der jederzeit alles tun kann. Es ist ein Akt, der den Ursprung, das Ziel und den Prozess des Universums befreit von aller Verzerrung, Vergiftung, Verwüstung, Fehlausrichtung und blankem Hass auf das Leben, die Gottes Absichten im Wege stehen. Wenn wir beten, schicken wir keine Briefe an ein himmlisches Kanzleramt, wo sie zu den anderen sortiert werden, die sich dort stapeln. Wir beteiligen uns an einem schöpferischen Akt […]. Die Geschichte gehört den Betenden, die die Zukunft herbeiglauben. Und wenn das so ist, dann ist das Gebet nicht etwa eine Flucht vor dem Handeln, sondern ein Weg, sich auf das Handeln einzustellen und Handeln zu ermöglichen.«
(Engaging the Powers, S. 303f.)
Zwei Freunde haben eine unruhige Nacht, erzählt Jesus im Gleichnis. Diese Situation wird noch eine ganze Weile andauern. Darauf bereitet Jesus seine Jünger:innen vor. „Dein Reich komme, Dein Wille geschehe“ sind keine trockenen Floskeln, so lange Krieg und Gewalt an der Tagesordnung sind, so lange wir die Atmosphäre ins Unerträgliche aufheizen, das Wasser und den Boden vergiften, so lange Gerechtigkeit und Unversehrtheit für alle eher ein Ideal, eine Forderung ist – und keine selbstverständliche Praxis. So lange all das den meisten Menschen die meiste Zeit auch nicht so schrecklich wichtig ist. Wenn mir der Zustand der Welt im Großen und Kleinen nicht wenigstens ab und zu den Schlaf raubt, ist das kein gutes Zeichen. Heaven help us all!
Beten und sich einsetzen
Manchmal sagen Leute ja „jetzt hilft nur noch Beten“ und meinen: Menschlich betrachtet sind wir am … Ende unserer Möglichkeiten. Aber vielleicht gehört das auch Anbrechen des Neuen, zum Kommen Gottes in unsre Welt, dass wir ständig überfordert sind. Wenn Gott kommt, wenn wahr wird, dass Christus auferstanden ist, dann bleibt nichts mehr wie es ist. Vielleicht können und sollen wir das also gar nicht allein reißen. Vielleicht steht das Gebet nicht am Ende menschlicher Möglichkeiten, sondern am Anfang. Es hält das Osterfeuer am Brennen. Es ist der Pulsschlag des neuen Lebens. Beten hilft den Aktiven, dass sie nicht verzweifeln, wenn eine Zeit lang nichts vorwärts geht. Und den Ängstlichen oder Zögerlichen, hilft es, in Bewegung und ins Handeln zu kommen. Damit alle, die Menschen und Mitgeschöpfen mutwillig Schaden zufügen, schlaflose Nächte bekommen.
Es ist gut und richtig, dass Fürbitten in unseren Gottesdiensten einen festen Platz haben. Jesus hätte vermutlich nichts dagegen, wenn sie noch etwas hungriger und durstiger, aufgebrachter und eindringlicher daherkommen. Im persönlichen Gebet oder in einer kleinen Runde lässt sich das leichter lernen. Um dann hoffentlich zu entdecken: Beten ist nicht das Gegenteil von Engagement und Handeln. Es ist das Gegenteil von Fatalismus und Resignation.
So empfand es wohl auch die Mystikerin Madeleine Delbrêl, die einmal schrieb: „Gott will, dass wir ihn aufdringlich darum bitten, sein Wort zu halten. Haben wir diesen Druck auf Gott ausgeübt, haben wir ihn hinreichend ausgeübt?“
Das relativ kalte und endlich mal wieder ausreichend feuchte Aprilwetter vor Ort täuscht vielleicht etwas darüber hinweg, dass die Nachrichten von der Klimafront alles andere als ermutigend sind. Drei Meldungen aus der laufenden Woche beschäftigen mich dazu:
Apropos Vorfahrt: Vor kurzem war ich ein paar Tage in Frankreich. Dort wird der Durchgangsverkehr in den Städten immer wieder durch Bodenwellen und Zebrastreifen verlangsamt. Als ähnliche Maßnahmen hier vor 30 Jahren diskutiert wurden, hieß es, das könne man nicht machen, weil dann ein Rettungswagen kostbare Zeit verliere. Rettungswagen sind offenbar immer dann interessant, wenn sie als Vorwand gegen Beschränkungen des Autoverkehrs herhalten können. Ich weiß nicht, wie viele Menschenleben die Bodenwellen in Frankreich gekostet haben. Womöglich haben sie mehr gerettet, weil man nicht einfach so durch die Stadt rasen kann wie bei uns.
Arme, Alte und Kranke sind bestimmten Akteuren im politischen Spektrum keinen Cent beim Bürgergeld oder der Kindergrundsicherung wert. Aber wenn Änderungen am eigenen Lebensstil gefragt sind, entdecken eben diese Leute urplötzlich ihr Herz für die Schwachen, denen man das auf keinen Fall zumuten kann. Diese Art von Solidarität kostet nichts und bringt nur denen einen Vorteil, die dieses Schmierentheater aufführen. Irgendwann wird der Schwindel auffliegen, aber dann ist es zu spät.
Wir einfachen Leute fühlen uns oft zu Unrecht bestraft. Wir können doch nichts dafür, dass sich die Bundesregierung nicht genug um das Erreichen des 1,5 Grad-Ziels bemüht. Wir wollen nur ein gutes Leben leben und das ist derzeit schwer genug zu haben. „Das trifft die Falschen“, so lautet also der Reflex, wenn Streiks oder Klimademos in den Alltag eingreifen, und die Falschen, das sind wir Normalos. Wir und dieses vermeintlich unantastbare Recht auf Ungestörtheit, auf die Verteidigung des stetig fließenden Status Quo, das deutsche Second Amendment sozusagen.
Diese Woche kam ich einer großen Sache auf die Spur. Alles fing an im Facebook-Feed von Pater Jörg Alt, der sich im Zuge der Klimaproteste an Straßenblockaden beteiligt. In den Kommentaren wurde dann deutlich, dass Staus niemals Gottes Wille sein können, weil dort Menschen schwerst traumatisiert werden: Nervenzusammenbrüche, Herzinfarkte, man kommt nicht ins Krankenhaus oder in Veranstaltungen von Leuten, die man gut findet. Kurz: Es gibt keine schlimmere Folter, als im Verkehr zu stecken.
Bei Lesen wurde mir klar: Im Auto zu hocken und nicht vorwärts zu kommen, ist eine Form von Tod. Lebendig begraben in der Blechlawine. Müssten also Straßenblockaden wie Totschlag geahndet werden? Viele Landsleute würden hier zweifellos zustimmen.
Mir ging aber ein anderer Aspekt nach: Wenn es stimmt, dass Staus sich so traumatisch auf die Psyche schlagen, dann sind wir Deutsche ein schwer leidendes Volk. Der durchschnittliche Münchner PKW-Pendler leidet sagenhafte 79 Stunden im Jahr Qualen, in Berlin sind es 65 und bei uns in Nürnberg noch rund 45 – und das ist nur das Leid auf dem Weg zur Arbeit! Da kommen noch viele Stunden Stau im Urlaub hinzu, das trifft dann die ganze Familie, also auch Kinder müssen die nervenzerfetzende Tortur schon durchmachen. Da bleiben schlimme Narben zurück.
Radikale Klimaschützer wie der ADAC behaupten zwar, Staus gebe es wegen der vielen, vielen Autos auf den Straßen und wegen Baustellen zu deren Bau und Erhalt. Aber das ist natürlich plumpeste Täter-Opfer-Umkehr, die uns die Freude am Fahren vermiesen will, indem sie uns die Schuld am Stau gibt.
Damit ist auch klar, dass es eine völlig unrealistische Erwartung wäre, dass wir uns hier ernsthaft mit den Folgen unserer fossilen Lebensweise befassen. Man kann einem todtraurigen Herzen nicht damit kommen, dass irgendwo anders auf der Welt jemand hustet wegen der schlechten Luft. Oder sein Haus verliert. Diese Menschen in den armen Ländern haben meist keinen Porsche oder BMW und wissen gar nicht, was wir alles Schreckliches erleben! Und was sind schon gelegentliche Dürren und Flutkatastrophen gegen das Drama, das sich täglich auf dem Asphalt um uns herum abspielt? Was sind Ernteausfälle gegen den Zeitverlust – was kümmert mich das Artensterben wenn ich ganz dringend aufs Klo muss und dafür die Rettungsgasse nicht benutzen darf?
Wenn wir den also Stillstand in Sachen Klima überwinden wollen, müssen erst einmal diese Blockaden auf den Straßen beseitigt werden. Also teeren und pflastern wir doch bitte jetzt sofort, was irgendwie geht, damit die menschengemachte Bewegungsarmut ein Ende und die Freiheit wieder eine Überholspur hat.
Von Abraham Maslow wissen wir: Leute, denen so elementare Rechte wie das Lichthupen auf der Autobahn und das Parken auf dem schmalen Bordstein vor der eigenen Haustüre vorenthalten werden, sind einfach nicht in der Lage, sich für solch abstrakte Dinge wie Demokratie, das schwer gestutzte Demonstrationsrecht oder das Recht auf saubere Luft und sauberes Wasser zu erwärmen. Das kann man von ihnen auch nicht verlangen. Ebenso wie man nicht erwarten kann, dass sie an die Zukunft ihrer Enkel (geschweige denn der Enkel anderer) denken, wenn ein Stau sie davon abhält, dem verdienten Feierabend entgegenzubrausen.
Aber zum Glück gibt es noch Männer wie Christian Lindner, Volker Wissing, Hubert Aiwanger, Andi Scheuer und all die anderen Volkshelden der ungebremsten Raserei. Die den Duft von Diesel und Freiheit noch schätzen. Irgendwann kommt der Tag, wo sie mit einem weißen Mustang in der Rettungsgasse vorfahren und uns aus dem Elend und der Hölle des ständigen Staus erlösen.
Die Schönen und die Reichen… Welche Namen von reichen Leuten fallen Ihnen/Euch so ganz spontan ein? Ich könnte mir vorstellen: Bill Gates ist dabei, Elon Musk und Jeff Bezos, vielleicht Warren Buffett. Der reichste Mann der Welt – übrigens interessant, dass die ganz Reichen immer Männer sind – heißt Bernard Arnault. Er verdient sein Geld mit Luxusartikeln, die er anderen Reichen verkauft. Von dem bisschen Geld der Armen wird man nicht so schnell Milliardär. Es sei denn, man betreibt einen Lebensmittel-Discounter wie der reichste Deutsche: Dieter Schwarz, dem Lidl gehört. Arnault ist allerdings sechsmal so reich wie Schwarz oder die Aldi-Erben, Tendenz stark steigend.
Manche zeigen ihren Reichtum gern, andere verstecken ihn ein bisschen, aber die intensive Aufmerksamkeit der Medien und diskreter (manchmal auch unverhohlener) Einfluss auf die Politik sind ihnen so oder so sicher. Es werden Ranglisten geführt und ständig aktualisiert, als wäre reich Sein so etwas wie Tennis oder Golf: Eine sportliche Übung, die im fairen Wettstreit um die Anerkennung des Publikums geführt wird. Und zur eigenen Genugtuung.
In der Bibel steht auch eine Geschichte über märchenhaften Reichtum. Jesus erzählt sie (Lukas 16,19-31). Sie beginnt so:
Einst lebte ein reicher Mann. Er trug einen Purpurmantel und Kleider aus feinstem Leinen. Tag für Tag genoss er das Leben in vollen Zügen. Aber vor dem Tor seines Hauses lag ein armer Mann, der Lazarus hieß. Sein Körper war voller Geschwüre. Er wollte seinen Hunger mit den Resten vom Tisch des Reichen stillen. Aber es kamen nur die Hunde und leckten an seinen Geschwüren.
Einst, sagt Jesus: Es war einmal. Zeit und Ort tun, wie im Märchen, nichts zur Sache. Reiche damals lebten nicht wesentlich anders als Reiche heute mit ihren Privatjets, ihren Luxusyachten, den abgeriegelten Anwesen mit Kameras und Wachpersonal. Ganz unbedingt zur Sache gehört freilich dieses Detail: vor der Tür des Reichen liegt ein Armer. Der hat Hunger und ist krank und entstellt.
Der Name des Reichen interessiert Jesus nicht. Es geht nicht um das, was diesen Reichen von anderen Reichen unterscheiden würde, sondern um das, was Reiche gemeinhin so tun und denken. Natürlich gibt es sympathische Reiche und unsympathische, bescheidene und gierige, fromme und gottlose. Das weiß Jesus. Doch der Reiche erscheint in dieser Geschichte nicht als Individuum, sondern als Vertreter seiner Klasse.
Zwischen dem Reichen und dem Armen existiert eine Kluft. Nicht räumlich, da ist die Entfernung gering, aber sozial. Der eine lebt in Saus und Braus, und beim Gedanken an den anderen, dem die Straßenköter seine offenen Beine abschlecken, wird mir nach drei Sekunden schon ganz flau im Magen. Ekel rührt sich. Lässt sich Armut nicht etwas dezenter schildern? Das tut ja schon beim Zuhören weh. Ich mag mir das gar nicht weiter ausmalen. Und über den Gestank, der zu dieser Szene gehört, haben wir noch gar nicht gesprochen.
Ach, Jesus, jetzt hast Du mir den Appetit verdorben!
Ein Blick in den Abgrund
Jesus ist schmerzfrei, wenn er von dem Armen erzählt. Und er kennt seinen Namen: Lazarus. Und ich frage mich: Wie viele Arme kenne ich mit Namen? In den Medien erscheint ein Armer ja höchstens, wenn mal wieder ein Aufreger über Betrug bei Sozialleistungen gebraucht wird. Dabei ist das nicht (wie gern unterstellt wird) die Regel, sondern die Ausnahme. Viele Arme nehmen Geld, das ihnen von Rechts wegen zusteht, gar nicht in Anspruch: Weil sie sich schämen, weil sie mit dem Papierkram nicht klarkommen oder weil sie resigniert haben und nichts mehr erwarten vom Rest der Gesellschaft.
Reiche hingegen haben sich in ganz anderem Umfang aus den öffentlichen Kassen bedient. Der Volkszorn darüber hält sich freilich in engen Grenzen. Wenn ein Kavalier – erkennbar an der gepflegten Erscheinung – ein Delikt begeht, kann es ja nur ein Kavaliersdelikt sein. Er macht sich dabei selten die Hände schmutzig, denn seine Lobbyisten haben die Gesetze zu seinen Gunsten umschreiben lassen. Er hat Zeitungen und Fernsehsender gekauft, die für seine Interessen Stimmung machen. Und falls es doch mal brennt, handeln seine Anwälte einen vorteilhaften Deal mit der Staatsanwaltschaft aus.
Jesus fühlt sich unter den Armen weder fremd noch unwohl. So wie Pater Benigno Beltran, der 30 Jahre auf „Smokey Mountain“, dem Müllberg von Manila lebte. Bei Menschen, die in dem stinkenden, qualmenden Wust nach Metall und Plastik suchten, das sie verkaufen konnten; und dem, was noch essbar erschien. Wenn Beltran mit dem Bus in die Stadt fuhr, blieb der Platz neben ihm oft leer: Der strenge Geruch haftete seinem Ordensgewand an.
Der schwelende Müllkippe mit ihren giftigen Dämpfen erinnerte ihn an das Feuer und den Schwefeldampf der biblischen Apokalypse. Auf dem Müllberg zeigt sich die Kluft zwischen arm und reich in aller Deutlichkeit: Die Reichen produzieren den meisten Abfall und die Armen bekommen die Folgen zu spüren. Beltran schreibt:
„Hinter jedem Stück Plastik auf der Müllkippe liegt das ganze Universum. In der stickigen Hitze des knisternden Infernos, dem tödlichen Geruch, dem ständigen Dröhnen der Müllautos, die ihre Ladung erbrachen, wurde ich daran erinnert, dass Smokey Mountain eine Metapher ist für eine Welt, die völlig aus den Fugen ist.“ (Faith and Struggle on Smokey Mountain, S. 10)
Ein Inferno. Auch Jesus scheint in diese Richtung zu denken. So geht seine Geschichte weiter:
Dann starb der arme Mann, und die Engel trugen ihn in Abrahams Schoß. Auch der Reiche starb und wurde begraben. Im Totenreich litt er große Qualen. Als er aufblickte, sah er in weiter Ferne Abraham und Lazarus an seiner Seite. Da schrie er: ›Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir! Bitte schick Lazarus, damit er seine Fingerspitze ins Wasser taucht und meine Zunge kühlt. Ich leide schrecklich in diesem Feuer!‹
Der Tod setzt für beide, für den Reichen wie für Lazarus, alles auf Null. Was bisher war, ist aus und vorbei. Jesus bedient sich hier großzügig bei Vorstellungen der Volksfrömmigkeit. Ein bisschen so wie die Witze, in denen jemand an die Himmelstür klopft und von Petrus hereingelassen wird – oder nicht. Der „arme Mann“ wird von Gottes Engeln dahin eskortiert, wo alle Israeliten herkommen: in „Abrahams Schoß“. Da findet er Ruhe und Geborgenheit. Da lebt er auf.
Der Reiche erhält noch ein standesgemäßes Begräbnis und wandert ins Totenreich – die Unterwelt, das Inferno, die Müllkippe der Geschichte. So weit keine große Überraschung für alle, die Jesus zuhören. Reichtum, Geiz und Egoismus, das haben schon seit Jahrhunderten die jüdischen Propheten angeprangert. Amos etwa beschimpft die High Society Israels als gefräßige fette Kühe. Ein Ausgleich ist überfällig.
Wasserträger und Extrawürste
Aber nun fängt der Reiche an zu verhandeln. Er bittet den guten alten Abraham darum, seine Qualen zu lindern. Auf einmal kennt auch er den Namen des Armen, für den er zu Lebzeiten keinen Finger krumm gemacht hatte. Schick’ doch den Lazarus, damit er mir ein bisschen Abkühlung verschafft.
Wasser herbeibringen, das können die Armen gut. Auf Smokey Mountain, erzählt Beltran, mussten die Frauen zu Fuß weite Wege zurücklegen, um Trinkwasser für ihre Familien zu kaufen und mühsam heimzuschleppen. Und teuer war es auch noch: Sie zahlten zehnmal so viel wie die Reichen in ihren Villenvierteln.
Mir scheint, der Reiche aus Jesu Geschichte/der Geschichte von Jesus lebt immer noch ein bisschen in jener Welt, in der Arme die Wasserträger sind. Wo ihm seine Dienstboten die Wünsche von den Augen ablesen. Oder wenigstens seinen Anweisungen folgen. Im Grunde ist es ja auch ein Sonderwunsch, der sich an Gott richtet.
Doch Abraham antwortete: ›Kind, erinnere dich: Du hast deinen Anteil an Gutem schon im Leben bekommen – genauso wie Lazarus seinen Anteil an Schlimmem. Dafür findet er jetzt hier Trost, du aber leidest. Außerdem liegt zwischen uns und euch ein tiefer Abgrund. Selbst wenn jemand wollte, könnte er von hier nicht zu euch hinübergehen. Genauso kann keiner von dort zu uns herüberkommen.‹
Mit spürbarem Bedauern erklärt Abraham dem Reichen, warum sein Wunsch nicht erfüllt werden kann. Als wäre der ein Kind, das alle seine Süßigkeiten schon gegessen hat und nun ein Auge auf die Schokolade wirft, die sich sein sparsamer Bruder aufgehoben hat: Du hattest Deinen Anteil, jetzt ist Lazarus auch mal dran.
Und dann verweist Abraham auf den Abgrund zwischen beiden: Da gab es die Kluft im Herzen, als der Reiche zu Lebzeiten dachte: Was geht mich der Arme an? Dann die Kluft im Kopf, als der Reiche den Armen selbst im Jenseits noch für seine Zwecke einspannen will. Und nun erweist sich der Abgrund zwischen denen, die Leid erfahren, und denen, die es verursachen oder ungerührt geschehen lassen, als unüberwindbar.
Aber der Reiche lässt seinen Anspruch auf bevorzugte Behandlung nicht einfach fallen. Es geht ja nichts über einen guten Draht nach ganz oben. Diesmal nicht für ihn persönlich, aber für seine Angehörigen. Einen derart selbstlosen Wunsch wird ihm der gute Abraham doch bestimmt nicht abschlagen?
Da sagte der Reiche: ›So bitte ich dich, Vater: Schick Lazarus doch wenigstens zu meiner Familie. Ich habe fünf Brüder. Lazarus soll sie warnen, damit sie nicht auch an diesen Ort der Qual kommen!‹ Aber Abraham antwortete: ›Sie haben doch Mose und die Propheten: Auf die sollen sie hören!‹ Der Reiche erwiderte: ›Nein, Vater Abraham! Nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie ihr Leben ändern.‹ Doch Abraham antwortete: ›Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören – dann wird es sie auch nicht überzeugen, wenn jemand von den Toten aufersteht.‹
Reiche bekommen keine Extra-Einladung in den Himmel. Abraham bleibt dabei. Alles, was es zu sagen gibt, ist gesagt. Die Reichen kennen die Gebote Gottes und die Mahnungen und Warnungen der Propheten. Und so wiederholt auch Jesus nur das, was andere vor ihm gesagt haben. Freilich in einer neuen Dringlichkeit: »Glückselig seid ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes.« Und umgekehrt: »Wehe euch Reichen! ihr habt euren Trost schon erhalten.«
Harsche Worte – harte Realität
Warum ist Jesus, der mit allen möglichen Leuten so barmherzig umgeht, bei den Reichen so kompromisslos? Und warum hält er, der Freund der Armen, sich in dieser Geschichte so lange mit dem Reichen auf?
Die Antwort auf diese Frage hilft uns ein Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor, wir seien eine Firma mit 100 Leuten, die gerade 100.000 Euro Gewinn gemacht hätte. Und dann bekommt aus irgendeinem Grund der Mitarbeiter, der jetzt schon am meisten verdient, 81.000 von den 100.000 Euro als Bonus. Die restlichen 19.000 Euro würden unter die anderen 99 verteilt, die genauso hart gearbeitet haben wie er. Aber deren Leistung spielt kaum eine Rolle. Wer würde da noch lange und gern arbeiten?
Die Wahrheit ist: Wir alle arbeiten da, denn das ist Deutschland. Das sagt eine Studie von Oxfam, die im Januar veröffentlicht wurde: Vom Vermögenszuwachs, der 2020 und 2021 bei uns in Deutschland erwirtschaftet wurde, entfielen satte 81 Prozent auf das reichste eine Prozent der Bevölkerung. Der überschaubare Rest wird – ungleich natürlich – unter allen anderen verteilt.
Hinzu kommt, dass Reiche auf ihre riesigen Kapitalgewinne meist deutlich weniger Steuern zahlen als Normalverdiener auf ihren Lohn. Die Bundesregierung sagt zwar, sie möchte den Armen helfen. Aber sie will den Reichen auf keinen Fall etwas wegnehmen – etwa durch angemessene Steuersätze auf deren stattliches Vermögen. Die Spielräume im Staatshaushalt reichen längst nicht mehr aus, um die Armut im In- und Ausland wirksam zu bekämpfen. Und freiwillige Spenden sind sicher ein Segen, aber auch da können immer weniger von uns aus dem Vollen schöpfen.
Kein Wunder, dass sich die Armut ständig weiter verschärft. Jedes fünfte Kind in Deutschland ist mittlerweile arm. Jedes fünfte hat beispielsweise kein eigenes Zimmer, keinen Rückzugsort für Schularbeiten oder bekommt seltener ausgewogenes Essen. Und wenn andere Kinder in der Klasse vom exotischen Urlaub oder ihrem Pferd erzählen, steht es beschämt daneben.
Das stinkt doch zum Himmel!
Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte
Wahrscheinlich war die Mehrzahl der Zuhörer Jesu weder reich im Sinne des einen Prozent noch völlig mittellos wie Lazarus. Vermutlich sind auch die meisten von uns irgendwo zwischen diesen Extremen. Was hat die Geschichte uns Durchschnittsverdienern zu sagen?
„Die Wahrheit liegt in der Mitte“ ist eine Redensart, die häufig strapaziert wird. Jesus erinnert uns daran, dass die ganze Wahrheit über die Welt damals und heute nicht zu erfassen ist ohne den Blick auf die Extreme, die er hier schildert.
Den Armen gegenüber spüre ich ein schlechtes Gewissen, weil es mir besser geht, und weil das reine Glückssache ist. Wäre ich an einem anderen Ort in eine andere Familie hineingeboren worden, sähe es womöglich ganz anders aus. Manchmal beruhige ich mein Gewissen, indem ich etwas spende. Aber ich weiß, dass das allein die Not der vielen nicht wesentlich lindern wird.
Und diese Hilflosigkeit ist das andere Problem: Wenn ich es mit Armen zu tun bekomme, wäre ich gern tatkräftig und kompetent. Ich würde ihre Probleme gern lösen, damit es ihnen endlich besser geht. Naja, wenn ich ganz ehrlich bin, möchte ich in diesem Momenten auch, dass es mir selbst besser geht. Wäre ihr Leid ein bisschen erträglicher, würde ich es in ihrer Nähe bestimmt besser aushalten. Doch so lange ich die Not nicht ändern kann – wenigstens nicht von heute auf morgen –, will ich nicht ständig mit meiner Ohnmacht und meinen Grenzen konfrontiert werden.
„Ich scheiss dich sowas von zu mit meinem Geld…“ Wie sicher kann ich sein, dass dieser legendäre Satz von Mario Adorf aus „Kir Royal“ nicht auch auf mich zutrifft? Als Normalo gerate ich nicht nur Armen, sondern auch Reichen gegenüber in Verlegenheit. Die Bilder und Videos von ihrem Hochglanz-Lebensstil zeigen irgendwann Wirkung. Als einer, dem es deutlich besser geht als vielen Armen, möchte ich mir ja nicht nachsagen lassen, ich würde eine kleinliche „Neiddebatte“ – so das beliebte „Argument“ bestimmter Politiker – vom Zaun brechen: Die Armen nur deshalb vorschieben, um selber mehr vom Kuchen zu kriegen.
Während ich meinen inneren Aufruhr betrachte, denke ich noch einmal an Pater Benigno Beltran. Er schreibt von der ständigen Versuchung, sich von Smokey Mountain zurückzuziehen. Und erklärt, warum er ihr nicht nachgab:
„Viele Leute haben mich gefragt, warum ich mich entschieden habe, auf Smokey Mountain zu bleiben. Sie unterstellen dabei, dass ich eine Wahl hatte. Ich erzähle ihnen dann immer: […] Ich bin nicht auf den Smokey Mountain gezogen, um die Müllsammler zu retten. Ich ging da hin, damit die Müllsammler mich retten.“ (Faith and Struggle on Smokey Mountain, S. 4)
Er hat entdeckt: Den Bezug zu den Armen zu verlieren heißt, den Bezug zu Gott zu verlieren. Und damit einer Hölle näher zu kommen, die nicht aus Pech und Schwefel besteht. Sondern aus nicht enden wollendem Kreisen um sich selbst, unstillbarer Angst und der Unfähigkeit, sich noch über irgendetwas richtig zu freuen.
Mut zum Aufmachen
Aber nun steht Jesus da und sagt ganz unverblümt: Reich Sein ist leider kein harmloser Sport, sondern ein gravierendes Problem. Es ist auch für die Reichen schlecht. Und für die Armen, für das Gemeinwesen, die Demokratie – für das Klima und die Natur sowieso. Hat Gott dem Reichen Lazarus vor die Tür gelegt, um ihn zu retten?
Denn arm sein ist kein Makel. Arme wünschen sich in der Regel auch kein Mitleid, sondern Respekt. Sie möchten nicht Objekt gut gemeinter Hilfsaktionen sein. Echte Begegnung auf Augenhöhe, aber dazu muss ich mich aufmachen, raus aus der schrumpfenden Wohlstandsblase. Und dann können wir gemeinsam überlegen, was wirklich hilft. Jetzt, hier, in diesem Leben.
Aufmachen muss ich, wenn ich Jesus ernst nehme, auch meinen Mund. Zum krassen Missverhältnis von Reichtum und Armut hier und weltweit kann ich nicht schweigen. Gewiss, Reden allein ändert noch nichts. Aber es wird sich erst recht nichts ändern, wenn wir verlegen und verschämt still halten.
Vielleicht beginnt dieser Mut zum Aufmachen im Gebet. Wenn ich Gott als den Gott der Armen anspreche, so wie Graham Kendrick in „God of the Poor“: Gott der Armen, Freund der Schwachen, lass Tränen wie Regen fallen und mache aus dem Funken unserer Liebe ein Feuer. Hier ist der Song mit einer Einleitung vom Meister persönlich…
Ob die Verstorbenen wohl sehen können, was wir Lebenden so anstellen? Freuen sie sich mit, sind sie traurig oder ärgern sie sich vielleicht über uns? Für Menschen, die nicht der Meinung sind, dass mit dem Tod alles aus ist, ist das ja eine spannende Frage.
Wenn ein Angehöriger stirbt, erzählen Eltern ihren Kindern manchmal, der Opa sei jetzt so eine Art Engel, der auf sie acht gibt und sie beschützt. Ich kann den Wunsch und das Tröstliche hinter dieser Vorstellung gut verstehen. Vor ein paar Wochen ist mein eigener Vater gestorben. Auch er hat sich immer sehr dafür interessiert, wie es uns Kindern und Enkeln denn geht. Sitzt er jetzt gerade vor seiner himmlischen Webcam und schaut mir zu?
Aber vielleicht sind wir Lebenden ja gar nicht so interessant, wie wir meinen. Vielleicht trifft mein Vater da, wo er jetzt ist, alle möglichen Leute, die er schon immer mal kennenlernen wollte. Vielleicht unternehmen sie gemeinsam spannende Sachen und die Zeit vergeht wie im Flug. Und abends vor dem Schlafengehen schaut er nochmal in den himmlischen Nachrichtenticker, ob es heute etwas Wichtiges von uns zu berichten gab.
Eigentlich wünsche ich ihm, dass es so ist. Und uns allen auch.
Zum einen waren das Judith Butlers Gedanken über Gewaltlosigkeit, in denen sie das Kriterium der „Betrauerbarkeit“ eingeführt hat. Manche Opfer von Gewalt und Zerstörung werden betrauert, andere sind anscheinend unsichtbar oder bedeutungslos. Ihnen kann folglich Gewalt angetan werden, ohne dass man dafür zur Rechenschaft gezogen wird.
Die andere große Lernerfahrung war die Vorlesungsreihe von Timothy Snyder über die Geschichte der Ukraine. Sie ist in 23 Teilen auf Youtube zu sehen, und er nimmt darin ständig Bezug auf den Krieg, der dort gerade tobt, und dessen ideologische Rechtfertigung durch die russische Seite: Die Ukraine sei kein richtiges Land und sei es nie gewesen, sie habe nur unter russischer Führung eine Daseinsberechtigung, sie sei korrupt und/oder faschistisch, Teil einer jüdischen/liberalen/westlichen Weltverschwörung gegen das heilige Russland, das seinerseits Erbin des Byzantinischen Weltreichs und Bewahrerin des wahren Christentums sei.
Deutschland, sagt Snyder, hat zwar bei der Aufarbeitung der Shoah viel geleistet, aber die imperialen und kolonialen Aspekte beider Weltkriege im Blick auf Osteuropa und ganz besonders die Ukraine blieben unterbelichtet. Ebenso wie die Tatsache, dass sehr viel mehr osteuropäische als deutsche Juden ermordet wurden. Und die Aussöhnung mit der UdSSR ließ das Unrecht, das Deutsche und Russen den anderen Osteuropäern (Polen, Ukrainer, Balten…) gemeinsam oder je für sich zugefügt haben, weitgehend unerwähnt. In dem Video unten fasst Snyder das alles griffig und nachvollziehbar zusammen.
Diese Woche ist Holocaustgedenktag, da kommt dieser Schmerz (und seine jahrzehntelange Verdrängung) wieder in den Blick. Nicht betrauertes, verschwiegenes und vertuschtes Leid begünstigt offenbar neue Katastrophen. Wiedemann skizziert zu Beginn des Buches die Verwicklungen und Verbindungen für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Den hatten die Siegermächte England und Frankreich auch deshalb gewonnen, weil sie Truppen aus ihren Kolonien in Afrika und Asien einsetzten.
Omar Sy, den meisten von uns eher durch Action und Komödien bekannt, hat sich des Themas in seinem aktuellen Film Tirailleurs angenommen:
Als diese Kämpfer in ihre Heimat zurückkehrten, hofften sie mit Recht, dass das erstrittene Selbstbestimmungsrecht der Völker demnächst auch für sie gelten würde. Aber ihre Unabhängigkeitsbestrebungen wurden brutal unterdrückt. Frankreich etwa setzte dafür die Fremdenlegion ein. Einen Großteil der Legionäre hatte man nach Kriegsende aus deutschen Kriegsgefangenen rekrutiert. So kam es dazu, dass viele Menschen aus den Kolonien, die Frankreich von Hitlers Truppen befreit hatten, von deutschen Söldnern im Auftrag ihrer Kolonialherren mit Kriegsverbrechen überzogen wurden. Sie erlebten genau das, was sie in Europa bekämpft hatten. Kein Wunder also, dass damals immer wieder Parallelen zwischen dem Algerienkrieg und dem Zweiten Weltkrieg gezogen wurden.
Um solche Verkettungen bewusst zu machen und hoffentlich auch zu unterbrechen, ist es wichtig, sich Rechenschaft zu geben über die „Ökonomie der Empathie“, wie Wiedemann es nennt. Da existieren vielfach blinde Flecken. Im Nachkriegsdeutschland haben wir so lange das eigene Leid in den Vordergund gerückt, dass die Aufarbeitung des Holocausts und deutscher Kriegsverbrechen erst nach Jahrzehnten in Gang kam. Nicht eingeschlossen waren lange Zeit russische Kriegsgefangene, noch etwas länger Sinti und Roma. Und mit den Verbrechen der Kolonialzeit haben wir Deutsche uns sehr viel mehr Zeit gelassen.
Das Gemeinsame all dieser Taten liegt für Wiedemann darin, „den Anderen … aus dem gemeinsamen Menschsein auszuschließen“. Wiedemann erinnert daran, dass es im Blick auf die Shoah eine innerjüdische Debatte zwischen Simon Wiesenthal und Elie Wiesel gab. Wiesenthal wollte die Erinnerung an das eigene Leid in dem Zusammenhang des Leidens anderer Gruppen und Ethnien stellen, Wiesel lehnte das ab und setzte seine Position durch, dass jeder Vergleich eine inakzeptable Relativierung dieses singulären Verbrechens darstellt. Aber Vergleiche werden ständig angestellt und nicht alle sind so empörend und unangemessen wie die Judensterne auf Querdenker-Demos.
Zur Mitte des Buches zieht Wiedemann eine Art Zwischenfazit mit einem Zitat von Fabian Wolff:
Nur wenn die Shoah nicht als hermetisch versiegelter Fakt außerhalb jeder Geschichte verstanden wird, sondern als radikalste Konsequenz einer gewalttätigen Aussonderung und Unterwerfung, als Teil von historischen Prozessen, die nicht 1933 begonnen und nicht 1945 aufgehört haben und in denen es nicht nur um Jüdinnen/Juden und Deutsche geht, kann die Erinnerung an sie die Grundlage dafür sein, dass Auschwitz nie wieder sein wird, egal für wen."
Der Bundestag erinnert diese Woche, 27 Jahre nach Einführung des Holocaust-Gedenktages, in seiner Feierstunde erstmals an die Gräueltaten gegenüber queeren Menschen. In der Aufarbeitung von Völkermord, Staatsterror und Totalitarismus muss die Anerkennung des Leids der unterschiedlichen Gruppen Betroffener jedes einzelne Mal mühsam erkämpft werden, schreibt Wiedemann. Sie erzählt dazu reichlich Beispiele. Wenn es aber einmal geschafft ist, wenn das Gedenken einen Ort und eine Gestalt bekommen hat, dann wundern sich alle, warum es so lange gedauert hat.
Ich bin gespannt, was die zweite Hälfte des Buches noch an Einsichten bringt.
„Du bist immer nur so glücklich wie dein am wenigsten glückliches Kind“. Mit diesem Fazit schließt die Fernsehserie „Bad Sisters“. Die ZEile ist bei mir hängengeblieben, nicht nur wegen der verrückten Geschichte, die dort erzählt wird. Sondern weil mir mit einem Schlag Situationen vor Augen standen, wo eins meiner Kinder krank, niedergeschlagen oder verzweifelt war. Und ich ziemlich hilflos.
Wahrscheinlich würden die meisten Eltern zustimmen, dass wir unsere Stimmung vom Glück und Unglück der eigenen Kinder schlicht nicht abkoppeln können. Und das Glück der glücklichen Kinder wiegt aus irgendeinem Grund den Kummer der unglücklichen nie völlig auf.
Ich habe mich gefragt, was das für Gott bedeutet: In der Bibel erscheint er immer wieder als fürsorglicher Vater und mitfühlende Mutter. Also jemand, der sich nicht immunisiert gegen menschliches Leid. Der ohne überlegen zu müssen sofort weiß, wie schlimm sich Armut, Krankheit, Einsamkeit und Hass anfühlen. Wie hält er das geballte Unglück eigentlich aus, das ihm aus dieser Welt täglich entgegenschlägt?
Vielleicht hat die Antwort zu tun mit dem anderen Verhältnis, das Gott zur Zeit hat. Ich sehe nur, was heute ist, und male mir die Zukunft aus in den Farben von Vergangenheit und Gegenwart. Manchmal, wenn sich alles eintrübt, ergibt das ein düsteres Bild. Gott sieht, was alles noch werden wird. Und vielleicht ist da so viel Gutes dabei, dass er mich – und nicht nur mich – schon jetzt lächelnd ansieht, wo längst noch nicht alles gut ist.
Als am vergangenen Samstag die Sonne aufging – ich war schon wach und hatte wenig geschlafen – war draußen alles von einer dicken Schneeschicht überzogen, die den Lärm der Stadt dämpfte. Die Stille, die über Nacht vom Himmel gefallen war, tat gut. Meine Gedanken gingen zurück zum Vortag, als sich die Familie am Totenbett meines Vaters im Forchheimer Klinikum versammelte. Zwei Tage zuvor sollte er noch entlassen werden, dann verschlechterte sich sein Zustand wieder. Meine Mutter und Schwester hatten ihn am Nachmittag noch besucht, dann war alles ganz schnell gegangen.
Aber sie hatten sich noch einmal gesehen. Und ihm ein Bier mitgebracht, das hatte er sich gewünscht. Und zwei Wochen zuvor hatte er mit Freunden noch einmal Unterlaimbach besucht, den Ort seiner Kindheit. Väter und Söhne, Vergangenheit und Zukunft. Ich erinnerte mich an „In the Living Years“ von Mike Rutherford und B.A. Robertson. Ein Song über eine verfahrene Vater-Sohn-Beziehung und einen verpassten Abschied. Da heißt es:
„Ich weiß, ich bin ein Gefangener all dessen, was meinem Vater am Herzen lag, ich weiß, ich bin eine Geisel seiner Hoffnungen und Ängste.“
Wir müssen uns alle mit dem auseinandersetzen, was unsere Eltern an- und umgetrieben hat. Das prägt uns als Kinder, bevor wir es reflektieren können. Freilich, ein Gefängnis muss es nicht zwingend sein (oder bleiben). Werfen wir also zusammen einen Blick auf das, was ihm am Herzen lag. Ich möchte das unter ein Wort aus dem 2. Timotheusbrief stellen:
Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue gehalten. (2.Tim 4,7)
Beginnen wir mit der Treue
Mein Vater Udo war ein konservativer Mensch. Er lebte in dem Bewusstsein, dass ihm ein Erbe anvertraut war, das es zu bewahren gilt. Den Vätern und Müttern, Kindern und Enkeln gegenüber empfand er eine Verpflichtung. Die eigene Person machte er demgegenüber nur selten und zögernd zum Thema. Fragen nach seinen Gefühlen beantwortete er oft, indem er auf Sachthemen auswich. Je nach Tonlage dieser Exkurse konnte ich dann rückschließen, ob es ihm eher gut ging oder schlecht. Dann wieder gab es seltene Momente der Rührung, gern in Gottesdiensten, wo er sich eine Träne aus den Augen wischte und ihm die Stimme stockte. Aber insgesamt hatte er eine Scheu vor dem Subjektiven, das er für unzuverlässig hielt. Meine Kinder verblüffte er mit der Aussage, er lese keine Romane (und erst recht keine Fantasy-Literatur, die sie meterweise verschlangen), das sei doch alles „erstunken und erlogen“.
Das Konservative, die Suche mit der Vernunft nach dem Objektiven, hatte er von seinem Vater. Die beiden haben am gleichen Tag Geburtstag. Er kam 1938 als zweites Kind auf die Welt, was bedeutete, dass der Platz an Muttis Seite im elterlichen Bett vom großen Bruder schon belegt war, und er beim „Vati“ Unterschlupf fand.
Den Vätern und Vorfahren also galt sein Eifer mit zunehmender Tendenz. Er litt, wie wir scherzhaft sagen, am „Buirette-Syndrom“: Seine Enkel beglückte er mit Büchern über Jung-Stilling oder eben den Hugenotten Isaac Buirette von Oehlefeldt, der Ende des 17. Jahrhunderts in Erlangen ein Palais und eine Brauerei errichtete und dessen Familie als Wohltäter der Erlanger Neustadt in die Geschichte einging. Die Buirettes sind in der Altstädter Kirche beigesetzt, in der meine Eltern (freilich ohne das schon zu wissen) 1964 geheiratet haben. Meine Mutter hatte ihr Abitur im Marie-Therese-Gymnasium gemacht, das die Geschwister Vömel (Ur-Urgroßtanten meines Vaters, auch das wussten die beiden damals noch nicht) gegründet hatten.
Ahnen, Erbe und Geschichte, Erlangen ist voll davon…
Ich habe den Lauf vollendet
Für einen konservativen Menschen ist der Lauf der Zeit, der Fortschritt, die Bewegung und das Neue eine zwiespältige Sache. Als Vor-Achtundsechziger waren ihm revolutionäre Brüche und Tendenzen eher suspekt. Wie weit darf man sich von den Wurzeln entfernen? Neugier hilft, die hatte ihn schon zum Theologiestudium gebracht. Er wollte sich sein eigenes Bild machen von Gott, Gottes Willen und Reich. Er wollte der Wahrheit auf den Grund gehen. Die Wurzeln freilegen. Und damit war er nie fertig. Aus dem Studium hat er von Günter Bornkamm und Edmund Schlink erzählt, im Ruhestand hat er dann Moltmann gelesen, mit der Allversöhnung geliebäugelt und sich für die Umwelt-Enzyklika „Laudatio Si“ von Papst Franziskus begeistert. Und als der Konservativismus in Deutschland unter Horst Seehofer fremdenfeindlich wurde, wählte er grün. Die Erde muss vor der Zerstörung bewahrt werden, und das Recht der Schwachen gegenüber den Starken gewahrt.
Er hat sich etwas sagen lassen, er hat Positionen überdacht und verändert. Das unterscheidet ihn von jenen sprichwörtlichen, dauergekränkten „alten weißen Männern“, die keinen Widerspruch ertragen und ständig in aller medialen Öffentlichkeit darüber klagen, dass ihre Meinung – und natürlich sprechen sie immer für die schweigende Mehrheit! – angeblich unterdrückt wird.
Für einen Menschen seiner Generation hat er einen weiten Weg zurückgelegt. Und jetzt ist der lange Lauf vollendet. Andere sind in seine Fußstapfen getreten und nun schauen wir, wohin uns der Geist Gottes und der Zustand der Welt ruft und treibt.
Ich habe den guten Kampf gekämpft
Der Kampf, von dem Paulus schreibt, ist kein Krieg. Eher ein Ringkampf oder Wettkampf. Etwas Sportliches, so wie der Langstreckenlauf, den wir gerade hatten. Nun war mein Vater kein passionierter Sportler, außer dass er am Samstag seine Sportschau sehen wollte. Er war eher gemächlich unterwegs, die legendären Radtouren aus seiner Jugendzeit vielleicht ausgenommen.
Über den jungen Udo verfasste 1959 eine Graphologin – ich vermute im Auftrag seiner Mutter, die ein Faible für solche Dinge hatte – ein hochgradig spekulatives „Charakterbild“ aufgrund einer Schriftprobe. Ich fand es gestern zufällig. Neben manchen schwurbeligen Passagen las ich dort Sätze, die beim Lesen eine gewisse Resonanz hervorriefen:
„Er geht vorsichtig über die Erde, bildlich gesprochen – verbirgt sich ganz gerne, um umso besser die Wirklichkeit sehen und hören zu können.“
„Seine Natur versteht sich enorm einzuschränken, was materielle Bedürfnisse anbelangt. Und es schadet ihm nicht im Geringsten. Er lebt genauso glücklich, als wenn er in besonderer Wohlhabenheit dahinleben würde“.
„Sein Gerechtigkeitssinn ist gut entfaltet. Er selbst steht sich selbst gut beobachtend gegenüber, aber ohne Zwang. Das macht ihn aufgelockert und zugänglich zur Umwelt.“
„Er erfährt jeden atmosphärischen Druck und Gegendruck, weil er ungemein sensibel im Dasein steht … Er bedarf eines guten Bodens, geistig gesprochen. Und wo er diesen entbehren muss, sinken seine Kräfte.“
Und: „Er hat die Fähigkeit, sich mit dem Göttlichen zu verbinden, ohne das selbst zu wollen. Er ist dafür geboren.“
„Sportlich“ und robust in der Sache war sein Diskussionsstil. Er konnte Redebeiträge und Meinungen anderer schon mal als „Unfug“ vom Tisch wischen. Seine Schwiegermutter hat das Diskutieren der Aschoffs immer als Streiten missverstanden und gescheut, dabei ging es ihm nie um ein Zerwürfnis, sondern strikt um die Sache. Freilich – das Wetteifern und Konkurrieren lag schon auch ein bisschen an der Herkunftsfamilie.
Wer zu früh kommt…
Wahrscheinlich aber haben viele beim Stichwort „Kampf“ an den Kirchenstreit gedacht, in den er vor knapp 30 Jahren hineingeraten war. So richtig hochgekocht ist alles durch einen „Offenen Brief an die Kirche“, den mein Vater schrieb. Seine Vorschläge von damals würden heute keine großen Wellen schlagen. Ein paar Zitate:
„Offensichtlich ist die Struktur des alten volkskirchlichen Angebots an eine Grenze gekommen, die eine Überprüfung und Ergänzung notwendig erscheinen lässt.“ Oder „Die Einheit der Kirche besteht nicht in einer möglichst großen Übereinstimmung in liturgischen oder organisatorischen Formen, sondern in dem einen Herrn Jesus Christus“. Er warb für unterschiedliche Prägungen und Profile in bestehenden und noch zu gründenden Gemeinden.
Vor einem Monat entfaltete Uta Pohl-Patalong vor den Nürnberger Pfarrer:innen ihre Vision von Kirche und sprach dabei von „Kirche als Netz unterschiedlicher kirchlicher Orte“, über „spirituelle Ausstrahlungskraft“ und eine „Kultur des Experiments, der Wertschätzung und der Fehlerfreundlichkeit“. Und die ganze Landeskirche übt sich, passend dazu, in „Profil und Konzentration“. Damit hätte er gut leben können.
Aber vor 30 Jahren waren wir noch nicht so weit. Das Leben bestraft nicht nur den, der zu spät kommt, sondern auch den, der zu früh kommt. Wenn man zu früh mit einer Idee um die Ecke kommt, muss man sehr empathisch und diplomatisch sein. Und das war er nie. Seine Sprache war unverblümt, seine Neigung zu Ironie und Provokation kam nicht bei allen gut an, und übertriebenen Respekt vor Autoritäten konnte man ihm auch nicht nachsagen. In der Landeskirche tobte gerade ein heftiger Streit zwischen „Liberalen“ und Konservativen, auch diese Begleitmusik war nicht hilfreich. Aber die Forderung nach einer Liberalisierung der monolithischen Kirchenstruktur entstammte seinem konservativen Impetus: Es ging ihm um die Rettung der Kirche vor Bedeutungslosigkeit und Verfall.
Aber die Volkskirche wollte gar nicht gerettet werden. Viele sträubten sich kurz nach der Wende noch gegen die Erkenntnis, dass die Zeit stabiler Mitgliederzahlen und selbstverständlicher gesellschaftlicher Geltung zu Ende gehen könnte. Und in der Kirchengemeinde löste der offene Brief bei einigen die Sorge aus, dass der erste Pfarrer hier eine Trutzburg charismatischer Frömmigkeit errichten wollte, in der für nichts anderes mehr Platz ist. Das hatte mein Vater nicht kommen sehen, und die heftigen Reaktionen allenthalben trafen ihn unvorbereitet. Sich zu erklären oder gar zu verteidigen, fiel ihm schwer. Kränkungen und Verletzungen gab es damals auf allen Seiten, doch während andere dabei weitgehend anonym blieben, haftete ihm als öffentlicher Person der Makel des „Umstrittenen“ und der mit seinem Namen verbundenen Spaltung lange an. Druck und Gegendruck, sinkende Kräfte.
Er selbst wäre – auch das hatten viele nicht verstanden – am liebsten Gemeindepfarrer geblieben. In den ersten Jahren bei ELIA hat er für mein Gefühl immer noch zu seiner Brucker Gemeinde gepredigt. Es war dann ein weiter Weg, bis die Verletzungen verheilt und die neue Rolle gefunden war. Die klassische charismatische Führungsgestalt, die emotionalisiert und mitreißt, das war er ja alles gar nicht. Auch das war eine harte Landung. Aber aus aller Verletztheit ging er am Ende nicht verbittert hervor. Die Opferrolle ist nicht an ihm hängengeblieben und er nicht in ihr. Das haben viele, die ihn von früher kennen, nicht mehr mitbekommen. Und deswegen ist es wichtig, davon jetzt noch zu erzählen.
Der Freiräumer
Ich muss noch einmal auf die Treue zu sprechen kommen. Mein Vater war – abgesehen von Theologie und etwas Politik – eigentlich gar nicht der Typ fürs Streiten. Um der Harmonie und des Friedens willen konnte er gut zurückstecken. Ins Leben von uns Kindern mischte er sich selten direktiv ein, er respektierte unsere Vorstellungen und Eigenarten. Meine Schwester Andrea hat es treffend formuliert:
„Du warst nachgiebig und freundlich, Du hast es nicht nötig gehabt, Schwächen zu vertuschen, und du hast Deine Stärken nicht an die große Glocke gehängt. Du warst bescheiden, humorvoll und belesen.“
Er war nicht der große Mentor, der andere an der Hand nimmt, und „Empowerment“ gehörte nicht zu seinem aktiven Wortschatz. Aber er war ein Freiräumer, der Platz schafft und lässt, den andere füllen können. Und das ist manchmal Gold wert. Ob Familie oder Gemeinde: Er fiel dir nicht in den Rücken, stattdessen hielt er ab und zu den Kopf für dich hin.
Bei ELIA war er, um der Nachwuchsförderung willen, viele Jahre lang ein äußerst großzügiger Spender. Auch da hat er sich bewundernswert zurückgenommen. Er hat Musikstile ertragen, die seinem ästhetischen Empfinden und seinem nachlassenden Gehör einiges zumuteten. Er hat unsere Experimente und alle Ideen, die nicht seine eigenen waren, nicht mit Unkenrufen und Besserwisserei torpediert. Und die Missionsprojekte mit Feulners in Yalova und Bine Vogel in Peru hat er stets mit herzlicher, intensiver, in fürbittendes Gebet getränkter Anteilnahme begleitet.
Und dann kamen da, eines nach dem anderen, die zwölf Enkel gepurzelt. Gern hat er mit ihnen Ausflüge gemacht (oft zur Erweiterung des Geschichtsbewusstseins), immer wieder war er als Babysitter gefragt, später dann als Latein-Nachhilfelehrer und schließlich stieg er als Pensionär auch noch in die Studienförderung ein, als die ersten die Schulen verließen. An den Höhen und Tiefen ihres Lebens hat er aufmerksam, zurückhaltend und immer wohlwollend Anteil genommen. Und über das letzte Jahr hat er sich gefreut, dass nun drei Urenkel mit im Haus wohnen.
So sind wir heute hier und betrachten sein Erbe. Eines, das nicht zur Last zu werden droht, weil es in Güte, Bescheidenheit, Mut und Großzügigkeit besteht. Er hat das unverwechselbar verkörpert und wir vermissen ihn. Aber es ist eben auch viel da, das gibt uns Hoffnung. Und ein paar Bilder werden unvergessen bleiben:
Wie er im Garten sitzt und ein Buch liest, während irgendwo Enkel und Urenkel spielen
Wie er seinen Ofen anschürt und sich die Flammen in seinem Gesicht widerspiegeln
Wie er seine Hasen versorgt
Wie er die vielen Kerzen bei „Gott im Berg“ früh anzündet und abends wieder ausbläst
Irgendetwas wird es auch im Himmel zum Anzünden geben. Da bin ich mir sicher.
Als der Prophet Nathan im Alten Testament einmal König David besucht, sagt er zu ihm: „Wenn sich deine Tage vollenden und du dich zu deinen Vorfahren legst…“ Diese Vorstellung hätte ihm gefallen. Die Tage und mit ihnen ihr Tagwerk sind vollendet. Die Ruhe beginnt. Und er ist bei denen, die uns vorausgegangen sind.
Hitzefrei. Alle, die wie ich im letzten Jahrtausend zur Schule gegangen sind, erinnern sich noch daran: Wie es im Lautsprecher knackst und die heiß ersehnte Durchsage durch Flure und Klassenzimmer hallt, dass die beiden letzten Schulstunden heute entfallen. Dann der vielstimmige Jubel, der unter den Schulkindern ausbricht. Wer kommt mit ins Bad? Gehen wir direkt – ich habe meine Schwimmsachen schon dabei? Momente reinsten Schülerglücks. Aber seltene Momente – kaum mehr als eine Handvoll Tage jeden Sommer waren damals warm genug.
Vielleicht kam deshalb der alte Ohrwurm von Rudi Carrell so gut an:
Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? Ein Sommer, wie er früher einmal war. Mit Sonnenschein von Juli bis September. Und nicht so kalt und so verregnet wie im letzten Jahr.
Noch heute warte ich darauf, dass die Radiosender spätestens am zweiten feuchtkalten Julitag den Evergreen aus dem Regal kramen. Aus ihm spricht die Mentalität von Menschen in gemäßigten Breiten, die es gewohnt sind, im Sommer Badeurlaub im Süden zu machen: Warm ist gut. Wärmer ist besser. Der Winter kommt früh genug.
Inzwischen ist all das eingetroffen, was in den Siebzigern verklärte Erinnerung oder blumige Hoffnung war. Die 40 Grad, die wir erst vor kurzem hatten, und monatelange Dürren entpuppen sich allerdings als Albtraum. Was Carrell besingt, ist mit beschönigenden Worten wie „Wetterkapriolen“ oder „Jahrhundertsommer“ nicht angemessen beschrieben. Es ist kein „richtiger Sommer“, sondern ein falscher, ein nie dagewesener. Wir erleben Extremwetter, das allen Lebewesen massiv zusetzt. Von Griechenland bis Großbritannien, von Spanien bis Dänemark Hitzerekorde, Flächenbrände, Ernteausfälle, Wasserknappheit. Der Mai brachte an die 50 Grad Hitze in Indien und im vergangenen Jahr gab es ähnliche Extreme im vermeintlich kühlen Kanada. Ich wohne in Nürnberg, und da war das letzte Vierteljahr zweieinhalb bis dreieinhalb Grad wärmer als zu Rudis Zeiten. Der Rasen in den Parks ist gelbbraun und die ersten Bäume werfen schon Blätter und Früchte ab.
Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? Ein Sommer, wie er früher einmal war: Mit Regen für die Gärten und die Felder. Und nicht so trocken und so staubig wie in diesem Jahr.
Szenen, die zu Herzen gehen
Es gibt in der Bibel eine Extremwettergeschichte. Sie ist nicht besonders bekannt, weil das für uns lange kein Thema war und weil wir lieber die schönen Sachen lesen, nicht die schwierigen. Aber vielleicht hat diese Geschichte uns mehr zu sagen, als es auf den ersten Blick erscheint. Wir finden sie beim Propheten Jeremia im 14. Kapitel:
Das Wort des Herrn erging an Jeremia wegen der großen Dürre: Juda ist ausgedörrt; seine Tore verfallen, sie sinken trauernd zu Boden und Jerusalems Klageschrei steigt empor.
Die Vornehmen schicken ihre Diener nach Wasser; sie kommen zu den Brunnen, finden aber kein Wasser; sie kehren mit leeren Krügen zurück.
Die Bauern sind um den Ackerboden besorgt; denn es fiel kein Regen im Land. Sie sind bestürzt und verhüllen ihr Haupt.
Selbst die Hirschkuh im Feld lässt ihr Junges im Stich, weil kein Grün mehr da ist. Die Wildesel stehen auf den kahlen Höhen; sie schnappen nach Luft wie Schakale. Ihre Augen erlöschen; denn nirgends ist Gras.
Der Berichterstatter dieser großen Dürre ist Jeremia. Er spricht im Namen Gottes, aus göttlicher Perspektive. Und macht das ganz anders als ich es eben getan habe und als unsere Nachrichtenredaktionen es derzeit täglich melden. Keine abstrakten Zahlen, Messwerte, Diagramme. Keine Informationen nur für den Kopf, sondern Szenen, die zu Herzen gehen.
Da sind die Vornehmen, die es sich leisten können, im kühlen Haus zu bleiben, und ihre Diener mit der schweißtreibenden Aufgabe losschicken, Wasser aus den Brunnen zu holen. Aber die Krüge blieben leer. Betretene Gesichter bei den Herrschaften und dem Gesinde. Wenn nichts mehr da ist, was man kaufen kann, ist auch das Geld nichts mehr wert.
Sorgenfalten auf der Stirn der Bauern, die vergeblich den Horizont nach Regenwolken absuchen. Die Feldfrüchte vertrocknen, der heiße Wind bläst den fruchtbaren Mutterboden davon, den kein Grün mehr bedeckt. Auch wenn wieder Regen kommt, die nächsten Ernten werden schlechter ausfallen.
Der Katastrophe schutzlos ausgeliefert sind die Wildtiere. Die Wildesel hecheln, um dem drohenden Hitzetod gerade noch zu entgehen. Wälder, die brennen könnten, gibt es schon keine mehr. Und die Hirschkuh findet keine Nahrung für sich und ihr Kalb. Sie lässt es zurück und es verendet. Wie verzweifelt muss sie sein?
Nicht nur Bäume und Sträucher welken dahin, sogar die Stadttore und Befestigungen in Jerusalem und Umgebung hängen schlaff in den Angeln und haben ihre Wehrhaftigkeit verloren. Und die Leserin ahnt schon: Auf die Dürre folgt der Hunger folgt der Krieg. Wie so oft in der Geschichte.
Klage und Trauer sprechen aus dem folgenden Lied von Tracy Chapman: Mutter Erde, auf der wir alle geboren wurden, wird vergewaltigt. Und wir sehen tatenlos zu. Der Anfang vom Ende, die größte Todsünde.
Was hier geschieht, zerreißt auch Gott das Herz. Er ist kein unbeteiligter Zuschauer, er sitzt nicht in der himmlischen Wetterzentrale und schaut auf seine Anzeigen von Temperatur, Wind und Niederschlag. Mitfühlend, mitleidend. Heiße Tränen im Gesicht, kein kaltes Lächeln. Gott sagt von sich selbst:
Meine Augen fließen über von Tränen bei Tag und bei Nacht und finden keine Ruhe. Denn großes Verderben brach herein über … mein Volk, eine unheilbare Wunde.
Was empfand Gott, als im Juni die Mauersegler in Spanien tot vom Himmel fielen, weil die eleganten Flieger – aus Afrika zurückkehrend! – die Gluthitze in Europa nicht verkraften?
Was sagt er zu den Sorgen der Bauern in der Po-Ebene, die ohnmächtig zusehen müssen, wie ihre einstmals satt grünen Äcker vertrocknen, weil Italiens mächtigster Strom in diesem Sommer kaum noch Wasser führt?
Fühlt er mit den Dorfbewohnern in der Toskana, die Rauchschwaden und Feuerwalzen auf ihre Häuser zukommen sehen und sich nur noch ins Meer flüchten können?
Mit den Familien der Bergsteiger, die kürzlich beim Abbruch des Marmolata-Gletschers in den Dolomiten den Tod fanden?
Geht ihm das Fischsterben im Main und in vielen seiner Nebenflüsse nahe, oder… oder … ich weiß gar nicht, wo ich aufhören soll, bei so vielen bedrückenden Meldungen in jüngster Zeit.
Warum so apathisch?
Aber wie kann es sein, dass wir tagein, tagaus solche Nachrichten hören und, so lange es uns nicht – noch nicht! – direkt trifft, weder Tränen in den Augen haben, noch ernsthaft und schonungslos fragen, was das mit uns zu tun hat und was jetzt sofort anders werden muss?
Hubert von Goisern hat, wie ich finde, den heimlichen Sommerhit der letzten Jahre mit all den Bränden, Hitzewellen und Flutkatastrophen geschrieben: „Jeder weiß, dass Geld nicht auf der Wiese wächst. Und essen kann man’s auch nicht, aber es brennt gut. Aber heizen tun wir mit Weizen, Rüben und Mais. Wenn wir noch lange so weiterheizen, brennt der Hut.“
„Samma Christ, hättma gwisst, wo der Teife baut im Mist“ – Menschen, die mit Gott im Bunde sind, könnten, ja sollten eigentlich den Mist durchschauen. Und klar all die zerstörerischen Verhaltensweisen und Gewohnheiten beim Namen nennen, anstatt sie zu beschönigen oder zu vertuschen. Denn dass es immer irgendwo brennt, haben meistens wir selbst zu verantworten. Und wenn wir Europäer sogar den knappen Weizen zu Sprit verarbeiten, mit dem wir unsere Autos betanken und durch die Gegend heizen, dann brennt der Huat völlig zu Recht.
Der Journalist Bernhard Pötter wunderte sich als Kind darüber, dass die Bauern in Südtirol, wo seine Eltern mit ihm Urlaub machten, um Regen beteten. Er war ja wegen der Sonne gekommen. Aber was heute passiert, ist nicht weniger wunderlich, findet er. Es hat mit einem handfesten Aberglauben zu tun:
»Voller Stolz und emanzipatorischer Kraft ruinieren wir die natürlichen Kreisläufe, in denen wir stecken und von denen Bauern und Indigene noch eine Ahnung haben. Unsere Hybris heißt Hybrid, unser Glaube nennt sich Kredit. Unsere Hoffnung steckt im DAX, unsere Kathedralen stehen in Dubai und unsere Hohepriester tragen Slim-fit-Anzüge. Sie lachen über die Theologie der Jungfrauengeburt oder traditionelle Rituale – und glauben doch selbst an den Götzen des ewigen Wachstums.
Und dann, wenn es schiefgeht (also: genau jetzt), stehen wir oberschlau da und haben auch keine Ahnung, wie es weitergeht. Und wir tun, was wir seit Jahrtausenden tun: auf Regen hoffen. So viel zum Triumph der Aufklärung»
Bernhard Pötter: „Aufklärung heißt: Da hilft nur hoffen.“ taz vom 24.6.2022, S.9
Es gibt also eine religiöse oder spirituelle Dimension der Klimakrise: Den folgenschweren Glauben an den „Götzen des ewigen Wachstums“. Der hat seine Verehrer in gewisser Hinsicht reich gemacht, aber nun fordert er einen verheerenden Preis dafür ein.
Kann er nicht oder will er nicht?
Mitten in der tödlichen Dürre versuchen die Zeitgenossen des Jeremia, Gott umzustimmen. Schließlich ist er Herr über das Wetter.
Unsre Sünden klagen uns an. Doch um deines Namens willen handle, o Herr! Ja, zahlreich sind unsre Vergehen; gegen dich haben wir gesündigt. Du, Israels Hoffnung, sein Retter zur Zeit der Not, warum bist du wie ein Fremder im Land und wie ein Wanderer, der nur über Nacht einkehrt? Warum bist du wie ein ratloser Mann, wie ein Krieger, der nicht zu siegen vermag? Du bist doch in unsrer Mitte, Herr, und dein Name ist über uns ausgerufen. Verlass uns nicht!
Irgendetwas muss diese Dürre in Juda mit dem Verhalten der Menschen zu tun haben. So viel scheint klar. Doch das Eingeständnis der Schuld bleibt vage: Ja klar haben wir dich vor den Kopf gestoßen Gott. Tut uns leid. Aber jetzt bist Du am Zug. Vergeben ist schließlich dein Beruf. Denk’ an dein Image: Du bist doch unser Nothelfer, Retter, Feuerwehrmann und Sanitäter. Warst du schon immer. Was ist los mir dir? Bist du müde geworden? Hast du das Interesse verloren? Kannst du nicht oder willst du nicht helfen?
Eigentlich möchten sie gern weitermachen wie bisher. Aber Gott hat das ewige Ausputzer-Dasein satt. Dieses ungutes Muster, das sich in die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk eingeschlichen hat, muss unterbrochen werden. Ein ums andere Mal ist sind die Judäer den Götzen der Wohlstandsreligion auf dem Leim gegangen. Schwamm drüber hilft da nicht mehr weiter. Gott sagt zu Jeremia: „Bete nicht um das Wohlergehen dieses Volkes“. Ein neuer Anfang muss her zwischen Gott und den Seinen. Und das bedeutet auch das Ende einer Epoche: Das Königtum, die Dynastie Davids, seine stolze Hauptstadt, der prächtige Tempel sind Geschichte. Sie werden untergehen.
Wie ist das mit uns? Sollten wir heute in Kirchen, Synagogen und Moscheen für Regen beten? Sollten wir Gott dazu bewegen, wundersam den kosmischen Thermostat herunterzudrehen, damit alles so weitergehen kann – die Profite, das Plündern des Planeten, die Billigflüge fürs Volk und die Privatjets der Eliten?
Auch wir erleben das Ende einer Epoche. Das Erdzeitalter des Holozän geht zu Ende. 12.000 Jahre lang, seit der letzten Eiszeit, hatten wir stabile klimatische Verhältnisse. „Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter“ wechseln sich in einem verlässlichen, lebensfördernden Rhythmus ab. So kennt es die biblische Urgeschichte.
Der große Naturfilmer David Attenborough sagte 2019 beim Weltwirtschaftsforum: „Den Garten Eden gibt es nicht mehr“. Frost und Hitze sind zwar noch da, aber längst nicht mehr, was sie früher einmal waren. Das „ewige Eis“ der Polkappen schmilzt schneller dahin, als die Pessimisten unter den Klimaforschern es erwartet hatten. Die Luftströmungen, die Sonne und Regen im Wechsel brachten, haben sich verschoben. „Richtig Sommer“ und „richtig Winter“ wird es künftig nur vereinzelt geben. Und nicht jede Saat wird eine Ernte erleben.
Das ist auch ein „Erfolg“ unserer Zivilisation: Wir wollten uns von den Launen der Natur unabhängig machen, und das haben wir geschafft. Nun ist die Natur unseren Launen ausgesetzt und sie reagiert immer heftiger auf den Stress. Das „Anthropozän“ hat begonnen, der Mensch hat die Erde aus dem Gleichgewicht gebracht, und es wird viel mehr als Hitzefrei und Blühwiesen vor der Kirche brauchen, um uns an die extremen Bedingungen anzupassen. Eine „unheilbare Wunde“ droht, um es mit Jeremia zu sagen.
Es sind schon ganze Zivilisationen wegen geringerer Probleme zusammengebrochen. Kurz: Die Klimakrise bedeutet zwar nicht das Ende der Welt, aber möglicherweise der stabilen Welt, die wir kennen. Der Welt, wie sie früher einmal war.
Eine radikale Hoffnung
Der Prophet Jeremia hat sich für seinen Abgesang auf die Zeit der Könige eine Menge gehässiger Kritik anhören müssen. Aber es kam alles so, wie er gesagt hatte.
Ich kann mir gut vorstellen, dass einige mittlerweile ungeduldig fragen: Wo bleibt in all der Düsternis bloß das Evangelium, die frohe Botschaft? Ist Kirche nicht dazu da, Hoffnung zu verbreiten?
Im Prinzip ja.
Aber…
… manchmal ist eine falsche Hoffnung schlimmer als keine Hoffnung. Und oft führt der Weg zu neuer Hoffnung erst durch die Verzweiflung: Die Verzweiflung des babylonischen Exils, durch die die Zeitgenossen des Jeremia hindurchmüssen. Die Trauer um einen geliebten Menschen. Verzweiflung wegen einer niederschmetternden ärztlichen Diagnose. Der Makel des Scheiterns. Oder die Verzweiflung durch die Jesus von Nazareth hindurchgeht im Kreuzestod, im dunklen Grab. Mitten durch die Tragödie, nicht daran vorbei oder leicht und locker darüber hinweg.
Klimaaktivist:innen haben in den letzten Jahren hitzig darüber debattiert, ob man öffentlich sagen sollte, dass wir die Kurve vielleicht nicht mehr rechtzeitig kriegen und dass die Mehrzahl der Kipppunkte inzwischen schon überschritten sein könnte. Die einen fürchten, dass das auch noch die letzten zarten Bemühungen erstickt, das Schlimmste noch zu verhindern. Andere plädieren für eine „radikale Hoffnung“, die dem Realitätsschock nicht ausweicht. Freilich – die Hoffnung aufzugeben, dass alles wird, „wie es früher einmal war“, erfordert einen inneren Wachstumsschritt. Doch nur so entsteht Raum für neue Hoffnung. Sie lässt sich nicht aus dem brennenden Hut zaubern, sie muss wachsen.
Genau das erleben Jeremia und sein Volk. Aus dem Königreich Juda wird im babylonischen Exil das Judentum. Eine geistlich und theologisch enorm produktive Zeit beginnt. Schriften werden verfasst und gesammelt, aus denen allmählich die Bibel entsteht. Jüdische Gemeinschaften breiten sich in den folgenden Jahrhunderten über den gesamten Mittelmeerraum und vorderen Orient aus. Sie blühen auf und überstehen neue Wunden. Bis heute.
Radikale Hoffnung im Anthropozän. Ich suche sie, indem ich mich an Jesus halte, den Gekreuzigten. Dann muss ich die Augen vor dem unvermeidlichen Ende der stabilen Welt nicht mehr verschließen. Und kann meinen Anteil daran anerkennen, egal wie klein oder groß. Vieles wird schwerer werden, manches viel schwerer. Ich kann lernen, mit Gott zusammen zu weinen über die Tragödien, die sich auf der Erde abspielen. Darin ist er mir nahe, genauso wie in den schönen Erfahrungen. Und das Mitempfinden bringt mich in eine tiefere Beziehung zu seiner Schöpfung: Sie ist so viel mehr das Rohstofflager und die Freizeitkulisse, die unsere moderne Welt daraus gemacht hat. Voller lebendiger und fühlender Wesen ist sie – allesamt Leidensgenossen, aber auch Verbündete.
Für Kirchen und Gemeinden könnte es bedeuten, dass wir einander fragen: Was ist uns wirklich wichtig und wie können wir das durch den Umbruch hindurch bewahren? Was müssen wir jetzt aufgeben, damit die Tragödie, die auf uns zukommt, nicht noch größer wird? Welche Fertigkeiten, die wir dann brauchen, haben wir verlernt, und wer bringt uns das wieder bei? Und mit wem sollten wir uns angesichts unserer Sterblichkeit und Endlichkeit aussöhnen und Frieden schließen?
Hand in Hand bilden wir dann eine Rettungsgasse zwischen der Apathie auf der einen und der Panik auf der anderen Seite. Und die sanfte, schöpferische Hand Gottes ist immer im Spiel. Damit die Dunkelheit nicht das letzte Wort hat.
Multiple, sich überlagernde und gegenseitig verschärfende Krisen sind das Kennzeichen des 21. Jahrhunderts. Die großen Kirchen sind in ihrer institutionellen Form Geschöpfe des 20. Jahrhunderts und kommen erst allmählich in dieser Realität an. An vielen Stellen sind wir zudem noch mit unseren eigenen, internen Krisen beschäftigt. Nicht alle sind begeistert von der Idee, sich in die hitzigen Debatten einzumischen und Position zu beziehen.
Und selbst wenn, es bleibt noch die Frage, was unser Beitrag sein könnte oder sollte. Auch da liegen die Einschätzungen zum Teil weit auseinander. Hier werfe ich einen Blick auf die beiden Pole. Es gibt freilich viel dazwischen, aber diese Mitte ist, wie ich zeigen möchte, auch alles andere als golden.
Die Ausgangslage
Auch wenn der Ukrainekrieg gerade fast alles überlagert, die Nachrichten von der Klimafront müssten uns noch viel mehr Sorgen machen. Hier ein paar Schlaglichter der letzten Wochen:
Der Bundeskanzler bemüht einen NS-Vergleich, als er von Klimaaktivist:innen auf das Versagen seiner Regierung beim Klimaschutz angesprochen wird. Disruption (auch in dieser zahmen Form der – sachlich begründeten – Unterbrechung seiner Rede auf dem Katholikentag) macht den unterkühlten Scholz erstaunlich aggressiv. Und genau wegen dieser merkeligen Abneigung gegen alles vermeintlich Radikale hatten Deutschlands Bürger ihn ja auch gewählt. Aber wenn man „Maß und Mitte“ absolut setzt (Mittelmaß ist ja das bürgerliche Credo), ist der Handlungsspielraum erschütternd begrenzt.
Team Regenbogen
Im Team Regenbogen denkt man: Schlechte Nachrichten gibt es in der Welt mehr als genug, Christen müssen Hoffnung verbreiten. Also konzentrieren wir uns auf das Gute, das geschieht, und weniger auf das Bedrohliche und Deprimierende. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Wir betonen die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, die ganz am Ende der Bibel steht, oder wir gehen ganz an den Anfang der Bibel und betonen die Treue Gottes zu seiner Schöpfung in der biblischen Urgeschichte. Als fest etabliertes Gegenbild zum Klimakollaps dient dann meist der Regenbogen. Gott hat ja versprochen, dass nicht alles den Bach runtergeht. Wer hingegen alarmistisch agiert, verrät damit nur den eigenen Unglauben. Und wenn er/sie auch noch emotional wird, stört die „Hysterie“ den Seelenfrieden, den zu verbreiten unser Auftrag ist.
Ob der Regenbogen, der einem Wolkenbruch häufig vorausgeht oder folgt, für die Flutopfer im Ahrtal (oder sonst irgendwo auf der Welt) noch irgendwelche tröstlichen Gefühle bereithält, wäre erst noch zu verifizieren. Und mit dem Verweis auf die Neuschöpfung lässt sich das milliardenfache Leid, das die Erdüberhitzung in den kommenden Jahrzehnten mit sich bringen wird, ähnlich elegant überspringen wie mit dem Hinweis, dass „die Natur“ den menschengemachten Kollaps freilich überleben wird – nur halt die Spezies Homo Sapiens (und ein paar hunderttausend andere) nicht. Zudem macht die Ewigkeitsperspektive (egal ob theistisch oder atheistisch) den immensen Zeitdruck unsichtbar, unter dem wir fünf Jahre vor einem wahrscheinlichen Point of no return stehen.
Billige Hoffnung?
Könnte es analog zu Bonhoeffers „billiger Gnade“ auch eine billige Hoffnung geben? Sie wäre billig, wenn sie sich an der aufreibenden Konfrontation mit den gewaltigen Kräften des „Weiter so“ vorbeimogelt. Sie wäre billig, wenn sie vertröstet und dabei verharmlost, was Menschen jetzt schon und künftig das Leben zur Hölle macht.
"Sie heilen den Schaden meines Volks nur obenhin, indem sie sagen: »Friede! Friede!«, und ist doch nicht Friede."
Diese Klage des Jeremia gegen das Abwiegeln der Priester und Tempelpropheten ging mir in den letzten Wochen immer wieder durch den Kopf, als ich so manches „wir-haben-Putin-unterschätzt“-Bekenntnis las. Die Folgen dieser Fehleinschätzung sind noch nicht absehbar. Aber das wirft die nächste Frage auf: Wiederholen wir diesen Fehler, wenn wir uns in der Klimafrage vor Positionen scheuen, die in der veränderungsresistenten Mitte der Gesellschaft als „radikal“ erscheinen könnten?
Bei allem, was man in den biblischen Schöpfungstexten an wunderbaren Perspektiven auf die Erde und unsere Mitgeschöpfe lernen kann, stammen sie doch weitgehend aus den königlich-priesterlichen Traditionen des Alten Testaments. Disruption ist dort nicht vorgesehen, da geht es um Stabilität und Kontinuität – wie in der bürgerlichen Politik. Aber Disruption auf allen Ebenen (Klima, sozialer Friede, Demokratie) ist genau das Thema, mit dem wir jetzt wie nie zuvor konfrontiert werden. Die biblischen Schöpfungstexte spiegeln die Lebensbedingungen des Holozän wieder. Dass diese sich im Anthropozän radikal ändern könnten, war für ihre Verfasser unvorstellbar. Sie geben keine Garantie, dass Gott uns schon davon abhalten wird, die Kippunkte zu überschreiten.
Team Apokalypse
Die biblische Apokalyptik ist ein Kind der Prophetie. Die Propheten waren und sind die Systemkritiker, die Gottes Vorbehalt gegenüber den Mächtigen und ihrem Gebaren verkörpern, oft genug auch seinen ausdrücklichen Protest. Die Propheten spitzen zu – polemisch in ihren Gerichtsdrohungen und poetisch in ihren Verheißungen des Heils, während um sie herum gerade alles zusammengebrochen ist.
In der Apokalyptik entwickelt sich diese herbe Krisenpoesie weiter. Reale weltpolitische Umbrüche erscheinen als Kampf mythischer Wesen, Irdisch-Geschichtliches wird auf eine kosmische Leinwand projiziert. Die Elemente (Himmel, Meer, Erde, Winde) erscheinen als Akteure (Bruno Latour lässt grüßen) in diesem Geschehen. Mit ihrer Hilfe führt Gott den Sturz der Gewaltherrscher herbei.
»Klimaaktivisten werden manchmal als gefährliche Radikale dargestellt, aber die eigentlichen gefährlichen Radikalen sind die Länder, die die Produktion fossiler Brennstoffe steigern.« (Antonio Guterres)
Apokalyptik ist nicht Panik, sondern der neue Realismus. Es ist bitterernst. Es ist Zeit für Klage, Zorn und Galgenhumor. Alles, was nicht abwiegelt und „normalisiert“. Alles, was nicht den Eindruck erweckt, wir hätten unbegrenzt Zeit, uns in winzig kleinen Schritten fortzubewegen, das Ruder erst einmal sachte acht oder achtzehn Grad zu drehen anstatt der nötigen 180.
In den großen Kirchen haben wir uns die Apokalyptik abgewöhnt, weil über die Jahrhunderte immer wieder falscher Alarm ausgelöst wurde. Ich erspare mir jetzt die Aufzählung aller Personen und Bewegungen, die den Weltuntergang irrtümlich für ihre Lebenszeit vorhergesagt hatten. Die schrägen Endzeitszenarien der „Left Behind“-Romane sind nur das jüngste Beispiel für sektiererische Verdrehungen. Aber das bedeutet ja nicht, dass es auch einen berechtigen Alarm geben kann und eine sachgemäße Interpretation der biblischen Apokalyptik. Sicher nicht als Endzeit-Fahrplan, der sich eins zu eins dem Gang gegenwärtiger Ereignisse zuordnen lässt (so war es nie gemeint). Wohl aber als Aufforderung, das Undenkbare zu denken – das Ende der Mächte und Akteure, die „die Erde verderben“ (Offb 11,18).
Der wandernde Horizont
Apokalyptik bedeutet nämlich nicht immer gleich Weltuntergang. Nicht der Kosmos wird vernichtet, sondern die Weltzeit (Aion) geht zu Ende. In der Bibel sehen wir einen wandernden eschatologischen Horizont. Für die großen Schriftpropheten ist es die Zerstörung Jerusalems und des ersten Tempels. Im Danielbuch ist es der Untergang der antiken Weltreiche. Jesus kündigt die Zerstörung Jerusalems durch die Römer an und bei Paulus und dem Seher Johannes richtet sich der Blick auf das Ende des Imperium Romanum. Nicht die Welt geht unter, aber die Welt, wie wir sie kennen. Und nun steht uns mit dem sich anbahnenden Kollaps des Klimas und dem Ende des Holozäns ein Zivilisationsbruch ins Haus, der all jene Untergänge in den Schatten stellt. Andrew Perriman hat dazu viel Lesenswertes geschrieben, und auch er betont dabei die prophetische Dimension:
First, the church needs to recover a plausible prophetic voice—to warn, to call for repentance and change, to explain how and why the crisis has come about, to begin to outline a new meaningful, sustainable, long-term future for the church in the secular-humanist West, to keep the story moving forwards.
Tom Wright weist in seinen Arbeiten zur Verkündigung Jesu immer wieder darauf hin, dass Albert Schweizer die richtige Fährte verfolgte, als er gegen die Leben-Jesu-Forschung die apokalyptische Dimension radikal herausstellte. Und er merkt zugleich an, dass Schweizer irrtümlich annahm, Jesus habe von einer kosmischen Katastrophe gesprochen und nicht von der Zerstörung Jerusalems im jüdischen Krieg. Für Wright spricht Jesus nicht vom Ende der Geschichte, sondern vom Ende einer Ära.
Jesus war Apokalyptiker und Prophet. Die Selbstbezeichnung „Menschensohn“ ist ein unübersehbarer Hinweis darauf. Zu den königlich-priesterlichen Traditionen verhielt er sich (vorsichtig gesagt) sehr differenziert. Bilder und Begriffe, mit denen Jeremia und andere den Untergang Babylons angekündigt hatten, überträgt er in Markus 13 auf die Hauptstadt Judäas. Er weint und klagt, er provoziert und dramatisiert wie seine Vorläufer. Er stößt auf taube Ohren bei der Mehrheit seiner Landsleute. Und er wird, wie Jeremia, von den Mächtigen dafür aus dem Weg geräumt.
„Hoffnung“ kommt in den Evangelien nicht vor
Es ist schon bemerkenswert, dass in keinem der vier Evangelien der Begriff „Hoffnung“ auftaucht. Ich will damit nicht sagen, dass die Sache fehlt. Aber angesichts der inflationären kirchlichen Hoffnungsrhetorik könnte das durchaus ein Wink sein, diesen Anspruch an uns selbst einmal kritisch zu betrachten, immer und überall Hoffnung liefern zu können oder zu müssen. Vielleicht muss auch die alte Hoffnung sterben (oder wir müssen angesichts des Infernos „alle Hoffnung fahren lassen“), damit sie irgendwann neu geboren werden kann.
Vielleicht sollten wir das Wort Hoffnung mal ein, zwei, zehn Jahre nicht verwenden. Und wie Jesus anders von Gott und der Welt reden. Hoffnungsfähig werden wir wohl nur, wenn wir den Kollaps nicht verharmlosen, das Grauen nicht verdrängen, die Klage nicht dämpfen, die Schuld nicht beschönigen. Hoffnung findet vielleicht wieder einen Landeplatz, wenn wir Gott recht geben in seinem Urteil über unsere Zivilisation, deren Wohlstand und Zusammenhalt auf der Anbetung des Mammon, der Plünderung der Natur und der Ausbeutung der Armen beruht. Aber da sind wir noch nicht. Vielleicht ist dieses Gebet aus Daniel 9 ein Schritt in die richtige Richtung und eine Hilfe, uns der Wirklichkeit unseres gemeinschaftlichen Versagens zu stellen.
Ach Herr, du großer und Furcht einflößender Gott, der den Bund und die Gnade bewahrt denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, wir haben gesündigt und sind schuldig geworden, wir haben gefrevelt und sind abgefallen, und von deinen Geboten und deinen Rechtssatzungen sind wir abgewichen.
Und wir haben nicht auf deine Diener, die Propheten, gehört, die in deinem Namen geredet haben zu unseren Königen, unseren Fürsten und unseren Vorfahren und zum ganzen Volk des Landes. Du, Herr, bist im Recht, uns aber steht die Schande ins Gesicht geschrieben…
Vor genau 40 Jahren hat REO Speedwagon den Song „Keep The Fire Burning“ veröffentlicht. Vordergründig geht es da um eine romantische Beziehung mit viel Leidenschaft und ein paar Problemen. Aber als ich diese Woche so da saß und mir den Text Zeile für Zeile ansah, dachte ich: Man kann das auch anders hören.
Keep the fire burnin' Let it keep us warm The world will keep on turnin' Let it turn you on Let us not stop learnin' We can help one another be strong Let us never lose our yearnin' To keep the fire burnin' all night long
Mal angenommen, die Nacht, von der da die Rede ist, ist die Nacht von Krieg, Armut, Hass, Einsamkeit und was sonst noch aktuell die Hoffnung verfinstert. Und mal angenommen, dass „wir“ ist mehr als nur zwei frisch Verliebte. Nämlich alle, die sich von dieser Dunkelheit nicht unterkriegen lassen wollen.
Ja, die Welt dreht sich weiter, es kommen auch wieder bessere Tage, aber im Augenblick müssen wir das wärmende Feuer am Brennen halten. Damit wir uns dort versammeln können. Hier springt der Funke wieder über, hier kommt die Sehnsucht uns nicht abhanden. Wir stärken einander. Und wir lernen gemeinsam, wie wir verbunden bleiben, heil werden, Gutes bewirken.
In den Versen geht dann darum, dass wir uns ein bisschen fremd geworden sind und dass Redebedarf besteht, damit Vertrauen wiederhergestellt wird.
Und darum, dass Aufgeben zwar möglich wäre, aber keine ernsthafte Option darstellt. Auch wenn es mal hart auf hart kommt. Schließlich geht es darum, das Gute nicht aus dem Blick zu verlieren (vgl. Römer 12,2). Victoria Loorz schreibt passend dazu in Church of the Wild:
»Sich für einen Wandel einzusetzen, den wir innerhalb eines Menschenlebens kaum überblicken – aber wir haben ja nur eines! –, ist an sich schon schwierig. Du kommst an einen Punkt, an dem du Abstand nehmen musst, um wieder zu wissen, wer du bist. Und wofür du kämpfst.«
Klar, das ist wohl nicht die Intention, aus der heraus der Song geschrieben wurde. Aber man kann ihn mit dieser Intention gut singen. Am Sonntag probieren wir es mal aus.
(Danke für das Beitragsbild an Peter John Maridable on Unsplash)
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