Das Samariterproblem

An einem strahlend sonnigen Vormittag lief ich im vergangenen Sommer zum Erlanger Bahnhof, um nach Nürnberg zu fahren und dort einen Gottesdienst zu halten. Auf der sonntäglich fast menschenleeren Straße kam ein junger Mann auf mich zu und sprach mich an. Er war erkennbar benebelt und sagte, er sei in einer psychischen Notlage.

Ich redete kurz mit ihm und erklärte, dass ich gleich zum Zug müsse, dass ich aber bei der Notrufzentrale anrufen und mich darum kümmern werde, dass schnell jemand kommt. Gesagt, getan. Aber noch bevor ich im Zug saß, dachte ich an die Geschichte vom barmherzigen Samariter, in der ja auch zwei Personen unterwegs zum Tempel waren. Was wäre wohl passiert, wenn ich die Gottesdienstgemeinde hätte sitzen lassen, um dem jungen Mann zu helfen? Eigentlich hätte das doch nur auf Zustimmung und Verständnis treffen können – oder?

Beim Nachdenken fiel mir auf, wo die Schwierigkeit bei solchen Entscheidungen auch liegt: Zu spät oder gar nicht zum Dienst zu erscheinen, wirkt sich sofort aus und ich bekomme die Reaktionen darauf ganz unmittelbar zu spüren. Sie mögen wesentlich harmloser sein als die Folgen unterlassener Hilfe für den Fremden, der sie braucht. Die Abwägung läuft also zwischen schnellen und direkten Konsequenzen für mich selbst und der Ungewissheit, ob solche Unterlassungen Folgen haben und ob diese mich vielleicht irgendwann einholen.

Ich vermute, nach diesem Muster verlaufen viel mehr Entscheidungsprozesse, als uns bewusst ist. Sie stecken hinter Parolen wie „wir sind doch nicht das Sozialamt der Welt“. Denn jetzt zu helfen hat zwei sichere Auswirkungen: Es kostet Geld und Sympathien. Was es dagegen bringt, das wird sich erst später zeigen.

So betrachtet ist das Gleichnis auch eine Einladung, sich auf ungewisse Situationen mit unabsehbaren Folgen einzulassen. Für diese Haltung gibt es in der Bibel ein besonderes Wort: Es heißt „Glaube“.

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Mieses Image

Viele nun seiner Jünger, die das hörten, sprachen: Das ist eine harte Rede; wer kann sie hören? Da Jesus aber bei sich selbst merkte, dass seine Jünger darüber murrten, sprach er zu ihnen: Nehmt ihr daran Anstoß?

Die Mächtigen dieser Welt achten sehr genau darauf, welche Bilder sie von sich veröffentlichen.

Da ist der Milliardär mit dem goldenen Haar,
in prunkvollen Gemächern mit goldenen Wasserhähnen,
umgeben von schönen Frauen, die natürlich alle
seinen umwerfenden Intellekt und Charakter bewundern,
die Ikone des Erfolgs.

Und da ist einer mit nacktem, muskulösem Oberkörper
hoch zu Ross oder lässig mit Jagdgewehr,
das Reiterstandbild des 21. Jahrhunderts,
die Ikone der Souveränität.

Und dann das:

Blutendes, rohes, wundes Fleisch
Ohnmächtig und nackt angenagelt
Verlierer, Opfer, Verschmähter, Gefolterter
schon das Hinsehen tut weh und ekelt an.
Die Ikone des Albtraums.

Was hast du dir dabei gedacht, Gott, als du dieses Bild von dir veröffentlicht hast? Damit ist kein Staat zu machen. Dafür bekommt man keine „Likes“. Kein Wunder, dass die Leute dir in Scharen davonlaufen.

Ich meine, fast 2000 Jahre bist du ohne Bild ausgekommen. Du hattest wirklich Zeit, dir zu überlegen, was du von dir veröffentlichst. Wie konnte das bloß passieren?

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Foto: unsplash.com

An wen hast du dabei gedacht? Die chronisch Kranken mit ihren offenen Beinen und künstlichem Ausgang? Die Geflüchteten mit ihren wunden Füßen und zerschlissenen Schuhen? Die Mundtoten und Weggesperrten, die keine unbequemen Wahrheiten mehr ausplaudern können? All diese Schattenmenschen – sind sie dir so viel wert?

Wenn so ein Bild einmal in der Welt ist, dann lässt sich das nicht mehr kontrollieren. Leute kopieren und teilen es, es wird verrissen und verglichen, verfärbt und verfremdet. Es gibt kein zurück mehr.

Aber dir scheint dieses ganze Schlamassel zu gefallen.

Oder?

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Familie, wie sie immer war

In der Diskussion um die vielfältigen Formen von Familie geschieht es immer wieder, dass jemand unter Verweis auf Natur und Biologie versucht, eine normative Aussage zu machen – also zu bestimmen, was eine „richtige“ oder „normale“ Familie ist und was nicht.

Dabei ist Familie – verlässliche Fürsorge verschiedener Generationen – von Anfang an ein soziales Phänomen, das über Blutsverwandtschaft (und damit die reine Biologie) weit hinausgeht. Selbst Verfechter eines konservativen Familienbildes versuchen ja lobenswerterweise, einem Adoptivkind zu vermitteln, dass es genauso zur Familie gehört und genauso geliebt wird. In früheren Zeiten (die unter Konservativen gern romantisiert und idealisiert werden) mit hoher Sterblichkeit und niedriger Lebenserwartung mussten Verwitwete sich schon aus wirtschaftlichen Gründen möglichst schnell einen neuen Partner suchen. Auch das waren „Patchworkfamilien“.

Tief in die Theologie hinein reicht das Thema der Adoption. Für Paulus sind die Christen Gotteskinder, deren Status nicht auf Abstammung beruht (und selbst das wäre noch mehr als nur „Biologie“…), sondern auf der Annahme durch Gott, der Erwählung und dem damit verbundenen Versprechen. Auch hier ist Familie ein primär soziales Gebilde. Da, wo im Neuen Testament im Blick auf Familie normativ geredet wird, geht es um Haltungen und den Umgang innerhalb der Familie: Um Fürsorge, Achtung, Liebe und Geduld.

Wenn ich mit einer Schulklasse über das Thema Familie rede, dann finde ich dort praktisch alle Formen versammelt: Großfamilien (ein Schüler erzählte, sein Vater habe 21 Geschwister), Teilfamilien, bürgerliche Kleinfamilien, Patchwork- und vielleicht auch Regenbogenfamilien. Hier eine Rangordnung der Normalität und Würdigung aufzumachen, hieße vor allem, ausgerechnet das abzuwerten, was vielen Schülern (wenn nicht den meisten) Halt und Heimat gibt.

Solche Spaltungen und Demütigungen sollten wir uns ersparen. Sie sind tatsächlich unbiblisch.

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Heiligkeit, die sich die Hände schmutzig macht

Kennt wahrscheinlich jeder schon: Das Kreuz lässt sich so deuten, dass der vertikale Balken die Gottes- und der horizontale die Nächstenliebe symbolisiert. Dann steht es entweder für das Doppelgebot der Liebe oder (freilich kein Gegensatz) für die Liebe Gottes zu den Menschen und die Liebe der Menschen untereinander.

So weit, so schön und so passend.

Die beiden Kreuzbalken entsprechen so gesehen auch den beiden Tafeln der Zehn Gebote. Die erste Tafel hat mit dem Verhältnis zu Gott zu tun und schützt seine Integrität vor menschlichen Zugriffen: Die Einzigartigkeit, das Bilderverbot, der Name und der Sabbat (die letzten beiden stehen für alle übrigen Kultgesetze). Die zweite Tafel hat mit den Mitmenschen zu tun: Eltern, Unversehrtheit, Partner, Besitz und Wahrhaftigkeit.

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Wenn man nun fragt, was Jesus ans Kreuz gebracht hat, dann stößt man auf ein ganzes Bündel von Konflikten, die sein Wirken nach sich zog. Und interessanterweise lassen diese sich relativ stringent auf die zwei Tafeln verteilen. Jesus verletzt – in den Augen seiner Gegner (ob das nun Pharisäer oder Saddzuzäer waren) – die Gebote der ersten Tafel. Er missachtet die Sabbatruhe, er relativiert gängige Vorstellungen von Reinheit, er kündigt das Ende des Tempels und des Opferbetriebes dort an. Und selbst aus römischer Sicht zeigt er sich auch dem Gottkaiser und dessen irdischen Repräsentanten gegenüber ziemlich respektlos.

Umgekehrt wirft Jesus den Gegnern vor, in ihrer Praxis gegen den Sinn der Gebote der zweiten Tafel zu verstoßen: Statt die Alten zu versorgen, spenden manche das Geld an den Tempel. Männer verstoßen ihre Frauen und die sind dagegen weitgehend wehrlos. Zur Schau gestellte Frömmigkeit soll einen sozialen Vorteil verschaffen, und wer weniger intensiv glaubt, wird verächtlich gemacht und mit Schimpfwörtern belegt. Vergebung für Betrug oder Gewalttaten gibt es auch ohne Opfer und rituelle Reinigung. Das sind nur die Fälle, die mir sofort eingefallen sind.Kreuz:Tafeln

Insofern steht das Kreuz in eben dieser Deutung auch dafür, warum Jesus den Kreuzestod starb und das aller Wahrscheinlichkeit nach auch kommen sah und in Kauf nahm. Er stellte viele gängige Deutungen und Umsetzungen der Gebote in Frage. Und er verschob die Aufmerksamkeit weg vom Kult und all dem Kleingedruckten der „rechten“ Gottesliebe hin zu einem barmherzigen, offenen und versöhnlichen Umgang mit dem Nächsten, der ethnische und religiöse Grenzen überschreitet.

Interessanterweise gibt es das ja immer noch, auch unter Jesusnachfolgern: Diesen Streit, ob zuviel Nächstenliebe (und damit auch soziales und politisches Engagement) der Reinheit unserer Gottesliebe abträglich ist, oder ob das gar kein Gegensatz ist und auch besser nicht als solcher behandelt werden sollte. Ich finde diese rotznasige, empathische Heiligkeit mit den schmutzigen Händen und den weiten Grenzen jedenfalls viel attraktiver als die sterile, strenge und skrupelhafte Variante.

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Das Ding mit dem Lösegeld

Es mag an meinem beschränkten Horizont liegen, dass mir erst jetzt die Frage nach einem Zusammenhang zwischen dem berühmten Lösegeld-Wort aus Markus 10,45 und der folgenden Anweisung aus dem Buch Exodus (30,11-17) kommt. Dort lesen wir:

Und der HERR redete zu Mose und sprach: Wenn du die Israeliten zählst, die gemustert werden, soll jeder dem HERRN ein Lösegeld für sein Leben geben, wenn man sie mustert. Dann wird keine Plage über sie kommen, wenn man sie mustert. Dies sollen sie geben, jeder, der zur Musterung antritt: einen halben Schekel nach dem Schekel des Heiligtums, zwanzig Gera der Schekel, einen halben Schekel als Abgabe für den HERRN.

Jeder, der zur Musterung antritt, der zwanzig Jahre alt ist oder älter, soll die Abgabe für den HERRN entrichten. Der Reiche soll nicht mehr und der Arme nicht weniger als einen halben Schekel geben, wenn ihr die Abgabe für den HERRN entrichtet, um für euer Leben Sühne zu erwirken.

So nimm das Sühnegeld von den Israeliten, und verwende es für den Dienst am Zelt der Begegnung. Und es soll vor dem HERRN die Erinnerung an die Israeliten wachhalten, um Sühne zu erwirken für euer Leben.

Ein bisschen zugespitzt formuliert: Die Tempelsteuer erscheint hier als eine Art „Schutzgeld“, das Schaden („Plagen“) abwendet und mit dem zugleich der Betrieb des Heiligtums gewährleistet wird. Jeder männliche Jude ab dem Alter von 20 Jahren muss sie entrichten, das war auch zur Zeit Jesu noch so, wobei es außerhalb von Judäa eine freiwillige Abgabe war, schreibt Heinz Schröder in „Jesus und das Geld“. Die Abgabe verbindet den einzelnen mit dem Tempel und über den Tempel mit Gott, das funktionierte auch für Diasporajuden und brachte dem herodianischen Tempel keinen geringen Wohlstand ein.

Liberation by jar [o], on Flickr
Liberation“ (CC BY 2.0) by jar [o]

Das Ganze ist trotzdem etwas undurchsichtig: Fällt ein Lösegeld für eine Art generelle Sündhaftigkeit der Israeliten an, also eine pauschale Zahlung mit sühnender Wirkung? Ist das quasi die monetarisierte Variante des Jom Kippur? Und wenn ja, warum sind Frauen und Kinder dann ausgenommen? Oder schwingt hier das Unbehagen im Blick auf Musterungen und Volkszählungen mit, das sich z.B. in 1.Chr 21 deutlich darin ausdrückt, dass Davids Musterung eine Idee des Satans genannt wird und mit schlimmen Konsequenzen belegt wird? Oder beides? Ein Lösegeld an irgendeine andere Instanz (wie im König von Narnia die Winterhexe) scheint jedenfalls keine Rolle zu spielen.

Und was passiert, wenn man das Lösegeldwort Jesu auf diese Situation bezieht? Je nach Vorverständnis ließe sich dann Folgendes sagen:

  1. Der – einmalige – Tod des Menschensohnes tritt an die Stelle der Tempelsteuer. Er erweitert zugleich deren Sinn. Um es mit Andrew Perriman zu sagen: “What’s at stake is not the routine daily or even annual maintenance of the covenant but the future of a people threatened with annihilation by an all-powerful pagan empire.“
  2. Alle weiteren Zahlungen und Transaktionen sind damit überflüssig, der kostspielige Betrieb des prunkvollen Tempels unter Regie der schwerreichen Priesteraristokratie ebenfalls (daher wird dessen Zerstörung wenig später angekündigt).
  3. Die Hingabe des Menschensohnes stiftet Gemeinschaft bis in den letzten Winkel der Diaspora und begründet die Zugehörigkeit zum Volk Gottes neu.
  4. Gott ist nicht etwa Adressat dieser „Sühne“, sondern der, der sie durch sein Handeln in Jesus endgültig ablöst.

Das würde auch den Kontext des Lösegeldwortes erklären, in dem Jesus die Mächtigen der Welt dafür kritisiert, wie sie Menschen knechten und auspressen. Denn das Instrument dieser Knechtschaft sind Bürokratie und Steuereintreiber, autokratische Gesetzgebung, die Konzentration von Kapital, die Aushebung von Truppen und die Einschüchterung von Kritikern durch die Androhung von Gewalt oder Ausschluss aus der Gemeinschaft. All das besteht wohl noch fort, aber es fehlt ihm fortan jegliche religiöse Legitimation.

Wenn das so gemeint war, dann lässt sich jedenfalls leicht vorstellen, warum Jesus in Jerusalem mit so viel Argwohn empfangen wurde.

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Plötzlich nackt?

Ich war letzte Woche bei der Erzählung von der Versuchung im Garten Eden. Eine Folge der Episode mit der verbotenen Frucht ist, dass die Menschen merken, dass sie nackt sind. Sehen sie also endlich das Offensichtliche? Oder ist das gar keine Frage der Optik, sondern des Bewusstseins und der Kategorien des Verstehens?

Die Menschen haben sich entschlossen, etwas (die Frucht vom Baum der Erkenntnis) anders zu sehen als Gott. Mit Erfolg, sie fallen nämlich nicht tot um. Man kann die Dinge also anders sehen! Aber just an diesem Punkt der Erkenntnis tritt eine entscheidende Veränderung ein: Sie sehen einander an und stellen fest, dass man die Dinge nicht nur anders sehen kann als Gott, sondern auch anders als man selbst. Und dass sie selbst zu diesen „Dingen“ gehören, die man anders sehen kann.

Ich sehe also dich an und sehe, dass du mich ansiehst. Aber ich weiß jetzt, dass du mich nicht unbedingt so siehst, wie ich mich selbst sehe. Und erst recht nicht so, wie ich gesehen werden möchte (auch das sind nun zwei verschiedene Dinge!). Das Bild von mir, das in deinem Kopf existiert, kann ich nicht kontrollieren und ändern. Aber es bestimmt, wie du mit mir umgehst: Wirst du das, was du an und in mir siehst, dazu verwenden, mir wohlwollend und liebevoll zu begegnen, oder wirst du mich verachten und mich bloßstellen? Ich kann mir nicht sicher sein. Ich merke ja, wie berechnend ich gerade denke. Ich bin deiner Willkür ebenso ausgeliefert wie du meiner. Anders ausgedrückt: Ich habe die Deutungshoheit über mich selbst verloren.

Weil ich dieses Bild nicht direkt bestimmen kann, das du von mir hast, zeige ich dir von nun an nur bestimmte Ansichten von mir. Nämlich die Seiten, die mich in ein möglichst günstiges Licht rücken: Puzzleteile, von denen ich erwarte und hoffe, dass du sie zu meinem Wunschbild zusammensetzt. Alles andere verhülle ich mit Feigenblättern und mache es unsichtbar.

Unsere Beziehung ist durch dieses Image-Management schon kompliziert geworden. Aber der Knoten wird noch dicker. Denn es reicht nicht, meine (echten oder auch nur vermeintlichen) Schattenseiten zu verbergen. Ich muss auch verbergen, dass ich etwas verberge. Sonst wirst du irgendwann misstrauisch fragen, was es hier nicht zu sehen gibt. Dann wirst du entweder nachbohren oder alles, was ich an Gutem preisgebe von mir, nur noch verdächtig finden.

Daher verstecken sich die Menschen sogar vor Gott: Sie müssen verbergen, dass sie etwas verbergen. Es wird richtig, richtig kompliziert.

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Foto: unsplash.com

Doch auch so lässt sich die verlorene Naivität – „die Welt ist so, wie ich sie sehe, und das siehst du genauso“ – nicht mehr retten. Die Menschen müssen das, was sie verbergen, ja sogar vor sich selbst verstecken, um im Folgenden so tun zu können, als sei die eigene Sicht der Welt die einzig wirkliche und mögliche. Kein sehr überzeugendes Manöver, aber ein verbreitetes. Es ist ein Kennzeichen von Diktatoren, dass sie nur die Aussagen über sich gelten lassen, die ihrem Wunschbild entsprechen. Und es ist die Grunddynamik aller Filterblasen und Echokammern.

Nein, die Geschichte vom Garten handelt nicht von einer fernen Vergangenheit…

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Alltägliche Kollisionen

Ein Samstagmorgen in der Fußgängerzone. In der Nähe des Ortes, wo ich mein Rad abgestellt habe, steht in junger, blonder Russlanddeutscher auf der Straße und predigt – irgendwas über Sünde und Gericht, die üblichen Bibelstellen und ein vager Exkurs in die eigene sündige Vergangenheit. Man mag ihm gar nichts Schlimmes zutrauen, wie er da so steht, ein bisschen blass, mit inzwischen heiserer Stimme. Und tatsächlich kommen auch keine anderen Konkretionen als dass er damals sein Geld für Dinge ausgegeben hat, die ihm Spaß machen. Ist das ein bewusster Versuch, so etwas wie Gemeinsamkeit mit potenziellen Zuhörern auszudrücken?

Neben ihm stehen drei Kinder und halten Traktate in der Hand. Der Mann pausiert, wendet sich ihnen kurz zu, und fährt dann in seiner Ansprache fort. Doch das Erlösungsbedürfnis der Erlanger ist heute überschaubar: Niemand bleibt stehen und die Passanten, die in einiger Entfernung auf Bänken in der Sonne sitzen oder auf den Bus warten, scheinen ihn zu ignorieren. Ich hoffe um der Kinder willen, dass seine Stimme nicht mehr lange hält, und er bald guten Gewissens die Segel streichen kann.

Gegenüber steht ein Tisch mit einer türkischen Fahne, türkischen Schildern und einem, das auf Deutsch sagt, alle Macht geht vom Volke aus. Ich vermute, darin steckt eher Kritik an den Plänen der AKP für eine Verfassungsänderung. Hinter mir geht eine Frau mit partiell rot eingefärbtem, dunklem Haar vorbei, die den Stand wütend betrachtet. Im Weitergehen schreit sie auf Türkisch etwas augenscheinlich Unfreundliches über ihre Schulter, später dreht sie sich noch zweimal um und reckt den Mittelfinger in die Luft in Richtung der Nestbeschmutzer, ihre Miene ist immer noch grimmig verzerrt, sie kann sich gar nicht mehr beruhigen.

Politischer Dialog, der mit Hass beantwortet wird, und religiöser Monolog, der nirgends ankommt. Und wir irgendwo zwischendrin. Alles auf engem Raum an einem Samstagmorgen in der Fußgängerzone.

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Verführung braucht keine Lügen

Immer wieder einmal habe ich gelesen, die Schlange habe die Frau im Garten Eden belogen. Aber das musste sie gar nicht. In der Übersetzung von Buber/Rosenzweig lautet ihr Kommentar nicht „ihr dürft von keinem der Bäume essen“, sondern einfach nur: „Ob schon Gott sprach: Esst nicht von allen Bäumen des Gartens …!“

Viel mehr war gar nicht nötig (der Versucher im Neuen Testament lügt ja auch nicht…), und exakt darin trifft sich diese Episode mit dem, was wir heute täglich erleben: Stimmen, die uns unablässig beeinflussen. Die auf vermeintliche und tatsächliche Wahrheiten verweisen, aber in einer ganz bestimmten Zuspitzung. Nämlich so, dass sie die Ausnahmen von der Regel unter der Hand zum Regelfall werden lassen, indem sie eine bestimmte Fixierung auslösen.

Um mit einem unverfänglichen Beispiel einzusteigen: Bewohner meiner Heimatstadt lassen sich relativ leicht davon überzeugen, dass Kraftfahrer aus benachbarten Städten und Landkreisen mit der Straßenverkehrsordnung auf Kriegsfuß stehen. Wenn ich also sage, dass nicht alle Forchheimer oder Fürther anständig Auto fahren können, dann fällt jedem ein Erlebnis ein, das diese Aussage stützt (auswärtige Nummernschilder sind nämlich auffälliger als heimische). Und so ist es nicht weit von „nicht alle Forchheimer können Auto fahren“ zu „die Forchheimer können alle nicht Auto fahren“. Indem ich eine Verbindung zwischen einem bestimmten Verstoß und einer Gruppe Fremder herstelle (und das gegebenenfalls öfter wiederhole), charakterisiert er irgendwann die ganze Gruppe, obwohl anfänglich jeder wusste, dass das Quatsch ist. Das „nicht“ vom Satzfang wandert immer weiter nach hinten.

Und nun hören wir täglich Sätze wie

  • Nicht alle Zuwanderer kommen in friedlicher Absicht
  • Nicht alle Politiker sind immun gegen Bestechung
  • Nicht alle Muslime halten die Demokratie für eine gute Staatsform
  • Nicht alle ALG-II Empfänger suchen ernsthaft nach einem Job
  • [für den „frommen“ Leser, der es nicht politisch möchte: Nicht alle Pfarrer/Landeskirchler/Katholiken sind „gläubig“]

Die, die so etwas sagen, verweisen vordergründig erst einmal nur auf offensichtliche, wenn auch seltene Möglichkeiten – Dinge, die sich nie ganz ausschließen lassen. Sie sagen ihre Banalitäten aber so oft und so lange, bis sich unsere Wahrnehmung immer weiter verengt. Bis 99,9% der Geflüchteten so friedlich sein können, wie sie wollen, und dennoch unter Generalverdacht stehen. Und wer sich für sie einsetzt, wer das schiefe Bild zurechtrückt, wird der Schönfärberei, der Manipulation und fanatiserter “politischer Korrektheit“ beschuldigt. Denn (um die perfide Strategie noch einen Schritt weiter zu treiben) „nicht alle, die sich für Geflüchtete einsetzen, sind selbstlos, tolerant und arbeiten mit lauteren Mitteln“.

Für solche Vergiftungen menschlichen Zusammenlebens und gesellschaftlicher Kommunikation kann uns die alte Geschichte aus dem Buch Genesis die Augen öffnen. Allein deswegen sollten wir sie immer wieder lesen und besprechen. Denn hier und heute müssen wir Gutes und Böses mit Gottes Hilfe unterscheiden. Andernfalls wird jedes Paradies zur Hölle.

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4.000 km zwischen den Welten

Vor einem Jahr habe ich das Vikariat in St. Leonhard-Schweinau begonnen. Ein guter Anlass, kurz zurück zu blicken, zumal ich auch immer wieder gefragt werde – mal besorgt, mal süffisant, mal neugierig – wie es mir denn so geht.

Der Kilometerzähler an meinem Rad zeigt 4.000 mehr als vor Jahresfrist, und vieles davon geht zurück auf dienstliches Pendeln zwischen Wohnort und „Einsatzgemeinde“, wie das im Kirchensprech heißt. Im Sommerhalbjahr waren es mehr Fahrten, im Winter (und mit mehr Gepäck für den Schulunterricht) spürbar weniger. Das ändert sich jetzt allmählich wieder, und irgendwann erreiche ich dann auch das Tempo vom vergangenen Sommer. Auf dem Weg nach Nürnberg trage ich nun meistens einen Helm, es kommen also ganz neue Gewohnheiten dazu.

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(Foto: Andrew Gook, unsplash.com)

Mehr als nur ein bisschen dankbar bin ich für meinen Mentor, der mir ebenso humorvoll und einfühlsam wie abgeklärt hilft, mich in meine Rolle und in die Gemeindearbeit mit ihren Besonderheit und Eigentümlichkeiten hineinzufinden. Im Predigerseminar habe ich freundliche, aufgeschlossene und kompetente Studienleiter kennengelernt und bin in einem Vikarskurs gelandet, der trotz stattlicher Größe einen bemerkenswerten Zusammenhalt entwickelt hat. Und die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen in der Kirchengemeinde zeigen bis zum heutigen Tag endlose Geduld mit mir, während ich die vielen neuen Namen lerne, vergesse und wieder neu lerne.

Es ist auch ein Jahr der Kontraste: Da ist der Kontrast zwischen der Akademikerstadt Erlangen und dem Nürnberger Westen mit Arbeitern, Angestellten und einem hohen Migrationsanteil an der Bevölkerung. Und der Kontrast zwischen den ELIA-Gottesdiensten im gut gefüllten Theater mit so ziemlich allen Altersgruppen hier und den eher lichten Reihen mit überwiegend ergrauten Häuptern dort, zwischen meist unstrukturiertem Lobpreis und klassischer Liturgie nach G1, zwischen Predigthörern, die an Humor und Ironie gewöhnt sind und solchen, die sich lieber nichts anmerken lassen, wenn ich auf die Idee komme, einen Witz zu reißen, ohne ihn vorher anzukündigen.

Vielleicht liegt letzteres auch an dem schwarzen Talar, an den ich mich nur sehr mühsam gewöhne. Bei Beerdigungen sehe ich den Nutzen noch am klarsten, in allen anderen Situationen bremst und dämpft er gefühlt mehr, als dass er beflügelt. Ein Ausbilder meinte neulich, der Talar schütze auch die Gemeinde vor mir. Gut, da hat er wahrscheinlich Recht…

Mein Aktionsradius ist durch diese Umstände drastisch beschränkt, manche Debatten und Ereignisse bekomme ich nur noch am Rande mit – und es fehlt mir im Grunde auch nicht: Bei soviel Input und neuen Eindrücken, die es zu verarbeiten gilt, sinkt natürlich der Bedarf an zusätzlichen Impulsen von außen. Das einzige, was ich daran vermisse, sind die Begegnungen mit vielen von Euch. Andererseits tut es aber auch gut, so klare Prioritäten zu haben – es vereinfacht das Neinsagen.

Ab und zu höre ich, dass Leute schon wissen und sogar verraten, was für mich nach dem Abschluss im kommenden Jahr folgt. Wenn Ihr so jemandem begegnet, sagt mir Bescheid – ich selbst tappe nämlich noch im Dunkeln und bin immer interessiert an erhellenden Auskünften über meine Zukunft.

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Verbote, Versuchungen und Versteckspiele

Hat die Schlange die Frau im Garten Eden belogen? Oder muss man, um Schaden zu verursachen und Menschen auf Abwege zu bringen, die Wahrheit vielleicht nur schlau und passend akzentuieren?

Und wie ist das mit dem Nacktsein und der Scham zu verstehen? Worüber gehen den Menschen die Augen auf, was macht das mit ihnen und wo berührt sich das mit unserem alltäglichen Bemühen, in einer Welt der Projektionen, Vorurteile und Unterstellungen die Deutungshoheit über uns selbst zu behalten?

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Bild: Unsplash.com

Morgen beginnt die Fastenzeit: Was kann christliche Spiritualität dazu beitragen, dass ich im Wirrwarr manipulativer Stimmen den Blick für die Wahrheit nicht verliere? Und wie lebe ich einigermaßen authentisch unter den Blicken und Erwartungen anderer?

Hier könnt Ihr hören, was mir dazu eingefallen ist.

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Ewiges Leben ist engagiertes Leben

In den letzten Tagen habe ich mich mit Ostergottesdiensten und -predigten befasst. Was mich beim Stöbern und Suchen überrascht hat, war, wie viele (durchaus renommierte, ich sag’ nicht welche) Prediger völlig apolitisch über das Osterevangelium reden konnten. Als wäre Ostern in erster Linie eine Antwort auf die Frage nach dem individuellen Tod – dem eigenen oder dem eines geliebten Menschen!

Und dabei ist mir wieder neu aufgefallen, dass Ostern für mich in erster Linie die Antwort auf die Frage ist, woher wir die Hoffnung auf eine bessere Welt nehmen. Es wird ja nicht irgendwer auferweckt, sondern der Messias der Armen, der die Herrschaft Gottes ankündigt – und den seine Kritik an den ungerechten Verhältnissen ans Kreuz brachte. Und dann heißt Ostern vor allem: Die Revolution geht weiter, egal wie viele seiner Mitstreiter noch eingesperrt und ermordet, abgeschrieben und verleumdet oder anderweitig „kaltgestellt“ werden.

Erst in zweiter Linie geht es dann um den persönlichen Tod und dann heißt Ostern: Irgendwann werden wir alle vollzählig um einen großen Tisch herum sitzen und feiern – auch die, die ihr Leben in dem Kampf für eine gerechte Welt verloren haben. Hier findet das Politische das Individuelle: Wenn ich den Tod nicht fürchten muss, wenn der Tod mich nicht mehr um die Früchte meines Engagements bringen kann, dann kann ich um so befreiter und selbstvergessener einsetzen für alles, was Recht ist.

Ewiges Leben ist also ein engagiertes Leben.

Heute ist ein guter Tag, um darüber nachzudenken. Vor 74 Jahren starben Hans und Sophie Scholl. Ihr Vater Robert rief dem obersten NS-Richter Roland Freisler im Prozess zu: „Es gibt noch eine andere Gerechtigkeit!“. Die Mutter erinnert Sophie angesichts der Hinrichtung an die Nähe Jesu. Und Ihr Mitstreiter Christoph Probst verabschiedet sich mit den Worten „In wenigen Minuten sehen wir uns in der Ewigkeit wieder.“

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Warum selbst pervertierte Macht auf das lästige Recht nicht ganz verzichten kann

Schwer unter die Haut gegangen sind mir diese Woche die Nachrichten über Foltergefängnisse in Syrien. Einzelschicksale wurden ja kaum geschildert – und trotzdem ist schon die allgemeine Vorstellung unerträglich.

Zugleich habe ich mich gefragt, warum in solchen Diktaturen dieses üble Schmierentheater aufgeführt wird: Geständnisse werden durch Folter erzwungen, darauf folgen geheime gerichtliche Eilverfahren und dann die ebenso geheime Hinrichtung. Wozu die ganze Mühe, warum ermordet man die Leute nicht sofort? Wäre das alles nicht viel einfacher?

Drei Gründe fallen mir ein:

  • Die Auftraggeber brauchen für sich selbst den Anschein, wenigstens formal so etwas wie Recht angewandt zu haben. Da ist dieser perverse Wunsch, irgendwie als gut zu erscheinen, auch wenn man das ganz offenkundig nicht ist.
  • Die Opfer werden zusätzlich gequält und gedemütigt, wenn ihnen eine theoretische Chance vorgegaukelt wird, sich zu rechtfertigen und zu retten, und die Gewalt, die ihnen angetan wird, als rechtens deklariert wird.
  • Die Handlanger des Systems machen bereitwilliger mit, wenn man ihnen diesen Selbstbetrug anbietet und ihr Tun als irgendwie rechtmäßig ausgibt.

Ich vermute, die dritte Antwort ist die wichtigste. Und deswegen ist es so eminent wichtig, diese Verbrechen zu dokumentieren und dem Regime bei jeder Gelegenheit den Spiegel vorzuhalten. Die Anstifter oben in der Befehlskette werden wir kaum überzeugen. Aber wir können es ihnen etwas schwerer machen, Helfershelfer zu finden. Und den vorhandenen Helfershelfern wird es nicht mehr möglich sein, aus Unwissenheit zu plädieren, wenn das Regime stürzt.

Im kleineren Maßstab gilt das auch hier: Die Populitiker, die Flüchtlinge trotz offensichtlicher Lebensgefahr ins vermeintlich „sichere“ Afghanistan abschieben wollen, werden sich kaum von unseren Protesten beeindrucken lassen. Aber es gibt vielleicht Polizisten und Beamte, die einen so fragwürdigen Beschluss nicht ausführen wollen. Je mehr das sind, desto schwieriger wird es für die Regierungen.

Die Dickfelligkeit der Mächtigen darf uns nicht dazu verleiten, leiser zu werden. Auch der ohnmächtige Protest ist nicht ganz so ohnmächtig, wie er scheint. Er erreicht nicht jedes Gewissen, aber doch einige. Diese Woche habe ich Micha 6 gelesen und nicht am Ende von Vers 8 die Bibel zugeklappt. So geht es weiter in Sachen Recht und Unrecht, falls jemand mal Worte und Vorbilder sucht:

Horcht! Der Herr ruft der Stadt zu: [Klug ist es, deinen Namen zu fürchten.] Hört, ihr Bürger und Räte der Stadt!

Kann ich die ungerecht erworbenen Schätze vergessen, du Haus voller Unrecht, und das geschrumpfte Maß, das verfluchte? Soll ich die gefälschte Waage ungestraft lassen und den Beutel mit den falschen Gewichten?

Ja, die Reichen in der Stadt kennen nichts als Gewalttat, ihre Einwohner belügen einander, jedes Wort, das sie sagen, ist Betrug. Deshalb hole ich aus, um dich zu schlagen und dich wegen deiner Sünden in Schrecken zu stürzen.

Du wirst essen, doch du wirst nicht satt; Schwindel wird dich befallen. Was du beiseite schaffst, rettest du nicht; was du rettest, übergebe ich dem Schwert. Du wirst säen, aber nicht ernten; du wirst Oliven pressen, aber dich mit dem Öl nicht salben; du wirst Trauben keltern, aber den Wein nicht trinken.

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Transformation war gestern

Seit ein paar Wochen ist Ulrich Becks postum erschienenes Buch „Die Metamophose der Welt“ auch auf Deutsch auf dem Markt. Ich fand es in mehrfacher Hinsicht sehr anregend und hilfreich. Vielleicht gerade in Zeiten wie diesen. Beck setzt sich darin mit der Weltrisikogesellschaft auseinander, die in den letzten Jahrzehnten durch die Globalisierung und Kosmopolitisierung der Welt entstanden ist.

Er kommt darin zu dem Schluss, dass wir es mit einem ganz neuen Typus von Wandel und Veränderung zu tun haben. Die Entwicklungen, die er beschreibt, verlaufen nicht einfach nur etwas schneller als bisher (aber mehr oder weniger in dieselbe Richtung), sondern sie führen in Situationen, in denen uns die Begriffe und Konzepte ausgehen. Vor allem aber versagen viele Institutionen, deren Aufgabe es wäre, für Stabilität und Berechenbarkeit zu sorgen:

Es handelt sich bei der Weltrisikogesellschaft um eine gesellschaftliche Formation, in der die hingenommenen, akkumulierten Nebenfolgen von Milliarden habituellen Handlungen die existierende soziale und politische, institutionelle Ordnung haben obsolet werden lassen. (S. 72)

Herkömmliche Begriffe wie Transformation werden in der Regel für zielgerichtete, planvolle, kontrollierbare und schrittweise Veränderungen verwendet. Sie ist ein kontinuierlicher Prozess. Anders die Metamorphose: Sie tritt ungeplant ein, Ausgangspunkt und Ergebnis stehen in einem eher losen Zusammenhang. Wie in der Biologie löst sich erst einmal alles auf und verliert seine Form und Konturen. Und während bei Weltrisikogesellschaft die Akzent noch auf den unerwünschten Nebenwirkungen der Modernisierung lag, liegt er nun auf den positiven Nebenwirkungen der global produzierten Risiken. Das ist etwas Neues:

Während die Konflikte, die sich an Revolutionen des Weltbilds entzündeten, Jahrzehnte, selbst Jahrhunderte währten, und die Folgen der französische Revolution sich über die vergangenen 200 Jahre erstreckten, … spielt sich die Metamorphose der Welt in Weltsekunden ab, in einer Geschwindigkeit, die nicht weniger als unfassbar ist, und infolgedessen überrennt und überwältigt sie nicht nur den einzelnen, sondern auch die Institutionen. Und aus diesem Grund entzieht sich die Metamorphose, obwohl sie sich unmittelbar vor unseren Augen abspielt, den Konzeptualisierungen der Sozialwissenschaften fast vollkommen. Und aus diesem Grund auch haben so viele heute den Eindruck, dass die Welt aus den Fugen ist. (S. 81)

Und so verläuft die Metamorphose auf drei Ebenen zugleich: Kategorial in unserem Weltbild, institutionell in unserem „in-der-Welt-Sein“, und normativ-politisch, indem neue Handlungsoptionen entstehen. Eine sehr spannende Vorstellung.

Etwas beunruhigend ist für mich in diesem Zusammenhang, dass die meisten Beschreibungen des Wandels, die mir im kirchlichen Kontext begegnen, eher darauf beruhen, dass man die Entwicklungen der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit extrapoliert und fortschreibt und sich dann Gedanken macht, wie damit möglichst kontrolliert umzugehen wäre. Wenn Beck Recht hat (und es spricht viel dafür), dann wird das vorne und hinten nicht ausreichen. Dann müssten wir darüber nachdenken, wie wir uns alle darauf vorbereiten, mit dem gänzlich Unerwarteten und Unkontrollierbaren fertig zu werden. Davon höre und lese ich wenig.

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Albtraum anno 2017

Viel früher als normal wachte ich heute morgen auf mit vagen Erinnerungen an den Traum, den ich gerade gehabt hatte. Das ist nicht sehr häufig der Fall. Aber noch bemerkenswerter war der Inhalt des Traumes. Vielleicht ist es deshalb sinnvoll, das festzuhalten.

Ich war mit einer Gruppe von Leuten in einem flachen Landstrich entlang einer Staatsgrenze zu Fuß unterwegs. Deutschland war es nicht. Plötzlich rief jemand nach mir und ich sah auf der anderen Seite der Grenze, die ein loser Stacheldraht markierte, einen Verletzten liegen. Der Mann brauchte medizinische Hilfe, Schutz gegen die Kälte und etwas zu essen. Ich versuchte, meinen Arm unter dem Draht durchzuschieben und ihm etwas zu geben von dem, was ich zufällig bei mir trug. Für einen humanitären Einsatz war ich gar nicht ausgerüstet.

Dann aber stürmten – noch in einiger Entfernung – Bewaffnete aus dem Gebüsch, riefen irgendwelche Kommandos und begannen zu schießen. Ich ging in Deckung und versuchte, unsere nahegelegene Unterkunft zu erreichen. Die anderen Mitglieder der Gruppe kamen ebenfalls aus unterschiedlichen Richtungen angerannt.

Was mit dem Verletzten geschah, weiß ich nicht. Das war der Moment, an dem ich aufwachte und nicht mehr einschlief. Ich kann mich nicht erinnern, überhaupt jemals eine Kriegsszene geträumt zu haben.

Aber es ist eben 2017.

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Die affige Mauer nach Mexiko

Mexikos Präsident hat das Treffen mit dem mächtigsten Mann der Welt abgesagt. Das ist keine Überraschung, wenn man betrachtet, wie zwischenmenschliche Kooperation funktioniert: Die meisten Menschen lehnen unfaire Angebote ab, selbst wenn sie dafür selbst Nachteile in Kauf nehmen müssen. Mexiko „mauert“ auf der Kommunikationsebene zurück: Eskalation statt Kooperation.

Der Anthropologe Mike Tomasello hat das intensiv erforscht: Wir Menschen zeichnen uns durch eine ausgeprägte Kooperationsfähigkeit aus. Wir sind dabei auch in der Lage, mit einer gewissen Selbstlosigkeit zu handeln, oder besser ausgedrückt, mit einem Blick auf das Gemeinwohl. Das unterscheidet uns von Primaten:

Affen sind rationale Maximierer und am Teilen so gut wie gar nicht interessiert. Im Gegensatz zu Menschen, die sich von früh an hüten, allzu unfaire Angebote zu machen, weil sie wissen, dass ihre Mitspieler genauso wie sie selbst solche durchaus zurückweisen, obwohl sie dann gar nichts bekommen.

„Teilen lernt nur, wer es schon kann“ steht über dem Bericht, den die FAZ damals zu Tomasellos Thesen geschrieben hat. Im Blick auf Donald Trump lässt diese Feststellung leider nur wenig Hoffnung aufkommen. Selbst Wahrheit und Fakten sind sein Exklusivbesitz.

Im Blick auf seine Wähler jedoch stellt sich die Frage nach der Fairness um so mehr: Wer sich als Verlierer fühlt, der sabotiert das Spiel eben auch dann, wenn er sich selbst dabei am meisten schadet. Genau davon profitieren die Rechten derzeit so massiv. Leider sind in diesem komplexen Spiel (anders als in bilateralen Szenarien wie zwischen zwei Regierungen) so viele verschiedene Akteure beteiligt, dass die Strafaktion oder der Protest sehr wahrscheinlich die falschen trifft – nämlich die, die auf allen Seiten der Mauer am Verwundbarsten sind.

Generell lautet der kategorische Imperativ in einer kosmopolitisierten Zeit „cooperate or die“, wie Ulrich Beck in Die Metamophose der Welt kurz und knackig formulierte. Mit Unabhängigkeitserklärungen hingegen lösen wir die unsere Probleme im 21. Jahrhundert nicht mehr. Wer, wie Tomasellos Primaten, vor allem auf einseitige Maximierung des Gewinns aus ist und jeden Deal als Nullsummenspiel betrachtet, der kann damit kurzfristig Erfolg haben.

Allerdings geht das dann zwangsläufig auf Kosten der Gemeinschaft, wie das Gefangenen-Dilemma zeigt. Wer also nicht vertrauen und teilen kann, der ist wirklich arm dran.

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