Gestern abend bekam ich eine e-Mail von einem Freund aus Winnenden, der die Betroffenheit in der Nachbarschaft und unter den Freunden seiner Kinder (bzw. deren Familien) beschrieb. Ich war erleichtert, dass seine Familie verschont geblieben ist, aber der Amoklauf hat die ganze Stadt natürlich traumatisiert, schreibt er.
Noch ein Gedanke ließ mich den ganzen Tag nicht los, nämlich der an die Eltern des jugendlichen Täters. Über ihre möglichen Fehler will ich bewusst nicht spekulieren. Aber während alle anderen Eltern, die um ihre Kinder trauern, sich der grenzenlosen Solidarität aller sicher sein können, hat dieses Paar Hausdurchsuchungen, Vernehmungen und Verdächtigungen (von denen manche zutreffen mögen und andere nicht) ertragen müssen. So mancher, der schon mal ein Problem mit ihnen hatte, wird sich bestätigt fühlen. Reporter werden aus den Nachbarn pikante Details herauskitzeln, aus denen sie uns ihren eigenen auflagenträchtigen Aufguss der Geschichte servieren. Wer aber hört ihnen einfach einmal zu, ohne zu urteilen? Wer gesteht ihnen das Recht und den Raum zu, selbst zu trauern, wer nimmt die Tragik der Situation, die auch sie überrollt hat, ernst? Und wenn es jemand wagt, ihnen beizustehen, was wird er sich so alles anhören dürfen?
Selbst wenn die Untersuchungen später einmal mit einer Entlastung enden sollten, die Familie wird immer mit der Bluttat identifiziert werden. Eigentlich kann man in einer solchen Situation nur noch wegziehen und seinen Namen ändern. Und dann lebt man in der Fremde mit einem dunklen Geheimnis, denn die Bilder gingen ja um die ganze Welt. Es sei denn, das Unmögliche gelingt in Winnenden, freilich nicht über Nacht: dass die Eltern der Opfer ihnen die Hand zur Versöhnung reichen. So etwas kann man nicht fordern. Aber es ist auch nicht undenkbar.
Deutschland, so las ich gestern in einem der vielen Berichte, ist nach den USA das Land mit den meisten Amokläufen in den letzten Jahren. Das will so gar nicht zu unserem kollektiven Selbstbild passen. Die Antwort auf dieses Rätsel werden wir nur finden, wenn wir nicht einfach mit dem Finger auf den einzelnen Täter und sein unmittelbares Umfeld zeigen.
Das Beste, was ich bisher dazu gehört/gelesen habe. Danke.
In den Medien setzt sich jetzt wieder die ganze Diskussions-Maschinerie in Bewegung und wird doch zu keinem Ergebnis gelangen, sie befriedigt lediglich den Durst der Massen und produziert dabei weitere Opfer, z.B. die Angehörigen.
Super Artikel!
Psalm 147 V 3 Der da heilt, die zerbrochenen Herzens sind, und ihre Wunden verbindet;
Mögen die Betroffenen und Trauernden Menschen mit Fürbitte finden! Möge den Menschen die göttliche Liebe und das väterliche Erbarmen des Allmächtigen zuteil werden.
Respekt! Das ist wirklich ein Gedanke, der nachdenkenswert ist. Wenn ich bedenke was so auf anderen Blogs zu lesen ist…
Im Radio habe ich gehört, dass die Eltern tatsächlich aus dem Ort weg sind, an einen nur der Polizei bekannten Ort. Sie verzichten auf Polizeischutz, weil sie Raum für ihre persönliche Trauer suchen.
Danke für diesen Artikel.
Ja, ich hoffe mal, sie sind mit ihrer Tochter irgendwo gut aufgehoben und finden echte Hilfe.