Letzten Sonntag habe ich eine sehr inspirierende Predigt über Jesaja 56 gehört, zum Thema Barmherzigkeit. Am Ende stand mir wie aus dem Nichts der Satz vor Augen “Wir haben hier nichts zu verschenken”. Hier treffen sich das Judentum des 5. Jahrhunderts vor und Deutschland im 21. Jahrhundert nach Christus: Man muss nur die Zeitung aufschlagen oder die Nachrichten anschalten. Ganz zu schweigen vom gewaltigen Appell der Live8 Konzerte (auch wenn offenbar nicht jeder den Akteuren oder dem Publikum uneingeschränkte Ernsthaftigkeit unterstellen möchte und Alibi-Aktionen oder Trittbrettfahrer vermutet). Dabei geht es für uns nicht alleine um Geld und Status (die Verengung ist schon Teil des Problems), sondern auch um Anteilnahme, Zeit zum Zuhören, Geduld, Privilegien und vieles andere.
Gegen die herrschende Mentalität setzt der Prophet nun die schlichte Aufforderung zum Teilen. Sie ändert die wirtschaftliche Situation zunächst einmal gar nicht – scheinbar. Aber die Verheißung ist dann doch, dass das Dunkel hell wird, und zwar für alle Beteiligten. Er stellt den Satz auf den Kopf, etwa in diesem Sinn: Wir können es uns nicht leisten, nicht zu helfen.
Das Schlimme an der “Nichts zu verschenken”-Haltung ist die Abstumpfung, zu der sie führt. Aus Abstumpfung wird irgendwann Ohnmacht und Resignation. Zu viele kapitulieren vor der Größe und der Komplexität nicht nur nationaler oder globaler Not, sondern beschränken ihre Lebensperspektive auf das rein Private. Ordnungen, die allen ein Auskommen sichern sollten, werden auf Löcher abgeklopft und egoistisch ausgeplündert, wie etwa unser Gesundheitssystem. Mein Hausarzt erzählte mir gestern mit einem Augenzwinkern von Armutsängsten, die unter seinen Kollegen grassierten.
Wie können Christen in einer Kultur zunehmender Korruption, Steuerflucht, geilem Geiz (es sieht aus, als würde Marx in seiner Analyse, wenn auch nicht in seiner Lösung, täglich bestätigt…) gegen den Strom schwimmen? Die Bibel quillt über von Aufforderungen und praktischen Hinweisen: Barmherzigkeit, Gastfreundschaft, Geduld und Bereitschaft zu Vergebung und Versöhnung. Sie verweist uns auf Gottes Vorbild in selbstloser Liebe und darauf, dass seine Ressourcen tatsächlich unbegrenzt sind. Vielleicht müssen wir uns das im Augenblick täglich neu sagen lassen.
Aber ich muss dem Motto “Nichts zu verschenken” aktiv, laut hörbar und konkret etwas entgegensetzen, wenn es sich nicht in meine Seele hineinfressen soll: Das Bekenntnis zur Freiheit Gottes, dem nichts unmöglich ist, gegenüber den Zwängen, die wir erleben, macht das scheinbar Unmögliche wieder denkbar oder, besser gesagt, glaub-haft. Die in Sachzwängen erstickte Kreativität hat wieder einen Raum bekommen. Und dann darf jeder nach Herzenlust Zeit, Geld und alles andere verschenken, sich an scheinbar hoffnungslos idealistischen Aktionen wie “Make Poverty History” oder (auf Christlich, wenn’s denn sein muss) “Micah Challenge” beteiligen oder kleine überschaubare Projekte für mehr Gerechtigkeit beginnen und vieles mehr. Mal ganz abgesehen vom äußeren “Erfolg” bekommen wir dabei wieder einen klaren Kopf. Etwa so:
Der Sinn oder das Ansinnen des Geistes ist Leben und Frieden präzise deshalb, weil es uns in eine Welt hineinstellt, die unserer Natur als unaufhörlich schöpferische Wesen unter Gott entspricht. Das “Trachten des Fleisches” andererseits ist lebendiger Tod. Der Himmel ist ihm verschlossen. (…) Es beschränkt uns auf die sichtbare, physische Welt wo das, was unser Herz verlangt, nie sein kann. Dort stellen wir fest, wie Tolstoi angewidert sah, dass wir ständig gegen unser Gewissen verstoßen müssen, um zu “überleben”.
(Dallas Willard, The Divine Conspiracy, S. 96f.)