Muss man sich Liebe leisten können?

Die Redaktion des Duden postete – aus aktuellem Anlass – am Freitag auf Facebook die Definition einer christlichen Kardinaltugend:

In Anbetracht der aktuellen Nachrichtenlage möchten wir heute ein Wort erklären, das wir für sehr wichtig halten:
Nächstenliebe, die: innere Einstellung, aus der heraus jmd. bereit ist, seinen Mitmenschen zu helfen, Opfer für sie zu bringen.
Synonyme: Anteilnahme, Erbarmen, Mitgefühl, Teilnahme.

Die Frage, über die in endlosen Variationen gestritten wird, ist derzeit freilich die, ob Nächstenliebe eine romantische und/oder religiöse, in jedem Fall aber sentimentale Illusion ist, der nachzugeben unklug und teuer wäre. In diesem Fall würde Nächstenliebe als Kriterium für „Realpolitik“ (wie es dann so gern heißt) ausscheiden. Die plakativen und zum Teil bewusst anstößigen Aktionen des Zentrum für Politische Schönheit etwa klagen die bedingungslose Pflicht zur Hilfe gegenüber Flüchtlingen ein, und das in einer Weise, die an die Kompromisslosigkeit der biblischen Propheten erinnert: Wo es um Menschenleben geht, ist alles Rechnen, was wir uns denn leisten können, fehl am Platz.

Just diese Diskussion behandelt David Bentley Hart in Experience of God. Er beschreibt, wie Nächstenliebe in einem materialistisch-mechanistischen Weltbild als verwirrender „Altruismus“ erscheint. Denn eigentlich lässt diese Vorstellung von der Welt kaum eine Vorstellung von Moral zu, außer in der Form von Verhaltensweisen, die sich im Zuge der natürlichen Selektion als vorteilhaft erwiesen haben. Man kann vom Nützlichen reden, aber das ist nicht dasselbe wie das Gute.

Simone Martini [Public domain], via Wikimedia Commons
Die Frage ist für Hart nicht, ob Altruismus sich hin und wieder auch als nützlich erweisen könnte (das tut er zweifellos), sondern wie er mit rein materialistischen Prämissen zu erklären und zu beschreiben ist. Für Richard Dawkins gehört nur der Egoismus zur Grundstruktur der Evolution, und auch für den Wissenschaftsjournalisten Robert Wright liegt aller Nächstenliebe die Erwartung zugrunde, selbst von den Folgen des eigenen Tuns zu profitieren. Hart nimmt sich ein paar Seiten Zeit, Wrights Argumentation zu zerpflücken und ihre logischen Brüche darzulegen. Freilich könne man immer postulieren, dass jedes Verhalten sich entweder als Eigeninteresse erklären lässt oder als eine zufällige Begleiterscheinung desselben. Wie aber lässt sich dann das menschliche Bedürfnis erklären, nicht selbstsüchtig zu wirken?

Das hieße auf aktuelle Diskussionen wie etwa Flüchtlinge und Schuldenerlass angewandt: Tyrannisieren idealistische „Gutmenschen“ sich und andere mit einem illusionären moralischen Anspruch , der weder nützlich noch einlösbar ist? Ist ihre scheinbare Selbstlosigkeit, wie oft unterstellt wird, nicht nur eine besonders raffiniert verbrämte Selbstsucht (und wäre diese Selbstsucht daher verwerflich)? Hart geht dem Gedanken nach, Altruismus beruhe auf eines Selbsttäuschung:

… wenn wir überzeugt sein müssen, dass wir aus uneigennützigem Antrieb handeln, dann muss es in uns eine echte Veranlagung zum Altruismus geben, der wir um unseres inneren Gleichgewichts willen nachkommen müssen. Wir können uns nur dann vortäuschen müssen, dass unser Handeln selbstlos ist, wenn wir in unseren moralischen Intentionen tatsächlich selbstlos sind; die Illusion der Selbstlosigkeit würde daher die Wirklichkeit der Selbstlosigkeit beweisen, zumindest als ein Ideal, das uns leitet. (S. 269)

Wenn es um Nächstenliebe und Menschenrechte geht, geht es nicht mehr nur um das Nützliche und Pragmatische, sondern es geht um Ideale und etwas Absolutes. Nun muss man gewiss kein religiöser Mensch sein, um sich dafür einzusetzen. Aber Hart erinnert daran, dass man über die Ökonomie der Nützlichkeit hinausgeht und und -denkt, wenn man die Wirklichkeit des Guten und Unbedingten voraussetzt:

Jede wahrhaft ethische Handlung ist ein Akt hin zum Transzendenten, ein Willensentschluss, zu dem man sub specie aeternitatis gelangt, und eine Aufgabe, die man um einer Sache willen übernimmt, die jenseits dessen liegt, was wir als Natur kennen. Ethik hat, wie das Wissen auch, notwendigerweise eine transzendentale Logik. Jede Tat, die um ihrer moralischen Güte willen getan wird, ist ein Glaubensakt.

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