Fraktionszwang

Im Grunde geht es bei der mit vielen Kommentaren bedachten Tragödie um Ted Haggard gar nicht um Sex, sondern um Heuchelei. Der “Fall” ist deswegen so peinlich, weil da jemand heimlich Dinge tat, die er öffentlich immer wieder mit starken Worten verurteilte. Irgendwie gibt es ja in jeder Gemeinschaft bestimmte Sachen, die besonders schlimm sind. Bei konservativen Evangelikalen und Katholiken hat das viel mit Sex zu tun. Andere Traditionen haben andere Tabus, und andere Pappkameraden.

Daraus entwickeln sich leicht bestimmte Sprachrituale. Wenn man als Prediger Zustimmung haben möchte, dann gelingt das am einfachsten damit, dass man die dunklen Folien aktiviert und die moralische Überlegenheit der eigenen Gruppe dadurch beschwört, dass bestimmte Dinge angeprangert werden: vorehelicher Sex, Kapitalismus (inzwischen: Neoliberalismus), Alkohol, Nazis, Atomkraft, Abtreibung, Geiz – aber bitte immer nur eines davon. Das stabilisiert nach innen: Alle Insider nicken schon aus Gewohnheit (und wer doch ein Problem damit hat, beißt sich auf die Zunge und zieht kurz den Kopf ein). Und alle anderen wissen, wo es lang geht. Was wiederum von den Insidern befriedigt bemerkt wird, die – in ihrem moralischen Urteil bekräftigt – feststellen, dass das eine richtig gute Predigt war.

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Wenn also in eine Gruppe von Öko-Aktivisten jemand mit den falschen Leuten falschen Sex hat, ist es deswegen nicht so schlimm, weil er damit nicht zum Heuchler wird. Er verrät nämlich nicht die eigenen Kernüberzeugungen und vor allem nicht die der Gruppe. Selbst wenn die anderen das nicht gut finden, hat es kaum Konsequenzen für seinen Verbleib in der Gemeinschaft. Und wenn die Frau eines evangelikalen Pastors im Pelz einer bedrohten Spezies daherkommt, wird auch kein Verfahren zur Gemeindezucht angestrengt. Umgekehrt aber wäre beides ein Skandal. Daher ist es auch besonders schwierig, eben diese Sünden in der jeweiligen Gruppe ans Licht zu bringen oder auch nur an der jeweiligen Moral zu zweifeln. Und wenn es dann doch geschieht, wird es heikel.

Zum Beispiel ein antiautoritärer Pädagoge hat einen Filmriss, schreit wie ein Feldwebel herum oder prügelt gar auf ein Kind ein. Die verunsicherte Gruppe muss den Heuchler oder Abtrünnigen, der den Fraktionszwang öffentlich bricht (dann erst tut es richtig weh, weil man es nicht mehr leugnen oder übersehen kann) strafen, um den eigenen Zusammenhalt zu sichern. Deswegen kamen die Mordpläne gegen Jesus in dem Moment auf, als er den Sabbat “brach”. Umgekehrt ist man gern dort barmherzig, wo die eigenen Vorurteile und Empfindsamkeiten nicht verletzt werden. Noch mehr, wenn es gar die eigenen Werte bestätigt: Deshalb wird “Überläufern” aus einem anderen “Lager” so bereitwillig Amnestie erteilt. Deswegen lesen viele “Fromme” so gerne Bücher von Leuten, die ihr wildes Leben vor der schlussendlichen Bekehrung so lebendig schildern. Denn durch die Bekehrung am Ende ist das Interesse am Vorleben ja geheiligt 🙂

Würden wir also lernen, dass alle Arten von Sünde gleich schlimm sind (nicht: gleich harmlos!), würden wir uns dann leichter tun, mit Sündern aller Art gleich barmherzig (nicht: hart!) zu sein? Würden wir weniger Heuchelei unterschiedlichster Gestalt züchten, und andere seltener verurteilen, weil deren Sünden scheinbar schlimmer sind als unsere eigenen?

Zum Schluss: Ted Haggard hat an seine Gemeinde geschrieben, dass er gegen alle seine tiefsten Überzeugungen gehandelt hat. In gewisser Hinsicht stimmt das sicher auch. Aber ich merke bei mir, dass manche dieser Überzeugungen gar nicht so tief sitzen und ich vielleicht deshalb immer wieder versucht bin, sie zu ignorieren, weil Ich nicht wirklich glaube, was ich glauben möchte und vor allem glauben sollte: Dass ich vielleicht doch etwas verpasse, wenn nicht jedem Bedürfnis und jedem Appetit nachgebe. Oder dass ich der Dumme bin, wenn ich nicht zurückschlage. Dass ich ärmer werde, wenn ich mit anderen teile. Und so weiter.

In dieser Hinsicht ist jede Sünde ein Zeichen dafür, dass ich im Herzen eben nicht glaube, was der Kopf oder die Bibel, das Gesetz oder das Gruppenethos für gut und richtig erklärt. Und in diesem Sinne handele ich dann nach meinen eigentlichen Überzeugungen. So gesehen würde es helfen, wenn wir offener über Zweifel reden. Vielleicht sind manche ja sogar berechtigt. Und vielleicht würde dann vermeintliche Glaubensstärke nicht so oft in krampfige Lebensschwäche umschlagen – bei wem auch immer.

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3 Antworten auf „Fraktionszwang“

  1. Ein sehr gelungener Blog!
    Du solltest öffters mal Klartext reden, dann bekommen deine Beiträge eine ganz andere viel klareren Charakter. Aber ein Blog ist halt ein Blog mit einer gewissen Unvollkommenheit, das ist auch gut so.
    Ich denke, was du da von dir gibst, könnte den Evangelikalen weiter helfen. Weil es nicht verletztend oder besserwisserisch ist, sondern Empathie und Nähe zu dem Problem vermittelt.
    Mein Wunsch ist es, dass es mehr Leiter oder „Leider“ gibt, die diese Zusammenhänge erkennen.
    Du bist aus meiner engen Sicht jemand, der diese Zusammenhänge erkannt hat. Hoffentlich hilft dir das aber auch „symetrisch“ zu bleiben und nicht abzuheben.

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