Im aktuellen Aufatmen-Heft schreibt Markus Spieker unter dem Titel “Tiefgang und Testosteron” (bitte – geht es denn hier nur um Männer?) unter anderem davon, dass der deutsche Evangelikalismus durch eine geistige (nicht geistliche) Enge bei christlichen Intellektuellen für lange Gesichter sorgt und am Glauben interessierte (noch-nicht-christliche) Intellektuelle kaum noch erreicht. Da hat er wohl Recht.
Noch nachdenklicher hat mich gemacht, dass etwas später eine Liste geistig-geistlicher Vordenker und Vorbilder folgt (Pascal, Kierkegaard, C.S. Lewis, Bonhoeffer), von denen auch noch extra vermerkt wird, dass sie keine Evangelikalen seien. Was zu der Frage verleitet, ob intellektuelle Impotenz (ah, deswegen “Testosteron”?) schon in der Genetik der Bewegung verankert liegt.
Der Neupietismus bei uns und die folgenden evangelikalen Wellen haben zwar tapfere Praktiker und den einen oder anderen Evangelisten, aber keine brillanten Denker hervorgebracht, die – wie z.B. Josef Ratzinger oder der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber – auf Augenhöhe mit den führenden Köpfen ihrer Zeit reden können. Diese beiden nämlich kommen aus exakt den “Lagern”, gegen die man sich jahrzehntelang abgeschottet hatte: Katholiken und “Liberale”.
Der Rückzug in eigene, lehrmäßig unbedenkliche (aber akademisch irrelevante) Bildungseinrichtungen hat diese Schwäche sicher begünstigt. Und Markus Spieker verschärft (ungewollt, denke ich) das Dilemma, wenn er auf die Früchte evangelikaler Elite-Colleges in den USA verweist, die etwa einen Redenschreiber für George W. Bush (der, wie wir alle wissen, sich bevorzugt mit “Intellektuellen” à la Rumsfeld umgibt und dessen Reden sich durch einen breiten philosophischen Horizont auszeichnen…) hervorgebracht haben.
Also doch lieber alternative Ansätze von christlicher Studentenarbeit wie etwa Fusion als teure “Kaderschmieden”? Wir werden also nach der treffenden Analyse noch ein Weilchen über sinnvolle Lösungen nachdenken müssen, wie die aus der Frontstellung gegen “liberale” Theologie erwachsene Bildungsfeindlichkeit gegenüber Geisteswissenschaften (unter Naturwissenschaftlern sieht das anders aus, aber die haben die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 40 Jahre nicht annähernd so nachhaltig beeinflusst) an der “frommen” Basis behoben werden kann. (Vielleicht sollten wir vor allem Frauen besser fördern, denn die sind erwiesenermaßen die besseren Schüler und Studenten!!!)
Demnächst wird die Diskussion durch das Buch “Der E-Faktor” weiter angeschoben. Ich freue mich schon darauf!
Melde mich mal als „christlicher“ Geisteswissenschaftler zu Wort: Ich fand den Artikel an den gleichen Stellen gut (Fehlen einer evangelikalen Intelligenz*). Schlecht fand ich vor allem, das amerikanische Modell als vorbildlich auszuzeichnen – und dies nicht nur im Inhalt, sondern auch im Stil. Der war nämlich leider (mal wieder) alles andere als das, was ich mir von einem geistig geweiteten Evangelikalimus vorstelle, namentlich differenzierte Argumentation, die nicht schon vor der Beschäftigung mit einer Frage weiß, was als Antwort rauskommen muss. Stattdessen: Agressive, etwas besserwisserisch angehauchte Rhetorik, die weniger zu überzeugen als vielmehr zu erschlagen sucht. Schade… Aber die Zielrichtung ist gut (und in Amerika gibt es ja wirklich auch Vorbilder für evangelikale Intellektuelle!). Äh, soweit mal…
*dazu übrigens: Mark A. Noll – The Scandal Of The Evangelical Mind.
Alex – danke für den Buchtipp – muss ich mir unbedingt mal ansehen. Zurzeit hänge ich noch bei den Kelten fest, aber ein Ende ist in Sicht…