Überraschend, vor allem für die Betroffenen selbst, hat die Evangelische Allianz in Großbritannien (EAUK) letzte Woche den Oasis Trust ausgeschlossen, nachdem sich dessen Gründer Steve Chalke im vergangenen Jahr für eine Anerkennung homosexueller Partnerschaften ausgesprochen hat.
Seither hat es offenbar immer wieder Verhandlungen gegeben, die nun einseitig für gescheitert erklärt wurden. Mit Steve Chalke verliert die EAUK ihren wohl prominentesten Dissidenten und jemanden, der im Laufe der Jahre enorm viel frischen Wind in die Szene gebracht hat, nicht zuletzt hat er das öffentliche Image der Evangelikalen durch seine sympathische Medienpräsenz mit geprägt.
Durch den Ausschluss definiert die EAUK freilich auch explizit, was für sie als „evangelikal“ gilt und was nicht. Es gibt Fragen, in denen man verschiedener Meinung sein kann, und Themen, wo das nicht geht. Eine offene Haltung gegenüber Homosexualität gehört in die letztere Kategorie, in der ersteren befinden sich Themen wie Taufe, die Hölle, der Sühnetod, die Ordination von Frauen, gerechter Krieg, Wirtschaftsethik und viele andere Dinge. Es wäre durchaus einmal interessant zu recherchieren, wer im Laufe der Jahre weswegen aus der Evangelical Alliance ausgeschlossen wurde. Offenkundig macht sich „Bibeltreue“ für jene, die sie stets einfordern, nach wie vor besonders an der Sexualethik fest. Dabei hat die Bibel über Homosexualität vergleichsweise wenig zu sagen.
Das Statement der EAUK lässt erkennen, dass dort die Auffassung herrscht, Chalke habe den bestehenden Konsens aufgekündigt, als er die traditionelle Position verließ. Dieses „es war schon immer so“ ist ein strukturell konservatives Argument, das regelmäßig von Orthodoxien aller Art gegen Innovatoren und Querdenker ins Feld geführt wird. Nun ist Steve Chalke ja keineswegs der einzige Evangelikale, der den Ausschluss homosexuell lebender Menschen ablehnt. Bestenfalls war er einer der wenigen, die es laut und vernehmlich formulierten. Alle anderen sind nun gewarnt, und viele werden ihre von der Party Line abweichende Meinung wie bisher nur hinter vorgehaltener Hand äußern, um keinen Rauswurf zu provozieren.
Aktuell aber schlägt schon die nächste prominente Äußerung Wellen in den sozialen Netzwerken: Die Theologin, Musikerin (u.a. Worship Leader bei Spring Harvest), christliche Feministin und Publizistin Vicky Beeching hat sich, trotz ihrer konservativen Wurzeln, ebenfalls für einen neuen Kurs gegenüber der LGBT-Community ausgesprochen. Sie hat gerade eine Blogserie gestartet, in der sie ihre Haltung begründet. Es dürfte nicht das letzte Ereignis in dieser Richtung sein. US-Sängerkollege Dan Haseltine von den Jars of Clay hat den traditionell-konservativen Standpunkt ebenso aufgegeben wie Sir Cliff Richard, der die anglikanische Kirche schon 2008 aufforderte, gleichgeschlechtliche Paare zu trauen.
Da sind sie wieder, die E-Fragen: Wer oder was ist evangelikal? Und wer darf das definieren? Ist das Label „evangelikal“ überhaupt hilfreich? Und falls ja, will ich es mir aufkleben (lassen)? – Oder trag ich’s schon und müsste es mal abnehmen? 😉
Sicherlich gibt es große Unterschiede zwischen Deutschland und Großbritannien. Und nochmal größere zu den USA. Aber trotzdem hab ich mich sehr wiedergefunden in den viel beachteten April-Posts von Rachel Held Evans, wo sie – ausgehend von dem World-Vision-Aufruhr – den konkreten Schritt bedenkt, mit dem „evangelicalism“ zu brechen:
rachelheldevans.com/blog/what-now-world-vision .
Und es scheint in den USA viele ähnlich gesinnte, vor allem jüngere Leute zu geben, die die „klassischen evangelikalen Positionen“ nicht mehr vertreten können/wollen. Mein Eindruck ist: Die neuesten Homosexualitäts-Debatten befeuern diese Abkehr-Tendenzen stark und da knallt es gerade an vielen Stellen.
Aber wo knallt es in Deutschland?? Ich hab da nicht so den Überblick. Aber ich glaube, es wäre dran und es wäre gesund, um manche „heißen Fragen“ auf breiterer Linie zu ringen. Ich nehme es nämlich so wahr, dass „an der evangelikalen Basis“ viele – um es in Deinem Bild zu sagen – „frische Windböen“ noch gar nicht angekommen sind. Beim Thema Homosexualität natürlich nicht, aber auch nicht in Sachen Schriftverständnis oder Sühnetod. Und auf die Hölle wollen auch die wenigsten verzichten. 😉
Dabei glaube ich, dass sehr viele „Bibeltreue“ kaum Probleme hätten, ihrer bisherigen Bibelauslegung in manchen Streitfragen „untreu“ zu werden, wenn nur drei bedeutende christliche Leiter (bibeltreue natürlich *g*) entsprechend umgedacht hätten. (Und das öffentlich zugeben würden.) Für die einzelnen ist es, so mein Eindruck, oft weniger die eigen verantwortete Loyalität zur Bibel, die die Überzeugungen festigt, sondern das (vermeintliche?) Wissen: „Alle, denen ich in ihrem theologischen Urteil vertraue, sehen es so.“
Was für eine große Verantwortung für alle mit Leitungsverantwortung oder in anderen prägenden Positionen, ob nun als Leitende in der nationalen evangelischen Allianz, als Bloggerinnen oder als Teenkreismitarbeiter!