Jesus hat sich selten gescheut, Leute vor den Kopf zu stoßen. Bei einer dieser Gelegenheiten sagte er zu einem zögerlichen Nachfolger: „Lass die Toten die Toten begraben!“
Das ist kein populärer Predigttext in einer Kirche, deren Selbstbild darunter leidet, dass sie inzwischen auch am Ende des Lebens immer seltener gebraucht wird. Viele finden, wir sollten alles daran setzen, die Toten besser als alle anderen zu begraben. Und hoffen, dass wir dann auch wieder mehr gebraucht werden.
Es war tatsächlich eine Trauerfeier, die mich wieder ins Nachdenken brachte über diesen Bibelvers. Der herben Aufforderung lassen sich nämlich durchaus heilsame Aspekte abgewinnen:
- (Erwachsene) Kinder müssen das Leben ihrer Eltern nicht wiederholen (das geschieht ja oft eher unwillkürlich).
- Sie müssen es auch nicht vollenden und die Ziele erreichen, die die Generation vor ihnen nicht realisieren konnte.
- Sie müssen auch nicht reparieren und wieder gut machen, was die Alten zerstört und beschädigt haben. Zumindest nicht in erster Linie.
Kinder sind frei, sich von den Eltern zu lösen. Khalil Gibran hat das zeitlos schön und tiefsinnig formuliert:
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihrem Leib ein Haus geben, aber nicht ihrer Seele,
Denn ihre Seele wohnt im Haus von morgen,
das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen.
Jesus nachzufolgen und Gottes Reich zu entdecken heißt, im Haus von morgen zu wohnen. Sich nicht aus dem heraus zu verstehen, was war, sondern von dem her, der kommt. Daran scheitert auch jede reaktionäre Identitätspolitik.
So, und jetzt nochmal zurück zur Kirche:
Bestattungskultur ist zweitrangig, es geht um viel mehr. Kurt Marti hat einmal die Vermutung geäußert: „Ein Gott, der kirchenförmig gedacht wird, hindert die Kirche daran, gottesförmig zu denken.“ Der kirchenförmige Gott ist nämlich der Gott der Väter (seltener der Mütter…!) und der Vergangenheit. Mich macht es immer fassungslos, wie selbstverständlich unter Lutheranern in ekklesiologischen Debatten CA VII als axiomatischer, umhinterfragter Ausgangspunkt gesetzt und akzeptiert wird, und wie wenig zugleich von Jesus, der Nachfolge Christi und der Herrschaft Gottes die Rede ist. Mal abgesehen davon, dass so eine Traditionsverhaftung völlig unevangelisch ist – sie bringt auch keine neuen Bilder von Kirche hervor.
Wie wäre es stattdessen, jungen Pfarrer*innen bei der Ordination, Konfirmand*innen bei der Konfirmation und Kirchenvorsteher*innen bei der Einführung in ihr Amt (demnächst ja wieder aktuell) ausdrücklich zuzusprechen:
„Ihr müsst das Werk der »Väter« nicht imitieren, ihr müsst es nicht vollenden, ihr müsst euch für diese Kirche weder entschuldigen noch sie rechtfertigen. Sie ist, wie sie ist. Manches davon werdet Ihr in Würde begraben, anderes wird wieder aufblühen. Aber dann [und hier borge ich mir nochmal die Worte von Kurt Marti]
wispert
aus trauernder weide
fröhlich die stimme
folge mir nach.
Also hört den lebendigen Christus. Und folgt ihm, wohin er geht.“
Ich stimme weitgehend zu. Nur: Braucht es nicht, damit nicht alles rekapituliert wird, damit Bindungen gelöst, Wiederholungs- oder Erfüllungszwänge gebannt werden, sorgfältige Abschiedsrituale? Die könnten anders aussehen als die traditionellen. Aber bei stinknormalen Dorfbeerdigungen habe ich oft etwas von der lösenden Kraft gelingender Abschiede gemerkt.
Das wäre tatsächlich eine wichtige Aufgabe, so etwas gut zu gestalten. Noch einmal innehalten, hinschauen (wenn möglich, ohne groß zu werten), den verschiedenen Gefühlen Raum geben, und sich dann den Zukunft zuwenden.