Ich hatte diese Woche ein interessantes Gespräch zur Frage, inwiefern wir unter der Schuld vergangener Generationen leiden. Dass wir unter den Folgen des Handelns unserer Vorfahren leiden, ist an manchen Stellen unübersehbar. Mein Gesprächspartner ging aber (ob in der individuellen Seelsorge oder wenn es um größere Gemeinschaften geht) noch weiter.
Meine Position ist, dass in der Schrift der Gedanke von generationsübergreifender Schuldverstrickung zwar existiert (und das Individuum weniger isoliert gesehen wird als bei uns), aber innerbiblisch von den Exilspropheten unmissverständlich aufgehoben wird um im neuen Testament keine Rolle spielt. Mein Gegenüber fand, wir reden hier von Geheimnissen, die sich nicht lüften lassen (anders gesagt: man kann das nicht so deutlich sagen; noch anders gesagt: wenn wir nichts festlegen, können wir besser spekulieren?).
Dann beschäftigten wir uns mit einem konkreten Fall. In einem Dorf war im Dreißigjährigen Krieg der Vertreter eine Konfession von den Truppen der anderen Seite bestialisch ermordet worden. Und noch heute ist das Verhältnis zwischen den Konfessionen (jetzt sind es ein paar mehr) sehr schwierig. Er vermutet einen Zusammenhang mit diesem Ereignis. Um Aussöhnung zu erreichen, müsse man um Vergebung bitten und sie aussprechen.
Ich fand, man kann das auch anders sehen. Einzelne Gräueltaten waren systemisch betrachtet auch damals Ausdruck der Tatsache, dass Religion ein Politikum war und die Territorialherren mit Druck und notfalls auch Gewalt Abweichungen verhinderten und der Krieg den Hass schürte. Reste dieser Unfähigkeit, mit anderen Glaubensrichtungen umzugehen, haben sich bis heute erhalten, auf dem Land noch mehr als in der Stadt. Zur Legitimation der bestehenden Fronten wird dann auch altes Unrecht immer wieder einseitig aufgewärmt. Es ist keine Frage der Schuld (gut: der eigenen Schuld eventuell schon, nur nicht der der Väter); wohl aber muss man sich geschichtliche (Fehl-)Prägungen gründlich bewusst machen und überlegen, wie man seine Vorurteile gegenüber der anderen Seite ablegt und den Umgang mit einander anders gestaltet. David Schnarch nennt das “resolving the past in the present”.
Mir ist bei diesem Ansatz wohler, weil man nicht nach Leichen im Keller der Geschichte buddeln muss (“haben wir da etwas noch nicht bekannt/vergeben?”). Bei unseren komplexen Familien- und Stammeshistorien finden wir immer etwas, das als Erklärung heutiger Ängste und Probleme herhalten könnte. Doch wir sind nun nicht mehr die Opfer der Geschichte, sondern – und darum ging es Ezechiel und Jeremia – frei, die Verantwortung für unsere Generation hier und jetzt zu übernehmen, statt im Misthaufen der Geschichte zu stochern.
“Stellvertretende Buße” halte ich schon deswegen für ein problematisches Konzept, weil es bei “Buße” darum geht, seine Einstellung zu ändern. Das kann ich aber nur für mich selbst tun. Die Toten haben ihre Einstellung mit ins Grab genommen. Entweder wird der Begriff “Buße” in einer solchen Konstruktion auf ein bloßes Bekennen der Schuld anderer nivelliert, oder er ist schlicht sinnlos.
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Ein klarer Fall von theologischem Dualismus, oder? Denn dahinter steckt doch der Gedanke: Das beschriebene Problem der Unversöhnlichkeit lässt sich mit „menschlichen“ Mitteln (z. B. die eigene Einstellung überdenken, aktiv auf andere zugehen) nicht lösen. Man muss das „geistlich“ angehen. Und wenn man will, findet man dafür in der Bibel ja auch jede Menge Verse, die man zu einer entsprechenden Theologie verquicken kann. Da ist es dann das unschuldige Blut, das vergossen wurde, jetzt buchstäblich an der Erde haftet und den Segen Gottes abhält.
So einfach und biblisch, oder? Also lautet der Schluss: Will man das Problem lösen, muss man diese Ursachen angehen. Alles andere ist vergebliche Mühe – wäre typisch Mensch eben. Und genau das ist dann der Weg, der den Menschen aus der konkreten Verantwortung nimmt nach dem Motto: „Wir müssen nur die richtigen geistlichen Formeln anwenden, dann wird sich alles zum Guten wenden; und wir müssen uns nicht einmal die Hände schmutzig machen dabei. Warum sich also engagieren?“
Mir sind nicht wenige Leute mit dieser Theologie über den Weg gelaufen. Und viele von ihnen meinen es sicherlich redlich. Sie haben Probleme erkannt und wollen etwas zur Veränderung beitragen. Anderen kommt diese Theologie aber aus nicht immer schmeichelhaften Gründen gerade recht. Dazu zähle ich: a) Menschen, die Verantwortung aus Bequemlichkeit scheuen. b) Menschen, die Angst davor haben, Verantwortung zu übernehmen (vielleicht aus einem Gefühl der Hilflosigkeit). c) Menschen, die in diesem spekulativen Umfeld die Deutungshoheit für sich reklamieren und dadurch eine Chance sehen, Macht ausüben.