Die Suche nach der verlorenen Heimat

Gilles Kepel befasst sich seit langem mit fundamentalistischer Religiosität. 1991 schrieb er sein Buch „Die Rache Gottes“ und markiert die späten Siebziger als Beginn einer „Krise der Moderne“, die in den unterschiedlichen Religionen zu ähnlichen Phänomenen führt. Man versucht, die Moderne mit ihren eigenen Mitteln zu überwinden.

Der neue Kurs der katholischen Kirche seit dem Amtsantritt von Papst Johannes Paul II. oder die evangelikalen Bewegungen, die die Vereinigten Staaten bis ins Innerste erschüttern, werden – außerhalb der ständig größer werdenden Schar der Anhänger – herablassend als eine Erscheinungsform des mittelalterlichen Obskurantismus interpretiert.

Wenn man diese Phänomene aber miteinander vergleicht, erkennt man, dass dieses weitverbreitete Urteil nicht den Tatsachen entspricht. Die meisten Anhänger und Aktivisten der zeitgenössischen religiösen Bewegungen entstammen keineswegs ungebildeten Bevölkerungsschichten (Analphabeten, alten Menschen, Bauern usw.), sondern verfügen häufig über ein staatliches Diplom in vorwiegend technischen Studienrichtungen. Die Art und Weise, wie sie die Gesellschaft beschreiben, deren Krise analysieren und eine Therapie vorschlagen, ist geprägt von Denkmustern eines Bildungssystems, das selbst eine typische Errungenschaft der Moderne ist – die sie doch gerade bekämpfen wollen. (…)

Die religiösen Bewegungen zu studieren, die damals auf der ganzen Welt aus dem Boden schießen, heißt, durch sie hindurch die umfassenden Veränderungen zu erkennen, die die zeitgenössischen Gesellschaften in diesem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts durchmachen – Veränderungen, deren Auswirkungen die Öffentlichkeit zwar empfindet, deren Ursachen ihr jedoch schleierhaft sind. Diese mitunter so sonderbar, irrational und fanatisch anmutenden Bewegungen zu studieren heißt, ihre Argumentation und die von Ihnen angestrebten Alternativen Sozialisationsformen in dem Maße ernst zu nehmen, wie sie über eine Welt verzweifeln, in der sie sich nicht mehr zu Hause fühlen.

Auf dem Studientag emergente Theologie (8./9. Mai in Fulda) werden wir uns übrigens weiter und intensiver mit der Thematik auseinandersetzen.

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