Die NeoApokalyptiker

Jörg Lau zitiert in diesem Blogpost über den Konservativismus US-republikanischen Zuschnitts einen interessanten Beitrag von Mark Lilla aus der New York Times. Lilla unterscheidet dort zwei Formen von konservativ-reaktionärem Verhalten auf Umbrüche in Kultur und Gesellschaft, die man als revolutionär und bedrohlich empfindet: Da gib es restaurative Reaktionäre, die das Rad der Geschichte zurückdrehen möchten, und „redemptive reactionaries“, die die neue Ordnung über den Haufen werfen möchten. Sie wollten das Rad weder vor noch zurück drehen, sondern sprengen:

Ever since the French Revolution reactionaries have seen themselves working toward counterrevolutions that would destroy the present state of affairs and transport the nation, or the faith, or the entire human race to some new Golden Age that would redeem aspects of the past without returning there.

IN den USA findet derzeit eine Verschiebung vom restaurativem Konservativismus hin zu einem apokalyptischen Konservativismus statt, sagt Lilla. Viele Neokonservative waren frustrierte „Liberale“, denen aufging, dass so mancher Traum der politischen Linken (oder was in den USA als links gilt) sich in der Realität nicht einlösen ließ.

Sometime in the Eighties, though, neoconservative thinking took on a darker hue. The big question was no longer how to adapt liberal aspirations to the limits of politics, but how to undo the cultural revolution of the Sixties that, in their eyes, had destabilized the family, popularized drug use, made pornography widely available, and encouraged public incivility. In other words, how to undo history.

Heutige konservative Agitatoren wie Glenn Beck sind die Erben dieser Tradition, die ihr Land von Besatzern um jeden Preis „zurückerobern“ wollen. Praktisch läuft das auch nichts weniger hinaus als den Selbstmord des kräftig dämonisierten Staates, an dessen Stelle (erst) dann etwas Besseres treten kann:

During the 2010 congressional election campaign, Republican candidates (and some Democrats) were put under enormous pressure to sign the Americans for Tax Reform “Taxpayer Protection Pledge,” which obliges them to oppose any increase in the marginal personal or corporate tax rate, and any limits on deductions or tax credits that aren’t offset by other tax cuts. To date, all but six Republican representatives and seven senators have signed this collective suicide note, making the group’s president, Grover Norquist, nearly as successful as Reverend Jim Jones. That’s how the apocalyptic mind works, though. It convinces people that if they bring everything down around them, a phoenix will inevitably be born.

Das Gefährliche ist, dass diese Leute gar kein anderes Ziel mehr beschreiben können als die Destruktion all jeder Verhältnisse, die ihnen ein Dorn im konservativen Auge sind. Und das trifft, wie Lilla zeigt, fast auf die gesamte Kandidatenriege der Republikaner zu.

Während Lau dann den Bogen nach Ägypten und in den Iran schlägt, fand ich die Parallele von den „Neocons“ zur Kritik von David Fitch an der neoreformierten Bewegung und ihrem Exponenten Mark Driscoll (via Jason Clark) spannend, der in jüngster Zeit in Großbritannien mit einem kontroversen Interview auf sich aufmerksam gemacht hat.

Fitch analysiert Driscolls Positionen und Reaktionen und beschreibt ihn dann nicht als den Repräsentanten eines neuen Christentums im säkularen Umfeld, für den seine Mitstreiter und Anhänger ihn halten (und er selbst sich auch), sondern als den konservativen Insolvenzverwalter einer dahinschwindenden Gestalt von Kirche, die im Blick auf die spät- und postmoderne Gesellschaft nicht sprach- und anschlussfähig ist.

Symptomatisch dafür sind Driscolls stures und strikt exklusives Beharren auf traditionellen Sühnetheorien, sein hierarchisches Verständnis von Macht und Autorität (zumal im Verhältnis der Geschlechter) und einem Verständnis von Kirche und Gemeinde, in dem sich letztlich doch alles um den Pastor und seine Predigten dreht.

Kurz zurück zu Lilla: Keineswegs nur zwischen den Zeilen wird bei Driscoll spürbar, welche Aggressionen das liberale Feindbild auslöst. Genug Apokalyptik steckt in seinem Bibelverständnis sowieso. Und in einer Welt außerhalb von Seattle, wo seine Strategie (derzeit noch) aufgeht, etwa im postchristlichen Europa, teilt er zornig oder irritiert aus. Statt überholte Positionen in Frage zu stellen, werden sie um so martialischer verfochten.

Miroslav Volf zitiert in Exclusion and Embrace einen Satz von Giles Deleuze – es geht um Modernismuskritik mit biblischen Bezügen. Deleuze wird, sagt Volf, dem Neuen Testament damit nicht gerecht. Vielleicht jedoch jener Apokalyptik, die den „Himmel“ als jene Art totalitärer Theokratie ausmalt, die viele eher an sein Gegenteil erinnert:

Die Modernität der Apokalypse liegt nicht in den Katastrophen, die sie ankündigt, sondern in der programmierten Selbstverklärung, der glanzvollen Errichtung des neuen Jerusalem, in der wahnsinnigen Konstruktion einer endgültigen Herrschaft von Recht und Moral… Ohne es zu wollen überzeugt uns die Apokalypse davon, dass nicht der Antichrist das Schlimmste ist, sondern die neue Stadt, die vom Himmel herabkommt, die heilige Stadt.

Habe ich die Assoziationskette überstrapaziert? Zumindest so viel lässt sich vielleicht festhalten: Gerade der erbitterte Widerstand gegen einen vermutlich liberalen Zeitgeist könnte selbst mehr vom Zeitgeist bedingt sein, als die jeweiligen Protagonisten gern glauben möchten. Rein theoretisch, versteht sich…

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Eine Antwort auf „Die NeoApokalyptiker“

  1. „Habe ich die Assoziationskette überstrapaziert? Zumindest so viel lässt sich vielleicht festhalten: Gerade der erbitterte Widerstand gegen einen vermutlich liberalen Zeitgeist könnte selbst mehr vom Zeitgeist bedingt sein, als die jeweiligen Protagonisten gern glauben möchten. Rein theoretisch, versteht sich…“

    Ich glaube nicht, dass Du hier überstrapazierst.

    Das Phänomen, dass eine Bewegung, die sich stark durch Abgrenzung und Negation definiert, nolens volens in Abhängigkeit zu dem Negierten gerät (oder von vornherein von dorther geprägt wird), hat ja viele Vorgänger. Der Christliche Fundamentalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist ein gutes Beispiel dafür, wie überhaupt viele Fundamentalismen ohne ein festgezurrtes Feindbild nur schwer überlebensfähig sind.

    Und dass der Neo-Calvinismus zumindest eine gewisse Affinität zu fundamentalistischen Vereinfachungen und Überzeichnungen hat, ist ja offensichtlich.

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