Die Kinderbibel-Illusion

Immer wieder begegnet mir bei Jugendlichen, die mit Kindergottesdienst und Religionsunterricht groß geworden sind, ein eher gelangweiltes Verhältnis zur Bibel. „Kenn‘ ich doch schon alles…“, heißt es da oft. Und das stimmt auch in gewisser Weise. Sie kennen den Kanon im Kanon, der in Kinderbibeln, Kindergottesdienstmaterial und Lehrplänen tatsächlich mehrfach durchgehechelt wird.

Und weil sie an jedem dieser Denkmäler schon mehrfach vorbeichauffiert wurden, denken sie, sie haben alles gesehen. Wie Touristen, die schon die dritte Stadtrundfahrt durch London machen. In Wirklichkeit haben sie bei dieser Sightseeing-Tour nur die üblichen Postkartenmotive abgeklappert. London kennen ist dagegen eine ganz andere Sache.

Leider erscheinen die nicht gerade benutzerfreundlichen Paulusbriefe tatsächlich wie die weniger pittoresken Seitenstraßen im Vergleich zum bunten, (ver)einfach(t)en Hochglanzrepertoire des Kinderkanons. Das weckt nicht gerade die spontane Lust am Lesen. Der Umstieg auf die „richtige“ Bibel kann zwar erleichtert werden durch sprachlich aktuelle Übersetzungen („modern“ ist irgendwie kein passendes Wort dafür, finde ich). Aber es bleibt auch so noch eine Erwachsenenbibel, in deren Teig deutlich weniger Rosinen stecken als erhofft.

Der Weg ist nicht ganz leicht, vor allem beginnt er mit der Entdeckung, dass man die tatsächliche Bibel noch gar nicht richtig kennengelernt hat. Ein kleiner Ausschnitt ist zu oft traktiert worden, der Rest fiel unter den Tisch. Wenn es ganz dumm läuft, haben wir dann am Ende Menschen mit einer geringen Dosis Bibel sogar immunisiert?

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8 Antworten auf „Die Kinderbibel-Illusion“

  1. Vor allem sind die Kinderbibeln eine gute Vorbereitung auf die Volxbibel…. 🙂
    Fällt mir gerade auf, dass so mancher auf die Volxbibel schimpft, weil vieles „verbogen und verfälscht würde“, wenn aber in Kinderbibeln ständig Umschreibungen und „Weglassungen“ zu finden sind, meckert keiner….

  2. Ja, das vergaß ich zu schreiben: die wahre Bibel ist natürlich lateinisch, seit all der neumodische Kram im Umlauf ist, ging es mit der Kirche ja nur noch bergab 😉

  3. Vor einiger Zeit war ich als Gast in den Kindergottesdienst einer frommen evangelischen Gemeinde eingeladen in die Altersgruppe der 9 – 12jährigen. Ich war regelrecht erschüttert, denn ich hätte mir vorher nicht vorstellen können, dass Kinder in diesem Alter schon so immunisiert gegen biblische Geschichten sein können: Kennen wir alles – wissen wir alles. Unterschwellig war die Haltung: Unsere Eltern wollen hier in den Gottesdienst, und wir werden betreut und bringen das hinter uns. Da war keine Neugier mehr und auch keine Ahnung, dass man auch immer wieder Neues in biblischen Geschichten entdecken kann, selbst wenn man ihnen schon einmal begegnet ist. Aber vielleicht ist der wesentliche Punkt, dass sie Bibeltexte als statische „Denkmale“ erlebt haben und keinen Zugang zur Lebendigkeit gefunden haben?

  4. Eine richtige und interessante Beobachtung. Die Frage, die ich mir da stelle, ist: wie können wir es besser machen? Wie können wir als Erwachsene, die im Laufe unseres Lebens entdeckt, geschmeckt und erlebt haben, welche Schätze in diesem Buch mit den vielen Büchern schlummern, Jugendliche dazu ermutigen und herausfordern, sich auf die Bibel und ihren Reichtum einzulassen? Ich habe keine abschließende Lösung, würde mich aber sehr für Eure Ideen interessieren.

  5. Ich bin auch durch ca.7-8 Jahre Religionsunterricht recht gut imprägniert gewesen. Kenne ich also aus ureigener Anschauung. Ich hab mich dann erst mal 15 Jahre intensiv mit Existenzialismus, Schopenhauer und Buddhismus beschäftigt. Dann konnte ich endlich wieder Bibel lesen und – für mich – noch nicht entdecktes finden. Es gibt immer noch Bücher die mich an öden. Psalme z.B. dafür habe ich mords Spaß an den kontroversen Jesus. Jesus ist auch nach 2000 Jahren noch ein „Spießer-Schreck“ – wenn man sich von den – zum Teil absurden – Weichspühl-deutungen/-auslegungen anderer emanzipiert.

    Gruß von

    Olaf

  6. Natürlich lässt sich in der Bibel sehr lange immer auch neues entdecken. Aber sowohl bei den „Kenn ich schon alles“-Jugendlichen als auch bei den „Nein tust du nicht“-Antwortern scheint mir dieselbe Gefahr programmiert, nur das interessant zu finden, was als neu empfunden wird.
    Für dieThora-Schüler früherer Zeiten und auch die Bibelschüler nicht ganz so früher Zeiten war die Schrift irgendwann so vertraut, dass sie nichts neues mehr darin entdeckten, und doch blieb sie für sie immer interessant und vertraut und geliebt.
    Luther, der sie immerhin übersetzt hat, meinte, er wolle sein Leben lang ein Schüler des Katechismus bleiben, also eines im Grunde viel kleineren Kanons als dem unserer Kinderbibeln.
    Ich möchte denen, die sagen, „Kenn ich schon alles“, mit der Einstellung begegnen, dass ich es toll finde, wieviel sie schon kennen – und mit der Hoffnung, dass sie es auch toll finden.

  7. Hatte interessante Gedanken bei der Frage „Was würden wir mit Freunden machen, die „unsere“ Stadt nach drei Stadtrundfahrten erschöpfend zu kennen glauben und meinen, sie sei nicht (mehr) spannend?“. Manchen Gedanken werde ich (im Blick auf das Bibel-Thema natürlich :-)) weiter nachgehen.

    Abgesehen davon ist meine erste Idee für „Ich kenne schon alles“-Teens: Sie selbst verkündigen lassen. Und diese Andacht/Predigt/Bibelarbeit intensiv mit ihnen vor- und nachbereiten. Da kommen dann entweder von allein tiefere Fragen zu scheinbar Bekanntem. Oder es ergeben sich gute Gelegenheiten, selbst Fragen zu stellen, die „Spannung erzeugen“.

    Ich habe vor zwei Wochen bei einer Schulung für junge Ehrenamtliche (15-17 Jahre) mitgearbeitet, wo ich eher vom Gegenteil erschlagen war. Da war mein Eindruck, bei jeder Diskussion erstmal mit Adam und Eva anfangen zu müssen, weil bei vielen fast nichts an Bibelwissen da war, an das wir hätten anknüpfen können. DAS fand ich schwierig.

    Das alte Problem: Man wünscht sich gerade das, was man nicht hat. 😉

  8. Ja, Astrid hat gute Aspekte genannt.

    Letztendlich ist die „Kinderbibel“-Erfahrung übrigens schon ein sehr altes Phänomen:
    schon die ersten Jünger litten darunter – wenn auch mehr auf die Weise „kenn ich schon – und merke nicht, dass ich nichts verstanden habe“.

    Denkt mal an die beiden auf dem Weg nach Emmaus!
    Sie hatte rein nichts on dem verstanden, was die Schriften (des AT) und sogar Jesus selbst verkündet hatten: „O ihr Unverständigen und im Herzen zu träge, an alles zu glauben, was die Propheten geredet haben!“ (Lk 24,25).

    Die Lösung Jesu: er erklärte ihnen aus allen Schriften, was ihn betraf.
    Was war anders? Ich denke, plötzlich – nach der Kreuzigung – hatte die ganze Sache plötzlich eine völlig neue Bedeutung bekommen! Alle „alten“ Vorstellungen, mit denen sie sogar die Worte Jesu interpretiert hatten, waren zu Scherben zerbrochen. Alle Hoffnung auf die althergebrachte Vorstellung war dahin – und nun konnte Jesus zu völlig offenen Herzen reden!
    Manchmal müssen wir die ganzen „Geschichten“ einfach „anders“ hören, also aus einem völlig anderen Blickwinkel.
    Ein Beispiel (Samariterin am Brunnen) findet ihr hier:
    http://www.glaube.com/forum.html?tx_mmforum_pi1%5Baction%5D=list_post&tx_mmforum_pi1%5Btid%5D=4255

    God bless You!
    Andreas

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