Am Wochenende habe ich in der SZ den Artikel Höher als Gott. Die Ketzerei des Fundamentalismus von Matthias Drobinski gelesen. Er habt sich in mehrfacher Hinsicht sehr positiv von vielem ab, was zu dem Begriff sonst oft in unseren Medien so gesagt wird. Drobinski gelingt es, das Phänomen Fundamentalismus als ein typisch modernes zu erfassen und so differenziert zu beschreiben, dass er dabei weder verharmlost noch karikiert, dramatisiert oder diffamiert. Einzig zu den Pfingstkirchen fehlt ein Hinweis, dass es auch dort natürlich beides gibt: fundamentalistische und nichtfundamentalistische Denker.
Ich bin offensichtlich nicht der einzige, den das Thema bewegt hat. Auf die Gefahr hin, hier der „Lobhudelei“ verdächtigt zu werden, möchte ich kurz ein paar Punkte antippen, die die weitere öffentliche Debatte befruchten könnten (und hoffentlich auch werden). Fundamentalismus ist für Drobinski ein typisch modernes Phänomen, von dem man sich gar nicht so leicht überheblich distanzieren kann:
Fundamentalismus ist modern. Er ist ohne die Moderne nicht vorstellbar und die Moderne nicht ohne ihn. Er wohnt in uns Individualisten, weil er eine höchst individuelle Angelegenheit ist. Wir tragen ihn in uns, unauslöschlich, als abgründigen Teil der eigenen Freiheitsgeschichte, deren anderer Abgrund die Auflösung aller Grundsätze in endgültiger Vorläufigkeit ist.
Er ist uns eigentümlich vertraut, umso mehr, je mehr wir unsere eigenen Götter erschaffen. Denn das tut der Fundamentalismus auch. Und manchmal ist er dabei intelligenter als die durchschnittlich bornierte Alles-egal-Liberalität.
Das Moderne liegt auch darin, dass man versucht, die Ambivalenzen des geistlichen, gemeindlichen und alltäglichen Lebens aufzulösen, indem man auf eine Klarheit und Eindeutigkeit drängt, die in dieser Radikalität neu war:
Man kann sie sich kaum unterschiedlicher vorstellen, die amerikanischen Erweckungsprediger, jüdischen Heiliglandträumer, Islamisten. Und doch einte sie viel: Sie heiligten die Schrift. Sie teilten die Welt in Gut und Böse ein, sie verachteten das Unentschiedene des Liberalismus. Sie waren antistaatlich und antiinstitutionell, setzten auf die kleine Gruppe, die persönliche Erfahrung, die radikale Entscheidung. Sie gaben vor, das Ursprüngliche wieder zur Geltung bringen zu wollen – und brachen doch radikal mit den Traditionen ihrer Religionen.
Während die Aufklärung diese Ambiguität zum Anlass nahm, eine Abkehr vom Dogma zu fordern, schlugen die Fundamentalisten den entgegengesetzten Weg ein. Ähnlich den eifernden Reformpäpsten vor 1.000 Jahren wollen sie das Leben einem möglichst absoluten Dogma unterwerfen, in dem ein Gott sich restlos entschlüsselt hat, dessen größte Abneigung den Unentschlossenen gilt. Das zwingt sie zum Ausschluss alles Fremden im Namen der Reinheit:
Es gewinnt, wer sich abgrenzt, weltweit. In Afrika, Lateinamerika und den Ländern Asiens ist das so – weil Abgrenzung und Profilschärfe im Kampf der Religionen um Menschen, Einfluss und geistige Ressourcen die größte Durchschlagskraft erzielen. Im reichen Westen ist das so – weil untergeht, wer sich nicht unterscheidet.
Dieser Zwang zur Häresie, wie es bei Peter L. Berger heißt, oder die „Individualismusfalle“, wie Drobinski es nennt, äußert sich immer öfter auch als „Lebensabschnitts-Fundamentalismus“ einseitiger Bewegungen, die gar nicht unbedingt religiös sein müssen, so lange sie nur radikal sind. Was er aber nicht leisten kann und will, ist die Integration einer pluralen Gesellschaft und ihrer Spannungen und Gegensätze. Fundamentalismus polarisiert auf Kosten der Gemeinsamkeit, und in dieser Hinsicht ist er gesellschaftlich gesehen parasitär und destruktiv. Wer nicht mitmacht, gerät in einen doppelten Zwang zur Rechtfertigung.
Grund zur Hoffnung sieht Drobinski nicht in gesellschaftlichen Mechanismen – die scheinen den Fundamentalisten eher in die Hände zu spielen. Er sieht sie aber im Zentrum des christlichen Glaubens begründet, in der Auferstehung:
Der lebendige Gott, überhaupt jedes lebende Sinngebäude, lebt vom Fremden, davon, dass es unergründlich bleibt, weil das Leben unergründlich und nicht steuerbar ist – nur so kann es lebendig sein, traurig und glücklich, leidvoll und lustig. Ein ausgedeuteter, berechenbarer Gott ist tot, ein Untoter bestenfalls, der sein bisschen Lebenskraft aus denen saugt, die ihm zu Diensten sind. Und das ist ja die Osterhoffnung, die die Christen über die eigene Religion hinaus der Welt verkünden: Das Leben siegt.
Für den Bereich des Islam hat übrigens gestern der Islamwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza in der Zeit einen Aufruf zum Widerstand gegen den Säuberungswahn der Wahabiten veröffentlicht. Beten wir dafür, dass er gehört und beherzigt wird!
Um jede Form von Fundamentalismus zu vermeiden, ist es sinnvoll, die unterschiedlichen, konkurrierenden Botschaften und „Evangelien“ auf eine Aussage zu reduzieren, der jeder zustimmen würde, wie es hier geschehen ist: „Das Leben siegt!“
Wie das im einzelnen geschieht, drüber sollte man nicht streiten, Hauptsache, dass es siegt!
Und als moderne Christen lasst uns den modernen Theologen folgen, die wiederum in Anlehnung an die modernen Philosophen und Wissenschaftler gemeinsame Sache mit den Naturalisten in dem Bemühen machen, auch noch die letzte Spur einen objektiv und konzeptionell erkennbaren, geschichtlich identifizierbaren Gottes auszulöschen.
Viele Grüße, Christian
… antwortet der (Fundamentalist?), für den es nur die Alternative der Verbarrikadierung ins „objektive“ Dogma gibt oder die totale Kapitulation vor dem Zeitgeist. Ich habe Drobinski jedenfalls nicht so gelesen, als wolle er alles auf einen Wischiwaschi-Nenner bringen.
Einen „restlos entschlüsselten Gott“ gibt es für niemanden. Die Reformatoren, Paulus folgend, sahen es im Bereich ihrer Verantwortung, die Selbstoffenbarung Gottes in der Bibel auszuwerten und konzeptionell zu formulieren, in dem Wissen, dass das nur anthropomorph geschehen kann und dass es zu Gottes Wesenseigenschaften gehört, dass er letztlich „unerforschlich“ ist. Das Christentum ist die einzige Religion, die mit dem Bewusstsein leben kann, dass ihre Erkenntnis Stückwerk ist, weil sie weiß, dass diese dennoch wahr ist, solange sie analog zu Gottes Ofenbarung erfolgt. Christlich denken heißt: Gottes Gedanken nach-denken.
Dieses spezifisch christliche Mysteriumsverständnis gründet in dem Wissen, dass in Gott selbst Wesen und Erkennen deckungsgleich sind, d.h. dass es keinen Bereich innerhalb der Gottheit gibt, die nicht von Gott selbst erforscht ist .
Das ist der platonisch-frühscholastische Ansatz, brandaktuell vor 900 Jahren. Und der Nachweis, dass das Christentum tatsächlich „die einzige Religion [ist], die mit dem Bewusstsein leben kann, dass ihre Erkenntnis Stückwerk ist“, wäre erst noch zu erbringen, oder? Die Frage in dieser Diskussion ist, in welchem Maß es tatsächlich gelingen kann, Gottes (!) Gedanken nachzudenken. Da tendiere ich eher zu einer Haltung der Bescheidenheit.
Die Scholastiker waren insofern Rationalisten, als dass sie aus einzelnen dogmatischen Aussagen deduktiv Schlüsse zogen, die der biblischen Gesamtoffenbarung nicht gerecht wurden.
Der natürliche Mensch, und mit ihm jede nicht-christliche Weltanschauung, tendiert zu der Alternative, nichts oder alles erkennen zu müssen: Der Mensch als Schnittstelle zwischen purem Rationalismus und purem Irrationalismus, purer Kontingenz und purem Determinismus – Parmenides oder Heraklit.
Mensch und Gott (oder Götter) vereint im unendlichen Meer des Mysteriums.
Die moderne Theologie schließt dort an: Gott, der ferne, „ganz andere“ und doch ganz nahe, der völlig Erkannte, und doch völlig Unerkannte.
Bescheidenheit wird in dem Moment zur falschen Bescheidenheit, wo sie missachtet, was in der Bibel als klare, konzeptionelle Wahrheit von Gott über Gott, die Schöpfung, den Menschen, Christus und das Heilsgeschehen dargelegt wird.
Diese Vorgaben aufzunehmen und zum Bezugspunkt unseres Denkens und Redens zu machen, heißt das, was Paulus in 2Kor10,5 sagt:
„… zerstören die Anschläge und alle Höhe, die sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes, und nehmen gefangen alle Vernunft unter den Gehorsam Christi.“
… ja, und da sind wir wieder bei der fundamentalistischen Ausschließlichkeit, die schon vom Prinzip her nichts anderes gelten lassen kann.
Ja, der (post-)moderne Mensch will nichts von „Gefangenschaft seiner Vernunft“ unter irgendjemandes Gehorsam wissen. Autonomie ist sein höchstes, unveräußerliches Gut. Dem muss unsere Theologie gerecht werden. Andernfalls müssen wir auf die Zustimmung der „Gebildeten unter den Verächtern“ verzichten.
Na dann – schön dass wir drüber geredet haben 🙂
in der Tat.:-))
Jeder Fundamentalist ist zunächst mal so gut wie sein Fundament:
„… erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist“.
„Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“
Qualitätsunterschiede ergeben sich erst bei dem, was er drauf baut:
„So aber jemand auf diesen Grund baut Gold, Silber, edle Steine, Holz, Heu, Stoppeln, so wird eines jeglichen Werk offenbar werden: der Tag wird’s klar machen.“
Die ganzen tollen Aufbauten wären aber nutzlos, wenn das Fundament nicht mehr dasjenige der „Apostel und Propheten“ wäre.
Das ist eben das Problem beim Fundamentalismus: Es entsteht kein wirklicher, befruchtender Dialog, wie sichs oben zeigt. Nach dem Motto: Du darfst anderer Meinung sein, solange ich Recht habe.
@Peter
Woher kommt eigentlich die immer wieder (in deinem Blog, im zitierten Artikel und vielen anderen Quellen) geäußerte Annahme, dass der Fundamentalismus ausschließlich ein (Neben-) Produkt der Moderne ist? Dass fundamentalistisches Denken in vorherigen Zeiten unüblich war? Das wird ja gerne als gewichtiges Argument in die Diskussion eingebracht, wirklich schlüssig ist mir das bisher nicht geworden. Ich beziehe mich jetzt nur – als naheliegendes Beispiel – auf den Bereich der christlichen Theologie.
Hat da nicht seit der Aufklärung eine Verschiebung der Maßstäbe von einem Ausmaß stattgefunden, so dass bis zu der damaligen Zeit als fraglos fixierte Glaubensgrundsätze immer mehr an den Rand gedrängt wurden? Bis dahin, dass man sie heutzutage üblicherweise als fundamentalistische Auffassungen brandmarkt? Liege ich ganz falsch, wenn ich annehme, dass z.B. der große Reformator Luther mit seinem Bibel- und Glaubensverständnis von vielen heutzutage als „hoffnungsloser Fundi“ abgestempelt werden würde?
Worin also liegt die Substanz der Aussage begründet, dass der Glaubens-Fundamentalismus nur in Zusammenhang mit – und sozusagen als Gegenpol zu – den Erkenntnissen der Moderne gesehen werden kann? Danke für eine Aufklärung, Peter.
@Simon: Der Fundamentalismus mit seinem Grunddogma der Irrtumslosigkeit der Bibel ist nachweislich eine Reaktion auf die Moderne und die historische Bibelauslegung und in dieser Form erst gut 100 Jahre alt. Das halte ich für hinreichend belegt. Ein geschichtlicher Vorläufer ist die altprotestantische Orthodoxie mit ihren Dogma von der Verbalinspiration. Luther jedoch kann man schwerlich in die Ahnengalerie einreihen. Sein Ansatz, im Notfall auch „Christus gegen die Schrift“ zu treiben, treibt heute noch Fundamentalisten wie konservativen Evangelikalen Schweißperlen auf die Stirn. Diesen engen Buchstabenglauben findet man bei ihm gerade nicht, höchstens im Abendmahlsstreit mit Zwingli. Stattdessen Ansätze von Kanonskritik. Es ist eben ein Riesenunterschied, ob man die Bibel (in Wirklichkeit freilich die eigene Interpretation derselben) mit abenteuerlichen Theorien oder blanken Postulaten zur Quelle uneingeschränkter, absoluter und objektiver Wahrheiten stilisiert, oder ob man wie Luther in Worms oder Bonhoeffer und andere sich im Gewissen an ihre Inhalte bindet. Würde Luther heute leben, wäre er wohl kein Unterzeichner der Chicago-Erklärung. Und auch sonst wäre er für Überraschungen gut, denke ich, deshalb sollte man ihn nicht vor irgendwelche hypothetischen Karren spannen wollen.
@Peter: Danke für die Erläuterung. Es fällt mir allerdings schwer zu glauben, dass es in der kirchlichen Vormoderne überhaupt schon (von Ausnahmen abgesehen) in Betracht gezogen wurde, z.B. die Historizität der biblischen Schriften in Frage zu stellen. Gäbe es dafür entsprechende Quellen? Dass soteriologisch dagegen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Gewichtungen vorgenommen wurden, ist offensichtlich.
Luther, als „freigeistige“ Persönlichkeit in unsere Zeit übertragen, hätte die Ch.-Erklärung ganz sicher nicht unterzeichnet. Mit seinem damaligen (Er-)Kenntnisstand allerdings – die besagte Erklärung also vor 500 Jahren – wer weiß? Er war, wie du gesagt hast, für Überraschungen gut, leider nicht immer nur zum Guten…
Also historische Kritik an überlieferten Texten im heutigen Sinn beginnt tatsächlich erst in der Renaissance. Einer der ersten Fälle war Lorenzo Valla, der zeitgleich mit Nikolaus von Kues die „Konstantinische Schenkung“ als Fälschung entlarvte. „Dogmatische“ Bibelkritik hat schon Marcion von Sinope geübt, freilich auf ganz unhistorische Art. Historische Bibelkritik begann in der Aufklärung, sie kam aber erst so richtig in Fahrt mit H.S. Reimarus und dann David Friedrich Strauß in der radikalen bzw. Ferdinand Christian Baur in der gemäßigten Form im 19. Jahrhundert. Und darauf reagierte dann Torrey mit seinen „Fundamentals“. Seine Lösung war im Grunde dann, die Fragen zu verbieten, die die (manchmal kaum weniger sturen und radikalen) Bibelkritiker aufwarfen. Andere haben sich solchen Fragen gestellt und bessere Antworten gefunden. Adolf Schlatter wäre vielleicht so ein Beispiel – konservativ im Urteil, aber dialogfähig.
Sehr hilfreich, danke. Hast du das alles im Kopf??? Erstaunlich. A.Schlatter werde ich mir anschauen.
ja, das war aus dem Kopf. Es könnten also ein paar Ungenauigkeiten dabei sein, aber im Großen und Ganzen sollte das so stimmen.