Ich habe heute angefangen, Arno Gruens Buch Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden zu lesen. Gruen stammt aus Berlin, emigrierte während des Dritten Reichs in die USA und lebt nun in der Schweiz. Er benutzt Ortega y Gassets Metapher vom Schiffbruch, um die existenzielle Situation des Menschen, der sich mit der verunsichernden Frage „Wer bin ich?“ konfrontiert sieht, zu charakterisieren:
Das Leben ist seinem Wesen nach ein ständiger Schiffbruch. Aber schiffbrüchig sein, hießt nicht ertrinken … Das Gefühl des Schiffbruches, da es die Wahrheit des Leben ist, bedeutet schon die Rettung.
Allerdings unternehmen viele Menschen (Goethe wird als Paradebeispiel angeführt) diese Situation zu überspielen und zu verdrängen. Aus dem „Wer bin ich?“ wird ein durch Leistung und gesellschaftliche Anerkennung objektivierbares „Was bin ich?“, die Konfrontation mit sich selbst, die „Erkenntnis des Schmerzes“ und mit ihr die Empathie bleiben aus. Gruen folgert:
Wer ein anderes als sein eigenes Leben lebt, wer nicht mit der Wahrheit des Schiffbrüchigseins verbunden ist, fälscht sein Selbst, um sich abstrakt rechtfertigen zu können und zementiert sein Leben, dessen Grundfrage ebenso gefälscht ist. Wer sein Leben nicht lebt, fälscht es unbewusst, weil Schmerz, Leid und Schiffbruch in unserer Kultur mit Schwachsein gleichgesetzt werden. (S. 16)
Mich erinnert das noch ganz frisch an ein Gespräch in den letzten Tagen, in dem mir mein Gegenüber erzählte, wie ein ganz massiv auf Anpassung an äußere Normen angelegtes Christentum zwar lange half, seinen Schmerz irgendwie zu beherrschen, aber auf Kosten einer solchen Fälschung. Nun ist er aufgewacht zu diesem befreienden Lebensgefühl des Schiffbruchs, das auch eine gewisse schmerzhafte Heimatlosigkeit mit sich bringt. Das ist die positive Seite.
Es erinnert mich im Negativen auch an Jona, dessen Story mich die letzten Wochen begleitet hat. Der erscheint als komplett unfähig zu jeder Art von Empathie. Gott hält ihm das am Ende auch drastisch vor. Der zwischenzeitliche „Schiffbruch“ ändert das nur kurzzeitig – kaum hat er nämlich wieder physisch festen Boden unter den Füßen, funktioniert das alte Muster krankhafter Objektivierung wieder: Alles, was ihn interessiert, ist dass das Schema in seinem Kopf auch umgesetzt wird, indem die angekündigte Katastrophe eintrifft. Selbst Gott scheint kaum noch ein Gegenüber zu sein, das zu ihm durchdringt, sondern nur noch eine Art Prinzip. Wahrscheinlich liegt es daran, dass bei Jona keinerlei innere Entwicklung stattfindet. Sicher eine Karikatur, aber eine erschreckend aktuelle.
Komischerweise ein erbaulicher Gedanke, dass mit dem Schiffbruch. Nur bei dem zweiten Zitat klingt das fast so, als wollte er mit diesem Bild ein bisschen dogmatisch werden. Aber vielleicht klingt das manchmal so, wenn man so ein Bild weiterspinnt.
Eugene Peterson hat übrigens ein ganzes Buch über Jona geschrieben, dass sich bezeichnenderweise an Pastoren richtet. Es heißt ‚Der verlorene Hirte‘ und handelt auch in erbaulicher Weise vom Schiffbruch.
Schmerzhafte Heimatlosigkeit. Das empfinde ich auch gerade. Ich weiß nur noch nicht, ob ich mich daran gewöhnen muss oder ob es tatsächlich möglich ist, ein Gefühl der Geborgenheit grundsätzlich wieder herzustellen. Insofern sprechen mich diese Gedanken sehr an!
Es sind manchmal diese seltsamen Zufälle, die einen nachdenklich machen. Grade habe ich fast nur aus äußerlichen ästhetischen Gründen mein Notizheft mit einem alten Titelblatt aus einer alten Robinson Crusoe Ausgabe beklebt, die in einer Zeitung abgedruckt war. Und tatsächlich entwickelt sich das Notizbuch zu einer Art Tagebuch von der einsamen Insel.
Vielleicht klappt es ja, Geborgenheit in dieser offenen, ungeklärten, verletzlichen Situation zu finden. So wie Mut ja nicht in der Abwesenheit von Angst entsteht…?