Der Riesen-Fehler

In jenen Tagen gab es auf der Erde die Riesen. Ihr Konto, ihr Ego und ihre Macht hatten keine Grenzen. Sie lebten gut abgeschirmt an allen schönen Flecken der Welt. Sie stellten den Menschentöchtern nach und plünderten die Erde und die Staatskassen. Das sind die Riesen der Neuzeit, die Helden des Raubtierkapitalismus.

Aus ihren Penthäusern, SUVs und Privatjets blickten sie hinunter auf die Erde. Sie war verdorben, und alle Sterblichen auf der Erde waren davon befallen. Das Elend erfüllte sie mit Verachtung und Ekel: Wie viele es geworden waren, die jenseits der Stacheldrähte und Überwachungskameras dahinvegetierten. Wie sie die Riesen unterwürfig bewunderten und sich um die paar Almosen zankten, die für sie abfielen. Wie ihre Anführer den Riesen aus der Hand fraßen.

Da sprachen die Riesen: Wir sehen, das Ende aller Wesen aus Fleisch ist da; denn sie werden immer mehr und immer schwächer. Sie streiten um sauberes Wasser, Luft und Lebensmittel, anstatt nach Höherem zu streben wie wir. Das Heil der Welt liegt fortan in der Disruption, Erlösung kommt durch Zerstörung.

Bauen wir uns doch Yachten, Helikopter und Raumkapseln. Statten wir sie mit Kabinen aus, und dichten alles ab mit Panzerglas und Elektrozäunen. Wir bestimmen, wer mit uns überlebt: Haustiere, Sicherheitspersonal – und wer sonst geeignet ist, den Genpool der neuen Menschheit zu boosten und uns unsterblich zu machen.

Und dann bringen wir eine Flut über die Erde, um alle Wesen aus Fleisch unter dem Himmel, alles, was Lebensgeist in sich hat, zu verderben. Alles auf Erden soll verenden. Artenvielfalt ist überbewertet. Gletscher stehen der Rohstoffgewinnung im Weg. Regenwald bringt keine Rendite.

Die Moderne war keine sechshundert Jahre alt, als die Flut über die Erde kam. Ölquellen und Brandherde wurden geöffnet. Kreuzfahrt- und Containerschiffe trübten die Luft auf See ein. Flugzeuge überzogen den Himmel mit Kondensstreifen. Das Wasser schwoll an und auch die Temperatur stieg immer mehr auf der Erde. Die Yachten aber trieben elegant auf dem Wasser dahin, zwischen Plastikstrudeln und zerfetzten Schwimmwesten.

Photo by rachman reilli on Unsplash

Allmählich verendeten alle Wesen aus Fleisch, die sich auf der Erde geregt hatten, Vögel, Vieh und sonstige Tiere, alles, wovon die Erde gewimmelt hatte, und auch alle Menschen. Alles, was auf der Erde durch die Nase Lebensgeist atmete, kam um.

Nach vierzig Monaten schickte die Flotte der Maßlosen eine Drohne los. Aber sie fand keinen lebenswerten Ort an Land. Sieben Tage später zeigte ein Satellitenfoto irgendwo frisches Grün. Ein Vorauskommando bestieg ein Landungsboot, um die Gegend zu erkunden.

Als sie am Ufer eintrafen, saß dort ein bärtiger Mann in einem altertümlichen Gewand und briet über dem Feuer einen Fisch. Seine Sprache wurde von den Übersetzungsapps der Kundschafter als Aramäisch identifiziert. Er nannte sich Adam der Zweite (anscheinend hielt er sich für einen König…). Der Mann deutete zum Himmel, an dem gerade wieder ein Regenbogen zu sehen war, und sprach:

Seit es Menschen gibt, gab es Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Bis Ihr kamt und alles aus dem Takt geriet. Furcht und Schrecken vor euch haben sich auf alle Tiere der Erde gelegt, auf alle Vögel des Himmels, auf alles, was sich auf der Erde regt, und auf alle Fische des Meeres; euch waren sie ausgeliefert. Denn ihr wolltet unbedingt Gott spielen.

Diese Erde bekommt eine andere, legitime Herrschaft: Die Gewaltlosen, die Boden besitzen können ohne ihn zu plündern. Die Behutsamen, die für Anvertrautes sorgen und mit anderen teilen. Die Maßvollen, die ihren eigenen Appetit zügeln, damit alle zum Zug kommen.

Die Wende ist nahe. Deshalb kehrt um.

Denn an Bord eurer Archen fährt die Hoffnung nicht mit.

PS: Wenn man die Sintflutgeschichte aus Genesis 6-9 nicht in der Kinderbibel liest (wie die meisten Erwachsenen), dann merkt man beim Lesen nur zu deutlich, dass an diesen Sätzen immer wieder gearbeitet wurde. Vielleicht ist das ja ein Hinweis darauf, dass der Text immer wieder einmal aktualisiert werden sollte. Hier sind die Impulse von Bruno Latour und die Gespräche von Con:Fusion 2019 eingeflossen.

Share

Eine Antwort auf „Der Riesen-Fehler“

  1. Wooooow! Danke für die erschreckende, entlarvende Aktualisierung. Daran werde ich noch lange zu knacken und dem nachzudenken haben.

Kommentare sind geschlossen.