Putin hat die Ukraine überfallen und damit mehr als die halbe Welt gegen sich aufgebracht. Die Bundesregierung hat ihren Kurs radikal geändert. Sie liefert der Ukraine nun Waffen und stockt das Budget der Bundeswehr kräftig auf. Die Mehrheit im Land findet das nach heutigem Stand richtig.
Welche Rolle kann in dieser Situation gewaltfreier Widerstand spielen? Lassen sich die Strategien von Gandhi, Martin Luther King und anderen hier überhaupt anwenden? George Lakey verwies letzte Woche auf den Widerstand der Tschechen 1968 gegen die Truppen des Warschauer Pakts und auf den Widerstand der Dänen gegen die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg.
Den Ukrainern dürfte freilich vor allem der Widerstand gegen Lukaschenko in Belarus vor Augen gestanden haben, der beinahe zum Erfolg geführt hätte. Aber dann schaltete sich Putin ein. Mit seiner Hilfe und Billigung wurde die Demokratiebewegung niedergeschlagen und inhaftiert. Yuval Noah Harari kommentierte jüngst im Guardian:
As a child, he [Putin] grew up on a diet of stories about German atrocities and Russian bravery in the siege of Leningrad. He is now producing similar stories, but casting himself in the role of Hitler.
Aus der Ukraine ist nun beides zu hören: Die einen stellen sich den Invasoren gewaltfrei entgegen, die anderen kämpfen mit der Waffe. Ich hatte diese Woche immer wieder Bruce Cockburn im Ohr, wenn ich Nachrichten las:
Zur Gewaltfreiheit muss sich jede:r Betroffene selbst entschließen. Insofern finde ich es problematisch, wenn wir anderen diese Entscheidung dadurch abnehmen, dass wir ihnen keine Waffen liefern, wenn sie uns darum bitten. Die Frage ist eher, was wir ihnen noch an Unterstützung und Rat anbieten können.
Gandhi hat mal sinngemäß gesagt, er halte nur solche Leute für geeignet zum gewaltfreien Widerstand, die auch mit der Waffe kämpfen würden. Er selbst fand den gewaltfreien Kampf richtiger und aussichtsreicher, aber der bewaffnete Kampf ist so gesehen besser als gar nicht zu kämpfen.
Putin hat wohl eine schnelle Kapitulation erwartet, insofern hätte ihm das in die Karten gespielt, wenn Selenskyis Truppen die Waffen kampflos niedergelegt hätten. Nun staunt die Welt über den verzweifelten Mut der Ukrainer. Der hat, sagt Harari, auch dem Rest der Welt Mut und Entschlossenheit gegeben, die zuvor nicht da waren:
The stories of Ukrainian bravery give resolve not only to the Ukrainians, but to the whole world. They give courage to the governments of European nations, to the US administration, and even to the oppressed citizens of Russia. If Ukrainians dare to stop a tank with their bare hands, the German government can dare to supply them with some anti-tank missiles, the US government can dare to cut Russia off Swift, and Russian citizens can dare to demonstrate their opposition to this senseless war.
Ich habe (wie Cockburn, der hat nur seine Gitarre) keinen Raketenwerfer zur Hand und mir deshalb vorgenommen, Judith Butlers „Macht der Gewaltfreiheit“ noch einmal zu lesen und hier im Blog einige ihrer Kerngedanken im Licht der gegenwärtigen Weltlage nachzubuchstabieren. Wenn Ihr mögt, lest und diskutiert gerne mit.
Ich bin immer noch im Schockzustand, dass 2022 in einer globalisierten Welt mit so vielen wirtschaftlichen Abhängigkeiten ein Player mitten in Europa wirklich zu den Waffen greift. Und das noch so anlasslos.
Quasi über Nacht ändert sich die deutsche Staatsraison seit 45 komplett. Ich hoffe nicht auf Dauer. Ich bete dafür dass dieser Krieg ohne militärische Intervention gestoppt und Putin zum Rücktritt gezwungen wird.
Ich will nicht, dass wir dauerhaft ein neues Wettrüsten starten oder in US-Gebaren bzgl. Interventionspolitik verfallen. Der vermeintlich Starke muss wieder der Schwache werden, der er ist. Militarismus darf sich nicht lohnen.
Es ist schwierig, zwischen Realismus und Wunschdenken zu unterscheiden. Natürlich wünschen sich die allermeisten eine Welt ohne Waffen und Gewalt. Zu dem Wunsch und der Bestürzung über die Gewalt, die – erst in Syrien, das hat nicht ganz so viele Menschen auf die Barrikaden gebracht, nun in der Ukraine – verübt wird, muss dann wohl eine andere Stärke und offensive Entschlossenheit kommen. Und ein hohes Maß an Leidensfähigkeit. Sind wir schon so weit?
Au ja, im Rahmen meiner Kapazitäten lese ich sehr gerne mit bei Judith Butler – und freue mich auf das „Nachbuchstabieren“ hier. Habe eine „Re-Alphabetisierung“ (oder vielleicht treffender: einen „Sprach(zurück)erwerb“?!) in Sachen Gewaltlosigkeit gerade echt nötig.