Die Wende vor dem Ende

Die christliche Kirche hat ihren tiefsten Sinn, der sie von der jüdischen Gemeinde  u n d  dem kommenden Reiche abhebt, eben darin, dass in ihr die Gaben des Reiches schon da sind, ohne dass das Reich selbst, die verwandelte Erde und die Herrschaft Gottes auf ihr, schon da wären. Die Geistbegabung ist also die Vorwegnahme eines endzeitlichen Ereignisses … und weist so immerzu auf das Reich hin!

[…] Es ist an Ostern und Pfingsten eine Wende vollzogen, die schon vor der letzten Ankunft Christi Entscheidendes erkennbar werden lässt. Die Gemeinde Jesu ist nicht in dem Sinne die Fortsetzung der jüdischen Gemeinde, dass auch sie nur in der Enderwartung stünde, nur gestärkt durch einen neuen Zeugen, nur erneuert im alten Glauben. Sie ist „neue“, das heißt aber schon mit einem Fuß auf Reichsboden stehende Gemeinde dadurch, dass sie die Gabe des neuen Aeons, den Geist, besitzt.

Ernst Gaugler, Der Brief an die Römer, Band I, Zürich 1958, 255ff.

 

 

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Papst Franziskus und der „naive“ Gott

Als Papst Franziskus letzte Woche die Gedenkstätte Yad Vashem besuchte, sagte er unter anderem den folgenden bemerkenswerten Satz:

The Father knew the risk of freedom; he knew that his children could be lost… yet perhaps not even the Father could imagine so great a fall, so profound an abyss!

Ist sogar Gott selbst erschüttert über das exzessive Ausmaß menschlicher Grausamkeit und Zerstörung, das im Holocaust so unübersehbar wird?

Dieses Gottesbild steht nicht nur in einem bemerkenswerten Kontrast zu den Vorstellungen von absoluter Macht und Wissen, die ultrakonservative katholische Kritiker des Papstes kennzeichnen, sondern auch zu manchen protestantischen Vorstellungen von einem abgebrühten, achselzuckenden Gott, der den Menschen schon immer alles erdenklich Böse zugetraut hat und deswegen eigentlich von gar keiner Brutalität mehr überrascht und erschüttert wird.

Doch in seiner Meditation über „Adam, wo bist du?“ nimmt der Papst die Spannung in der Erzählung von Sündenfall ernst (Gottes Erstaunen wäre andernfalls ja nur gespielt). Mit der Frage nach dem Erstaunen und Entsetzen Gottes steht er auch dem Gottesbild der Propheten bis hin zu Jesus näher als metaphysischen Abstraktionen.

Sich Gott zum Vorbild zu nehmen hieße dann, anderen nicht immer schon das Schlimmste zu unterstellen, auch auf die Gefahr hin, böse Überraschungen zu erleben. Wenn man Frieden stiften und versöhnen möchte in dieser Welt, geht das vermutlich nur so.

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„Nervige“ Gottesdienste (1): Die Tücken der Konsumkritik

Den folgenden Text habe ich für eine Mitarbeiterhilfe des CVJM geschrieben, und diesen ersten Teil auch vor einigen Monaten schon einmal gepostet unter dem Titel „Die Singkrise“. Damit auch die folgenden Gedanken nachvollziehbar werden, stelle ich das nun erneut ein und lasse den Rest in kurzen Abständen folgen. Wer’s schon kennt, kann warten bis zum zweiten Teil.

Kürzlich nahm ich als Gast bei Freunden an deren Gottesdienst teil und die Lobpreisband spielte Matt Redmans berühmtes Lied “Heart of Worship”. Die Story dazu ist nicht nur unter Insidern bekannt: Redmans Gemeinde – die Jugendkirche „Soul Survivor“ im englischen Watford – stellte fest, dass ihre Lobpreismusik dabei war, zum Selbstzweck zu werden und Gott selbst in den Schatten zu stellen – gerade weil sie so angesagt und mitreißend war. Also verschrieb man sich eine Phase der Entwöhnung und verzichtete auf die Musik – wie die Katholiken auf die Glocken in der Karwoche (da fliegen diese angeblich nach Rom). In dieser Zeit entstand das Lied, das davon handelt, dass es nicht um Lieder und Musik geht, sondern um die Liebe zu Gott. So weit, so gut. Ich finde, es ist wirklich ein schönes und bewegendes Lied.

Und es kann einen zum Nachdenken bringen!

Bei Soul Survivor haben sie längst wieder begonnen zu singen und “Heart of Worship” hat überall auf der Welt begeisterte Aufnahme gefunden. Vielleicht, weil es ein Dilemma anspricht, das viele ganz ähnlich empfinden: das Medium entwickelt eine Eigendynamik, es verdeckt mehr als dass es noch Hinweischarakter hätte, geistliche Musik wird zum Konsumartikel. Auch dazu wurde schon viel gesagt.

Aber reicht es denn schon aus, in einem Lied (unter etlichen anderen) darüber zu singen, dass Singen nicht alles ist und manchmal mehr von Gott ablenkt als zu ihm hinführt, ohne dann auch tatsächlich den Ausknopf zu drücken und zu sehen, was denn wirklich passiert, wenn wir mit leeren Händen dastehen, die Stille mühsam aushalten, in der der innere Lärm und die Störgeräusche von nichts mehr übertönt werden – und können wir glauben, dass Gott uns dann auch darin begegnet? Sollte man so ein Lied eigentlich singen, ohne sich die damit verbundenen Herausforderungen tatsächlich zugemutet zu haben? Anders gefragt: Verhindert es am Ende vielleicht genau den Erneuerungsprozess, den es beschreibt? Ist es genug, dass wir den Gedanken oder die unbehagliche Ahnung „eigentlich müsste man etwas ändern“ zwar ausdrücklich zu Protokoll geben, die tatsächliche Beschäftigung mit diesem Thema dann aber umgehend wieder vertagen?

Der Philosoph und Gesellschaftskritiker Slavoj Zizek hat in den letzten Jahren immer wieder angemerkt, dass unsere Konsumkultur und der moderne Kapitalismus längst einen Weg gefunden haben, die Kritik am System zum Teil des Systems zu machen. Ohne dass sich das System an sich ändert, das – Papst Franziskus hat es erst kürzlich scharf kritisiert – alles und jeden zur Ware macht, die man kauft, benutzt und wegwirft, kann sich der Konsument etwa durch ethisch „guten“ Kaffee für einen gewissen Aufpreis von seinem schlechten Gewissen loskaufen. Das Rädchen, das zu quietschen drohte, läuft nun wieder wie geschmiert.

Zizek bestreitet nicht, dass „fairer Konsum“ die Lage mancher Erzeuger tatsächlich verbessert, er zweifelt nicht an den guten Absichten der Beteiligten, aber er fragt, ob die gute Absicht konsequent genug umgesetzt wurde, oder ob wir es am Ende doch mit einer Alibi-Aktion zu tun haben, die nur die hässlichen Symptome kaschiert und die wahren Ursachen unberührt lässt. Würden wir nach diesen Ursachen fragen, dann müssten wir uns unseren Ohnmachtsgefühlen angesichts dieser trostlosen Lage stellen, der Resignation und Gleichgültigkeit, die uns lähmen oder zur Flucht in heile Welten drängen: virtuelle Phantasiewelten, die (spieß-)bürgerliche Idylle oder fromme Subkulturen. Zieht man den Horizont nur eng genug, bleiben all die verstörenden Dinge außer Sichtweite.

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Unrein: Vom Essen, Ekel und dem Evangelium

Barmherzigkeit statt Opfer – auf diese Formel bringt Jesus seinen Konflikt mit den Pharisäern in Matthäus 9. Hinter diesen beiden Begriffen stehen gegensätzliche Weltbilder und Lebensweisen, mit denen wir bis heute ringen. Vor allem aber ein mächtiges Gefühl, das in Kirche und Theologie gravierende Folgen nach sich zieht.

Statt eines „normalen“ Blogposts stelle ich heute den Mitschnitt und die Präsentation meiner Predigt von gestern hier ein. Sie beruht in vielem auf dem ungemein hilfreichen und erhellenden Buch Unclean: Meditations on Purity, Hospitality, and Mortality von Richard Beck, das ich seit einigen Tagen mit einer ganzen Serie von Aha-Effekten lese. Vielen Dank an Rainer Behrens für den Tipp, und viel Spaß beim Zuhören. (Leider ist der Ton in den ersten Sekunden durch ein Versehen meinerseits etwas hallig, das hört aber gleich auf)

Weitere Posts zu Becks spannenden Thesen werden folgen.

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Eine Theologie des Blühens

Ich bin kürzlich in einem Aufsatz von Hanna Strack über Hildegard von Bingen auf folgenden interessanten Gedanken gestoßen: Strack plädiert für eine „Theologie des Blühens“ und stellt diese in einen Kontrast zur traditionellen „Theologie der Mortalität“, die sie so beschreibt:

… die bisher überwiegend gelehrte und gepredigte Theologie der Sterblichkeit aller Menschen [betont] die Hinfälligkeit, Fehlerhaftigkeit, das Schuldbewusstsein und die Angst. Diese zielt auf Erlösung durch die strafende und barmherzige Gottheit.

Während Strack das biblische Motiv des Blühens mit (vor allem auch explizit weiblicher) Fruchtbarkeit verbindet, könnte man, um eventuell problematische Parallelen zu Fruchtbarkeitskulten oder Esoterik zu meiden, die „Theologie des Blühens“ auch von Auferstehung und Neuschöpfung her denken und sagen, dass Gott in der Sendung Christi seine Liebe zum Leben erweist und sie mit der Auferweckung bestätigt als die grenzenlose, überströmende Lebenskraft und -fülle, die selbst das verwelkte und beschädigte Leben erneuert und verwandelt.

Denn für Hildegard von Bingen hat die „Grünkraft“ auch mit dem Heiligen Geist zu tun, der nach dem Neuen Testament nicht nur in der anfänglichen Schöpfung wirkt, sondern auch die Kraft ist, durch die die Welt und die Menschheit neu geschaffen wird. So kann Hildegard, wie Strack zeigt, Christus als schöne Blume bezeichnen und von ihm sagen: „sie schenkte ihren Duft all den Gewürzen, die da dürre waren. Da prangten alle sie in sattem Grün“.

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Der Aufstand des Lebens

Das Grab ist schließlich par excellence das Symbol metaphysischer Totalität und des Mythos kosmischer Gewalt: es ist Endstation und Grenze, es markiert nicht nur die Schranke zwischen Leben und Tod, sondern zwischen Sein und Nichtsein, Fleisch und Seele, Kosmos und Chaos, Geschichte und Mythos, Sinn und Sinnlosigkeit, dem Physischen und dem Spirituellen, dem Reinen und Unreinen, Zeit und Ewigkeit, Polis und Exil, Subjekt und Objekt; es ist, kurz gesagt, ein absoluter taxonomischer Index der Welt als einer abgeschlossenen Totalität; denn wenn jede Begrenzung eine Art Tod ist, dann ist die Begrenzung auch die Kraft des Lebens – so lange sie gewahrt wird.

Aber genau diese Begrenzung überschreitet Christus, der keine Schranken respektiert, in absoluter Freiheit. Die Auferweckung Christi ist, sofern das leere Grab ihr Kardinalzeichen ist, das genaue Gegenteil jeder Form gnostischer Vertröstung, jedes Heilsschemas, das die Schöpfung der Herrschaft der Mächte ausliefert und zugleich eine Emanzipation von der Welt und ihren Leiden bietet; die Form Christi, der Heilsweg, legt sein reales historisches Gewicht nie ab, seine Schönheit – seine kabod.

David Bentley Hart

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Zum Aufstehen zu wenig

Vor einiger Zeit bekam ich das inzwischen veröffentlichte Thesenpapier Zeit zum Aufstehen zugesandt mit der Einladung, Erstunterzeichner zu werden. Anscheinend gehöre ich zu den Menschen, denen die Autoren das zutrauten. Viele meiner Freunde und Bekannte haben sich inzwischen dem Aufruf angeschlossen.

Ich war nicht begeistert. Hier sind ein paar Gründe:

Erstens scheint es mir, dass es hier um evangelikale Richtigkeiten geht, die zu bekräftigen die Urheber und wohl auch viele Unterzeichner nichts kostet, weil sie diese Positionen seit Jahr und Tag vertreten und in einem Umfeld arbeiten, das sie ebenfalls für selbstverständlich hält – jedes Rütteln an ihnen aber vehement sanktionieren würde. Das Papier hätte vor 25 Jahren genau so erscheinen können. Ich habe mich gefragt, was sich denn eigentlich bewegt hat in letzter Zeit. Aber vielleicht ist das schon die falsche Frage, weil Positionierung und Bewegung ja gerade nicht dasselbe sind.

Zweitens enthält es formal und inhaltlich aus meiner Sicht keinerlei Gesprächsangebot an Andersdenkende, lädt zu keinem Brückenschlag ein, stellt keine Fragen, sondern formuliert Parolen und versucht, die eigenen Reihen zu schließen. In der obligatorischen Bekräftigung der Autorität der Bibel finden sich so – Entschuldigung, plumpe – Slogans wie „Die Bibel ist immer aktueller als der jeweilige Zeitgeist.“ Gilt das auch für die Bibeltexte, die Sklaverei unkritisch sehen? Und wenn nicht, was bedeutet so ein Satz dann eigentlich noch?

Drittens fallen die Leerstellen auf: Die Christologie (genauer: Göttlichkeit und Einzigartigkeit Christi, Versöhnung durch Kreuz und Auferstehung) hat die Trinität überlagert, vom Heiligen Geist ist nirgends die Rede und der Schöpfer erscheint, wenn man genau hinsieht, nur als Begründer und Garant der Ebenbild-Anthropologie. Diese wiederum reduziert sich, wie die weiteren Aussagen zeigen, auf die Festschreibung traditioneller Geschlechtermuster und die Unantastbarkeit menschlichen Lebens. Ich bin auch gegen eine „Entwertung der Ehe“, aber ich weiß natürlich, dass dieser Textbaustein mittlerweile ein gängiges Codewort ist, das darauf zielt, andere Lebensformen als problematisch und defizitär hinzustellen.

Viertens: Fahndet man nach den gesellschaftspolitischen Konsequenzen des Aufrufes, dann bleiben die Themen Lebensrecht, islamkritisch akzentuierte Religionsfreiheit und die Exklusivität der traditionellen Familie allein auf weiter Flur. Hat Jesus das gemeint, als er vom Reich Gottes sprach? Die Bekräftigung der alten Engführungen ist doch ein Schlag ins Gesicht für die Vertreter der Micha-Initiative, die evangelikale Frömmigkeit und den Einsatz für eine gerechte Welt verbinden, die sich ja längst nicht mehr trennen lässt von der Bewahrung der Schöpfung.

Das ohrenbetäubende Schweigen zu diesen Themen ist natürlich auch eine klare Abgrenzung von allen anderen kirchlichen Bewegungen, die sich eben diese Themen auf die Fahnen geschrieben haben. Und damit vermittelt der Text unterm Strich den Eindruck, dass es den Autoren nicht um Kooperation, gegenseitige Ergänzung und lebendigen Austausch geht, sondern um das Beharren auf und die Durchsetzung von bestimmten Positionen.

Das ist jetzt meine völlig subjektive Interpretation dieses Textes. Möglicherweise lesen und meinen ihn die Autoren und Unterzeichner ja anders. Daher ist das keine persönliche Kritik an einzelnen, wohl aber eine an diesem verunglückten Aufruf.

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„Was ist Wahrheit?“

Nietzsche fand bekanntlich, dass Pilatus besser abschneidet als Jesus, weil er illusionäre Wahrheitsansprüche ironisiert. David Bentley Hart betrachtet das Gespräch der beiden aus einem anderen, sehr erhellenden Blickwinkel, wie ich finde:

Die Frage des Pilatus ist höchst dialektisch, höchst sokratisch: Mit einem Wahrheitsanspruch konfrontiert, einer rhetorischen Geste, die den Angesprochenen zur Anerkennung einlädt, aber die abgesehen von dieser Einladung nicht in eigener Sache argumentiert, versucht Pilatus, deren Kraft umzuleiten, indem er seinen Blick von der Wahrheit vor seinen Augen abwendet, hin zu einer abstrakten Frage bezüglich der Wahrheit von Wahrheit.

Jesus jedoch hat keine Behauptung aufgestellt, die besagt, dass er wahr sei, dass er im Abstrakten an „Wahrheit“ appelliere, vielmehr hat er gesagt, dass er die Wahrheit ist, die er anbietet und bezeugt; er hat die Frage des Pilatus tatsächlich schon beantwortet, und Pilatus manövriert sich nun weg von dem beunruhigenden Anspruch, vor den Christus ihn stellt. Und dann wieder, nachdem Christus gegeißelt und verspottet worden ist, versucht Pilatus Christus ein letztes Mal dazu zu zwingen, über sich Auskunft zu geben, irgendein reinrassiges – „Wo bist du her?“ – das den außerordentlichen Ansprüchen, die er stellt, Autorität verleiht oder sie wenigstens erklärbar macht; Pilatus ringt darum, die Kraft der Rhetorik aufzulösen, die vor ihm steht, mit Dornen gekrönt, und schließlich kann er nur die eine Wahrheit aussprechen, die er kennt – „weißt du nicht, dass ich die Macht habe, dich zu kreuzigen?“ – und dann kann er nur diese Wahrheit herbeiführen, … indem er Christus dem Tod übergibt.

Pilatus ist also nicht der vornehme Ironiker, sondern schlicht ein kurzsichtiger Reaktionär; Jesus hat die Ordnung von Wahrheit, der Pilatus sich verschrieben hat, längst untergraben, also hat Pilatus keine andere Wahl, als sie wiederherzustellen, indem er handelt. Christi Wahrheit jedoch ist derart, dass sie umso offenkundiger wird, je mehr man sie unterdrückt; ihre Geste ist die des Geschenks, das selbst dann gegeben wird, wenn es abgelehnt wird; und so macht Christus am Kreuz die schiere Gewalt, die den Ökonomien weltlicher Wahrheit zugrunde liegt, für sich selbst transparent, und eröffnet eine Wahrheit anderer Ordnung, eine andere Geschichte, eine, die jedes Mal neu und mit größerer Kraft erzählt wird, wenn man sie mit Gewalt zu Schweigen bringt. (The Beauty of the Infinite, S. 332f.)

(Wer dem Wahrheitsthema gern weiter nachgehen möchte, kann hier zu Parker Palmers Gedanken klicken).

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Weisheit der Woche: Der poetische Gott

Ein schönes Zitat von Alfred N. Whitehead (aus der Predigt meines katholischen Kollegen Michael Pflaum vom vergangenen Wochenende):

Gott ist der Poet der Welt, leitet sie mit zärtlicher Geduld durch seine Vision von der Wahrheit, Schönheit und Güte.

Und im kritischen Blick auf populäre Gottesbilder (der Monarch, der Moralist, der Apathische) konnte Whitehead sagen:

Liebe herrscht weder, noch ist sie unbewegt; auch ist sie ein wenig nachlässig gegenüber der Moral. Sie blickt nicht in die Zukunft; denn sie findet ihre eigene Belohnung in der unmittelbaren Gegenwart.

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Niemand hat das verdient!

Vielleicht liegt es daran, dass ich vorgestern einen Bericht über die heimlichen Foltermaßnahmen der CIA und einen über Augenzeugenberichte aus den Konzentrationslagern des Dritten Reiches gelesen habe und dann über Karfreitag nachdenken musste. Jedenfalls fiel mir ein, wie oft ich den Satz gehört habe, „ich“ oder „wir alle“ hätten es ja eigentlich „verdient“ gehabt, am Kreuz zu enden. Also an der für damalige Verhältnisse brutalsten und unmenschlichen Folter zu sterben.

Ich weiß schon, was damit vermutlich gemeint ist: Es ist der Versuch, das neutestamentliche „für unsere Sünden gestorben“ nachzubuchstabieren. Aber es ist für mich ein Versuch, der in eine falsche Richtung führt:

Erstens nämlich verharmlost und legitimiert so ein Satz (ungewollt zwar, aber um so effektiver) die unmenschlichen Grausamkeiten, auf die er sich bezieht, indem es sie als „verdient“ bezeichnet. Dagegen kann man nur sagen: Niemand hat das verdient, wirklich niemand. Zumal sich sofort die Frage stellt, wer ein solches Urteil überhaupt fällen und solche Gewalt verüben darf. Der Satz setzt die Folterknechte und ihre Dienstherren damals und heute ins Recht.

Zweitens wirft der Satz ein völlig entstellendes Licht auf Gott. Dessen Heiligkeit scheint sich daran zu bemessen, dass jeder Kratzer, der ihr zugefügt wird, möglichst drakonisch vergolten wird. Je vernichtender das Urteil über jeden, der sie antastet (man könnte auch sagen: je grausamer die Rache), desto strahlender erscheint Gottes Herrlichkeit. Zugleich löst sich angesichts der Dominanz von strafender „Gerechtigkeit“ die Beziehung von Gottes Heiligkeit und seiner Barmherzigkeit und Liebe fast vollständig auf.

Drittens führt die Aussage zu einem kranken Menschenbild. Wenn jedem Durchschnittssünder schon aus Prinzip die Höchststrafe droht, dann fehlt in Gottes Blick auf den Menschen jedes Element von therapeutischer Korrektur, sanftem Werben, und das kann ja nur heißen, dass man es eben gar nicht wert ist. Wenn also jemand von sich sagt, er habe das „verdient“, dann tut er es ja meist in dem sicheren Wissen, dass ihm die Vollstreckung erspart bleibt. Vielleicht schaut man dann nicht so genau hin und fragt auch nicht, ob man das wirklich, wirklich ernst meint.

Diese Strafe, die an Jesus vollstreckt wurde, hat niemand verdient. Gott hat sie auch nicht „verhängt“. Er hat sie am dritten Tag aufgehoben.

Die Liebe Gottes, die sich am Kreuz zeigt, fragt im Übrigen nicht einmal rhetorisch, was wir „verdienen“ oder nicht. Also auch nicht, um uns einen pädagogisch-taktischen Schreck einzujagen und den dann durch den nachfolgenden Hinweis auf die Vergebung in ewige Dankbarkeit zu verwandeln.

Die Liebe fragt nur danach, wie sie möglichst allen Menschen einen solchen Tod ersparen kann, und wie das unbeschreibliche Leid derer, denen Folter und Grausamkeit widerfährt, in den Horizont einer noch größeren Hoffnung gestellt werden kann.

Das Kreuz ist, so verstanden, aber auch Gottes Gerichtsdrohung gegen die Verbrechen der Nazis, der CIA und aller anderen Menschenverächter. Die unterdrückten Stimmen der Opfer werden nicht aus der Geschichte verdrängt. Die Täter werden sich ihnen noch stellen müssen. Erst dann kann die Welt heil werden.

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Von Kopftüchern und Naturgesetzen

Vor einer Weile bekam ich einen Beitrag aus Faszination Bibel zugesandt, der sich mit der Anweisung des Paulus befasst, Frauen hätten im Gottesdienst und in der Öffentlichkeit immer das traditionelle Kopftuch zu tragen. Die Überschrift lautet „Jeder Text ist ein Kind seiner Zeit“ und der Autor, Prof. Armin Baum von der FTA in Gießen, erläutert dort wunderbar verständlich und klar, was der Brauch (der in vielen patriarchalischen Gesellschaften heute noch existiert) damals bedeutete, um dann ebenso überzeugend zu schildern, inwiefern sich der gesellschaftliche Kontext so verändert hat, dass das Symbol (Kopftuch) seine Bedeutung (kein Interesse an intimen Beziehungen zu Männern) verloren hat.

Was Paulus selbst angeht, so hat er, wie mir scheint, an eine solche kulturelle Distanzierung seiner Anweisung gegenüber entweder nicht gedacht (Juden und Heiden waren in dieser Frage, wie der Artikel belegt, weitgehend einig) oder er sah verständlicherweise keinen Anlass, weil er ja auch nicht damit rechnen konnte, dass 2.000 Jahre später unter ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen jemand diesen Brief lesen würde. Aus dem Text wird deutlich, wie Paulus hier

  • erstens christologisch argumentiert: „Ihr sollt aber wissen, dass Christus das Haupt des Mannes ist, der Mann das Haupt der Frau und Gott das Haupt Christi.“ (11,3),
  • zweitens schöpfungstheologisch unter Anspielung auf Genesis 2: „Denn der Mann stammt nicht von der Frau, sondern die Frau vom Mann. Der Mann wurde auch nicht für die Frau geschaffen, sondern die Frau für den Mann. Deswegen soll die Frau mit Rücksicht auf die Engel das Zeichen ihrer Vollmacht auf dem Kopf tragen“ (11,8-10),
  • drittens das wackelige schöpfungstheologische Argument wieder christologisch relativiert durch den Verweis auf die Gleichrangigkeit der Geschlechter: „Doch im Herrn gibt es weder die Frau ohne den Mann noch den Mann ohne die Frau. Denn wie die Frau vom Mann stammt, so kommt der Mann durch die Frau zur Welt; alles aber stammt von Gott.“ (11,11-12)
  • und viertens und letztens (d.h. aber auch als sein entscheidendes Argument!) in dieser Streitfrage die „Natur“ anführt und an den Verstand appelliert: Lehrt euch nicht schon die Natur, dass es für den Mann eine Schande, für die Frau aber eine Ehre ist, lange Haare zu tragen?“ (11,14-15).

Die ebenfalls argumentativ ins Feld geführte Angelologie lasse ich einmal beiseite. Völlig zu Recht stand in Faszination Bibel, dass Paulus sich wohl sorgt, ein Aufgeben des Kopftuches in der Öffentlichkeit würde unvermeidlich zu falschen Schlussfolgerungen Anlass gegeben hätte. Wir heute hätten aber dafür – Baum spricht vom ethischen Prinzip der ehelichen Treue – andere Ausdrucksformen und Konventionen entwickelt, zum Beispiel den Ehering.

Paulus selbst aber schreibt hier nichts von dieser Sorge, die erschließt sich bestenfalls aus dem Zusammenhang. Sein Begründung liest sich für mich recht kategorisch: Schöpfungsordnung, Natur, Vernunft (alles Dinge, die heute in keiner Polemik gegen den vermeintlichen Ausverkauf des Glaubens an den Zeitgeist fehlen dürfen). Das wird im Falle des Kopftuches nun kulturell und kontextuell relativiert. Ich bin nicht ganz sicher, ob man zeitlose ethische Prinzipen und zeitgebundene Symbole tatsächlich so leicht auseinanderhalten kann, aber abgesehen davon stimme ich dieser Auslegung uneingeschränkt zu: Es ist kein Gebot der Natur, also keine biologische Notwendigkeit, sondern der Kultur, also ein gesellschaftliches Arrangement. Die antike Kleiderordnung ist keine Schöpfungsordnung.

Und jetzt denken wir das Ganze bitte einen wichtigen Schritt weiter:

Ich frage mich, wo jetzt noch der qualitative Unterschied zu Römer 1,26f. liegt, wenn Paulus hier wie dort mit dem damals gängigen philosophischen Naturbegriff argumentiert (der fehlt übrigens im Alten Testament) und mit „atimia“ („Unehre“) einen Begriff aus der alttestamentlichen Weisheit verwendet:

Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus: Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung.

Wo dieselbe Begründungsstruktur vorliegt, da können doch auch dieselben Fragen gestellt werden – in diesem Fall eben, ob nicht auch diese Aussage über das, was „natürlich“ ist, in hohem Maße zeit- und kulturbedingt sein könnte, und ob wir nach allem, was wir heute wissen, uns das Urteil („widernatürlich“, „Schande“) unbesehen zu eigen machen müssen. Von „müssen“ kann, wie der Vergleich zeigt, auch nach evangelikalen Maßstäben keine Rede sein. Leider wird das sehr oft so dargestellt, als gäbe es keinen Ermessensspielraum.

Das ist verstörend, zumal sich auch hier das allgemeine Empfinden (das die Christinnen in Korinth nicht verletzen sollten) ebenso gewandelt hat wie die wissenschaftliche Bewertung (eine seltenere Spielart menschlicher Sexualität, aber kein pathologischer „Defekt“ – schon gar kein mutwillig oder durch eigene/fremde Schuld herbeigeführter) und die gesellschaftlichen Verhältnisse (es gibt gleichberechtigte, verbindliche Partnerschaften unter Homosexuellen, was damals bei Juden, aber auch Griechen und Römern undenkbar war). Wollte man hier ein kontextunabhängiges „Prinzip“ ermitteln, dann wäre das die partnerschaftliche und fürsorgliche und treue Liebe.

Dass dies im einen Fall recht problemlos geht und im anderen zu so schweren Zerwürfnissen führen kann, lässt sich für mich nicht so sehr aus den Texten selbst erklären, sondern vielmehr aus den Macht- und Mehrheitsverhältnissen in den Gemeinden und Führungszirkeln der jeweiligen Konfessionen, wie auch der Tatsache, dass die Gleichstellung von Frauen in der Gesellschaft schon wesentlich weiter gediehen ist als die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften. In ein oder zwei Generationen könnte das also schon ganz anders aussehen.

Die Frage an alle, die heute Verantwortung tragen, bleibt: Warum nicht auch „b“ sagen, wenn man längst schon „a“ gesagt hat – um der betroffenen Menschen willen?

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Dann halt nochmal…

Gestern nach dem Gottesdienst sprach mich eine Frau aus der Gemeinde an. Bekannte hatten ihr gesagt, ich hätte – anders als früher – in Kaum zu fassen geschrieben, dass „alle in den Himmel kommen“.

Die Wahrheit ist: Ich habe das früher nicht behauptet und behaupte es auch jetzt nicht. Was ich tatsächlich über viele Jahre ziemlich konstant sage, sind zwei Dinge, in denen ich mit der Fragestellerin auch sofort einig war:

Erstens ist es nicht meine Aufgabe, Urteile und Prognosen darüber abzugeben, wer „in den Himmel kommt“ und wer nicht. Meine Aufgabe ist es, niemanden abzuschreiben und für jeden Menschen zu hoffen. Dafür gibt es jede Menge biblische Anhaltspunkte und gute Vorbilder.

Zweitens ist es nicht die zentrale Fragestellung des Evangeliums, wie und wofür Menschen „in den Himmel kommen“, wenn sie sterben. Für Jesus dreht sich alles darum, wie Gottes Reich in die Welt kommt, oder in den klassischen Begriffen ausgedrückt: wie der Himmel auf die Erde kommt.

Damit bin ich theologisch und praktisch auch ganz gut ausgelastet.

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Das schiefe Ebenbild

Vor allem die Vertreter konservativer Positionen haben in den letzten Jahren die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes dazu verwendet, die Notwendigkeit einer Unterordnung der Frau unter den Mann zu begründen oder um zu erklären, warum gleichgeschlechtliche Beziehungen eine Perversion der Gottebenbildlichkeit des Menschen darstellen. Das Verhältnis der Geschlechter wird dabei aus dem Verhältnis der trinitarischen Personen abgeleitet und damit jeglicher Diskussion um die geschichtliche und kulturelle Bedingtheit unserer Vorstellungen und Definitionen entzogen.

Beide Diskurse – die Frage nach einem egalitären oder komplementären (=hierarchischen) Verständnis von Mann und Frau, wie die Frage, ob gleichgeschlechtliche Liebe defizitär sei – werden von der konservativen Seite als Macht- und Ausgrenzungsdiskurse geführt. Wer in einem solchen Machtdiskurs Gott auf seiner Seite hat, muss nicht mehr auf den anderen hören.

Zum ersten Themenkreis (aber nicht ohne Relevanz für den zweiten) hat Andrew Perriman diese Woche einen hilfreichen Post geschrieben. Dort beleuchtet er das Vater-Sohn Verhältnis im Neuen Testament und zeigt schön, dass dies nicht von einer metaphysischen Ewigkeitsperspektive her gedacht ist, sondern den geschichtlichen Weg Jesu von der Taufe bis zur Auferweckung beschreibt. Eine Analogie zu diesem Verhältnis lässt sich zwischen Mann und Frau schlechterdings nicht sinnvoll konstruieren. Perriman zitiert aus einem etwas älteren Post von David Congdon:

Es lässt sich in Gott keine Analogie zu menschlicher Geschlechtlichkeit finden.

Es lohnt sich, bei Congdon noch etwas weiterzulesen. Ausgehend von Barth wird dort erläutert, dass der „Komplementarismus“ (schön, dass diese Entsprechung zum angelsächsischen Wort- und Gedankenmonster des Complementarianism im Deutschen noch nicht Fuß gefasst hat) eine Form der „analogia entis“ zwischen Gott und Mensch voraussetzt, also eine Art naturgegebene Wesensverwandtschaft, die es überhaupt möglich macht, menschliche Begrifflichkeit, Kategorien und Eigenschaften auf Gott anzuwenden. Für die einen ist das der Intellekt, für die anderen die unsterblich Seele, für wieder andere die Polarität oder Differenzierung von Mann und Frau (das wird gelegentlich irreführenderweise auch als „analogia relationis“ deklariert). Gemeinsam ist allen Ansätzen, dass sie völlig unabhängig von Gottes Selbstoffenbarung in Christus (der analogia fidei) gedacht werden können.

Was die Unterordnung Christi unter den Vater angeht, so wird diese im Neuen Testament nicht abstrakt behauptet, sondern sie vollzieht sich in der Sendung Christi (schön: „his submission cannot be abstracted from his mission“). Das komplementaristische Argument ist ein willkürlicher Zirkelschluss: Um zu beweisen, dass Frauen sich Männern unterordnen sollen, sucht man nach dem Stichwort „Unterordnung“ und wird in der Trinitätslehre fündig, schreibt Congdon. Dazu biegt man sie dann gewaltsam zurecht.

Kommentar meinerseits: Ganz analog geschieht das unter dem Stichwort „Verschiedenheit“, wenn die Unterscheidung der trinitarischen Personen zum Argument gemacht wird, warum die Liebe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern irgendwie „falsch“ sein soll – als wäre das Geschlecht die einzige Kategorie der Differenzierung unter Menschen; als würde ein Mann, der einen anderen Mann liebt, prinzipiell sich selbst lieben, während ein Mann, der eine Frau liebt, gegen diesen Irrtum schon deswegen prinzipiell gefeit wäre, weil es sich eben um eine Frau handelt.

Auch da wird ausgehend von der „immanenten Trinität“ argumentiert – und gleichzeitig hartnäckig ausgeblendet, dass „Vater“ und „Sohn“, deren Liebe als Vorbild dient, ja beides maskuline Analogien sind, die dafür herangezogen werden. Hier auf einmal spüren selbst die Vertreter der traditionellen Rollenzuschreibungen, was die Christenheit seit Gregor von Nyssa weiß – dass Geschlechtlichkeit im Blick auf das Wesen Gottes keine sinnvolle Kategorie darstellt. Und der Gedanke der Ehe, also der intimen und dauerhaften Verbindung zweier selbstständiger (!!) Wesen durch einen „Bund“, lässt sich auf die innertrinitarischen Relationen überhaupt nicht sinnvoll anwenden.

Wirklich schlüssig ist für Congdon nur diese Folgerung:

Die ökonomische Trinität [d.h. nicht Gott „in sich“, sondern Gott „für uns“] schließt die Kluft [zwischen Gott und Mensch] nicht, indem sie aus den trinitarischen Beziehungen vermenschlicht, sondern indem sie die menschlichen Beziehungen in ihr Leben hineinnimmt durch die Inkarnation. Wir sind daher nicht berufen, die trinitarischen Beziehungen nachzuahmen, sondern aufgrund der Inkarnation an ihnen teilzunehmen.

… In Christus wird uns daher gezeigt, wie die Dreieinigkeit aussieht, wenn sie das Menschsein einschließt, und wie Menschsein aussieht, wenn es in die trinitarischen Beziehungen aufgenommen wird.

… Wenn wir also das Ebenbild der Dreieinigkeit wiedergeben wollen, können wir das nur, indem wir das Bild Jesu wiedergeben als sein treuer Leib aus vom Geist geleiteten Jüngern in der Welt.

Wenn sich also eine Apotheose der Geschlechterpolarität verbietet, wenn die Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Rollen von Mann und Frau in die menschlich-geschöpfliche Sphäre fallen, dann sind sie auch keine Frage der Biologie allein, sondern eine Frage der Kultur. Wenn wir aber von Kultur reden, dann ist damit auch eine gewisse Variabilität verbunden. Wer Angst hat, diesen Interpretationsspielraum verantwortlich zu nutzen, der kann ihn wohl nur leugnen.

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DIe offene Bibel

Der evangelikale Querdenker Steve Chalke hat sich Gedanken gemacht, wie man Menschen wieder ein Zutrauen zur Bibel vermitteln kann. Dabei stellt er fest, dass gerade der konservative Dogmatismus vielen das Bibellesen verleidet hat, weil er die Schrift gesetzlich als Regelwerk oder aber als dogmatisch sakrosankten Lehrkodex missversteht. Beide Vorverständnisse scheitern jedoch an der unübersehbaren Vielstimmigkeit der biblischen Texte. Für Gemeinden und einzelne hat das oft schwerwiegende Folgen.

Seine Frage an die evangelikale Bewegung ist, ob dort nicht nur die einzelnen Aussagen (oft ja auch eher eklektisch und selektiv) ernst genommen wird, sondern auch die Grundstruktur der kanonischen Schriften selbst. Die wichtigsten Punkte in Chalkes Argumentation sind – kurz gefasst – folgende:

  • Er versteht die Schrift als „inspiriert“ und fordert, dass Ausleger sie mit Respekt lesen
  • Die Bibel ist eine Sammlung von Schriften unterschiedlichster Art und als solche kein „göttlicher Monolog“, sondern Resultat eines vielstimmigen Gesprächsprozesses
  • Wir begegnen darin sowohl Gottes veränderndem Handeln als auch der geschichtlich und kulturellen Bedingtheit der Menschen, die es beschreiben.
  • Man kann die Bibel daher nicht als „irrtumslos“ oder „unfehlbar“ bezeichnen
  • Die dialogische Natur der Bibel bedeutet, dass wir in diesen offenen Dialog auch selbst eintreten müssen und die Bibel gemeinschaftlich lesen und diskutieren
  • Da sie eine fortlaufende (wenn auch nicht immer lineare) Entwicklung beschreibt, kann man die Bibel nicht einfach als ein statisches Dokument lesen
  • Im Vertrauen auf den Geist Gottes und im Hören auf die Stimmen der Bibel wie auch der Christen anderer Zeiten können wir heute zu eigenen Standpunkten und Urteilen finden. Irrtümer sind dabei nicht auszuschließen.
  • Jesus als das Wort Gottes und die Jesustradition als Mitte der Schrift ist der bleibende Orientierungspunkt in unserer Beschäftigung mit den Zeugnissen der Schrift und den Fragen unserer Zeit
  • Dabei bleibt auch unser Verständnis der Bibel ein vorläufiges und in manchen Fragen werden Christen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen, die es dann geduldig auszuhalten gilt

Zum Ende hin fasst Steve Chalke zusammen, worum es ihm geht: „Wir glauben, wenn man die Bibel als einen heiligen Dialog versteht, bietet das einen authentischeren und eleganteren Ansatz, sie zu lesen und sich mit ihr zu befassen, als andere, eher dogmatische Methoden. Sie sind nicht nur anfällig dafür, Zwietracht zu säen und Konflikte zu schaffen, die der Ehre Christi abträglich sind, sondern sie führen rückblickend betrachtet oft auch zu problematischen Hypotheken, wenn neue Einblicke und neue Lesarten des biblischen Textes hervortreten.“

In eine ganz ähnliche Richtung denkt seit einigen Wochen Rob Bell, der eine Serie von Blogposts zur Frage „What is the Bible?“ schreibt, in der er an konkreten Fragen zu konkreten Bibeltexten dieses offene, dialogische Bibelverständnis durchspielt.

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Bibelverständnis zwischen Dogmatismus und Relativismus

Steve Chalke spricht über tragfähige Zugänge zur Bibel und fragt, welches Vorverständnis es Menschen erschwert (oder auch unmöglich macht), sich mit dem Buch der Bücher anzufreunden.

Vieles scheitert heute erfahrungsgemäß entweder an der Vorstellung, sämtliche Aussagen der Bibel seien unantastbar und daher gefälligst gedanken- und kritiklos zu schlucken (menschlicher Verstand dient hier lediglich zur Abwehr aller Kritik), oder am Empfinden, dass vieles heute so fremd, zum Teil verstörend und schwer verständlich ist, dass man sich kaum noch die Mühe macht, selbst zu lesen und Bibeltexte nur noch in harmlosen Häppchen aus zweiter Hand konsumiert.

Ich werde das demnächst noch ein bisschen ausführlicher erläutern. Als Appetizer hier schon einmal sein Video zum Thema:

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