Stress mit bösen Geistern (1)

Wie sind die Exorzismen Jesu zu deuten, von denen die Evangelisten so häufig unter dem Stichwort der „Machttaten“ berichten? Richard Horsley befasst sich im 5. Kapitel von Jesus and the Powers mit dieser für heutige Bibelleser vielleicht fremdartigsten Kategorie von Erzählungen im Neuen Testament und bringt interessante Aspekte in eine weithin festgefahrene Debatte.

Heutige Deutungsversuche scheitern entweder daran, dass sie in typisch neuzeitlicher Manier die Geschichten entweder als bloße Legenden behandeln, oder sie durch die dualistische Brille von Natur und „Übernatürlichem“ als wundersame Beweise für die Gottheit Christi deuten, oder dass das man Phänomen der „Besessenheit“ psychologisiert, nach heutigen Vorstellungen von Subjektivität als rein innerlicher Konflikt behandelt.

Alle drei modernen Deutungen werden den Texten nicht gerecht: Die Menschen damals erlebten es so, dass eine Macht von außen ihnen zu schaffen machte, nicht als einen rein innerlichen Konflikt. Die „Besessenen“ werden durchweg isoliert von ihrem Kontext als neuzeitliche, in sich geschlossene Individuen mit einem Leiden oder, schlimmer noch, psychischen Defekt betrachtet. Politik und Spiritualität erscheinen als ganz verschiedene Sphären, die miteinander nichts zu tun haben.

Horsley verweist auf Stimmen aus der neueren medizinischen Anthropologie, die gezeigt haben, dass nicht nur Krankheiten, sondern auch Heilung gesellschaftlich konstruiert sind. Im Fall der Schulmedizin deuten wir sie beispielsweise als Fehlfunktionen biologischer und psychologischer Prozesse. Wir wissen freilich längst, dass geschichtliche und soziale, strukturelle, politische und wirtschaftliche Faktoren auch eine gewichtige Rolle spielen, in der Regel blenden wir sie jedoch aus.

Phänomene von Besessenheit müssen daher umfassender aus dem kulturellen Kontext heraus verstanden werden, in dem sie auftreten. Horsley sucht zu diesem Zweck nach Analogien zum Palästina des ersten Jahrhunderts. Bei einer Reihe afríkanischer Völker gab es beim Eintreffen der ersten Europäer schon die Vorstellung, dass die Kranken und Niedergeschlagenen von den Geistern der Fremden heimgesucht werden, etwa der Araber, später dann auch der Europäer oder der christlichen Mission (in dem Fall hier der eindringende Geist dann „Kijesu“ oder im Sudan „nasarin“). Man besänftige diese fordernden und gierigen Mächte mit Getränken aus Flaschen, Weißbrot und Fleisch aus Konservendosen.

Die Invasion der Europäer sorgte dafür, dass sich die Fälle von Besessenheit massiv häuften und ständig neue Variationen entwickelten  – zum Beispiel konnten die Dämonen den Namen des viktorianischen Imperialisten Lord Cromer tragen. Bei den Zulus scheint diese Zunahme besonders intensiv gewesen zu sein, so dass die Exorzisten Menschen „impften“ durch „Soldaten“ – Geister, die ihre Träger nach Maschinenöl verlangen, sie in fremden Sprachen reden oder Lokomotivengeräusche imitieren ließen. Das sind alles vergleichsweise harmlose Aspekte der Kultur der Invasoren, mit denen man sich gegen die Gewaltherrschaft der neuen Herren schützen wollte. In den 1960er Jahren beschrieb der Psychiater Frantz Fanon Besessenheit und die Angst vor Dämonen als Konsequenz der französischen Besatzung, von der die Einheimischen als Primitive behandelt wurden, die nur die Sprache der Gewalt verstehen. Der Impuls zum Widerstand war da, ein Aufbegehren dagegen erschien lebensgefährlich. Horsley folgert:

Als Reaktion auf die Mächte, denen sie ausgeliefert waren, glaubten die Kolonialvölker allmählich, ihre Unterwerfung sei durch keine Aktion ihrerseits zu beheben. Über ihr Schicksal bestimmten höhere, übermenschliche Mächte. Kolonialer Gewalt war nur durch noch größere Gewalt beizukommen, die ihnen nicht zur Verfügung stand. Er war offensichtlich, dass die dominierende fremde Zivilisation ihre traditionelle Lebensweise bedrohte. Entsprechend der Sicht der Kolonialherren, die die Eingeborenen als die Personifizierung des Bösen ansahen, hielten die Eingeborenen die Kolonialherren für böse.

… die Angst der Menschen vor den Dämonen stärkte so ihre Hemmungen, die ein eventuelles aggressives Handeln verhinderte. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die bedrohliche Welt böser Geister, nicht auf die Instrumente kolonialer Kontrolle. Die dämonischen Mächte, nicht die konkreten Mächte imperialer Herrschaft waren Ursache ihres Leidens. Dämonenglaube war insofern ein Selbstschutz, als er das unterworfene Volk befähigte, die direkte Konfrontation mit den Kolonialherren zu vermeiden, die zu ihrem Untergang geführt hätte. Aber so war es auch ein wirksames Mittel der sozialen Kontrolle in einer Kolonialsituation und eine mystifizierende Verschleierung dieser Kolonialsituation samt der Mächte, die sie geschaffen hatten. (S. 117)

Die Beschäftigung mit dämonischer Besessenheit, die der vorhandene Geisterglaube ihnen ermöglichte, retteten die Menschen so gesehen davor, die angestaute Aggression gewaltsam gegen die Invasoren und Unterdrücker zu wenden, was aufgrund der militärischen Unterlegenheit einem kollektiven Selbstmord gleichgekommen wäre. Den Unterdrückern freilich nutzte diese Verschiebung des Problems.

Was das mit dem Neuen Testament zu tun hat, werde ich im nächsten Post kurz betrachten.

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Begrenzte Allmacht

Seit gestern liegt der Aufsatzband „Theopolitik“ des Berner Alttestamentlers Walter Dietrich auf meinem Schreibtisch. Passend zur Diskussion bei Con:Fusion und zum letzten Thema der Allianz-Gebetswoche am Sonntag habe ich mir gleich „Grenzen göttlicher Macht nach dem Alten Testament“ angesehen und bin nicht enttäuscht worden.

Dietrichs Fazit vorweg, weil ich es so prägnant finde:

Die Bibel weiß viel von Grenzen Gottes: von ihm anscheinend vorgegebenen, die er aber dann verschoben und durchbrochen hat, noch mehr von solchen, an die er sich selbst gebunden hat, ohne doch ihr Gefangener zu werden. So ist es wohl nötig, die Rede vom allmächtigen Gott aufgrund des biblischen Zeugnisses sorgfältig zu kontrollieren, wohl auch zu korrigieren; sie jedoch minimieren und ganz eliminieren zu wollen, dazu bietet die Bibel kaum Hand.

Auf der Website der Evangelischen Allianz heißt es zum kommenden Sonntag nicht ganz so differenziert: „Unverfügbar, unanfechtbar und gerecht und zugleich liebevoll, geduldig und barmherzig steht er über allem […] Herrlich – vollkommen, souverän, gerecht und zutiefst gut ist der Gott, den wir als „Vater“ anreden dürfen.“ Die Frage nach einer Einschränkung, welcher Art auch immer, kommt dort gar nicht in den Blick. Wie aber bringt man so ein Gottesbild von totaler und maximaler Souveränität in Einklang mit dem prekären Zustand unserer Welt?

In der hebräischen Bibel gibt es immer wieder Hinweise auf räumliche Begrenzungen, von denen Israel im Blick auf Gott reden kann. Gott scheint begrenzt auf sein Volk und dessen Siedlungsgebiet (Dtn 32,8-10; 1Sam 26,18f), noch genauer auf das palästinische Bergland (1Kön 20,23) und erst allmählich – es geht auf das Exil zu – wird vorstellbar, dass er die Fronten und den Ort wechseln könnte. Eine andere Grenze war der Tod (daher das strikte Verbot, Totes zu berühren), bevor sich im Jesajabuch dann der Gedanke Bahn bricht, Jahwe könne den Tod überwinden.

Neben dem Tod dringen auch Chaosmächte in Gottes Schöpfung ein, symbolisiert etwa durch den Leviathan. Jene Schöpfung, deren Existenz sich einer Selbstbegrenzung Gottes verdankt und der Gott von Anfang an die Macht gegeben hat, selbst wieder Leben aller Art hervorzubringen (Gen 1,24), statt bloß passives Produkt göttlichen Schaffens zu sein. Auch hier setzt Gott sich selbst Grenzen, indem er Eigenwirksamkeit und Eigenwillen seiner Geschöpfe, vor allem der Menschen, zulässt. Und wie die Geschichte von der Sintflut zeigt, stellt ihn das sofort vor größte Herausforderungen.

Deutlicher noch als im Verhältnis zur Schöpfung setzt er seiner Macht Grenzen, indem er sich an Israel bindet. Es führt zu einer komplizierten Liebesgeschichte, in der Gott die Rolle des verletzten und enttäuschten Partners einnimmt. Bekenntnisse zärtlicher Liebe wechseln mit zornigen Drohungen ab; am Ende, so Dietrich, „hatte Israel mehr Macht über ihn, als es einem allmächtigen Gott lieb sein kann“ und bei Gott siegt Treue und Barmherzigkeit über den berechtigten Zorn. Indem sich Gott so festlegt, verliert er Optionen, die seine Macht sichern. Im Buch Jona wird diese sanfte Seite Gottes weiter entfaltet. Jona wirft Gott vor, den heidnischen Assyrern gegenüber viel zu nachsichtig zu sein.

Man kann mit alldem im Hinterkopf, was ich jetzt sehr gerafft und möglicherweise auch leicht verkürzt hier wiedergegeben habe, das Neue Testament als eine Erzählung davon betrachten, wie Gott mit diesen Einschränkungen seiner Allmacht, die damit keine blanke Willkür mehr ist (das haben leider nicht alle, auch nicht alle Christen, verstanden) in und an der Welt zu ihrem Heil wirkt und handelt. Auch da wird man dann sehen, dass Gericht und Gnade eng miteinander verflochten sind, dass aber die Gnade das Übergewicht hat, und dass vermutlich auch deswegen manches länger dauert, als wenn man immer sofort draufhaut. Als einzelner wie als Angehöriger der Menschheit insgesamt kann man darüber eigentlich nur erleichtert sein.

(Foto: „omnipotence | brooklyn superheroes store“ von Lars K via flickr/creative commons 2.0)

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Ein messianischer Spitzname

Vor mir liegt das ungemein anregende Buch Die Zeit, die bleibt von Giorgio Agamben über den Römerbrief. Es hat beim nachweihnachtlichen Lesen den neuen Rebus von Ian Rankin ausgestochen, der hald fertig auf dem Sofa liegt. Faszinierend ist vor allem, was Agamben alles an großen Gedanken aus Kleinigkeiten herausholt, die andere überlesen oder für trivial halten.

Das beginnt schon mit seiner Beschreibung des Autors, von dem Apostelgeschichte 13,9 sagt: „Saulus, der auch Paulus heißt“:

Paulus nennt sich in seinen Briefen immer nur Paulus. Das ist alles, und dem gibt es nichts hinzuzufügen.

Agamben nennt dann etliche Beispiele für Metonymien aus dem Judentum. Ein Buchstabe reicht aus, um Abraham und Sara nicht nur einen neuen Namen zu geben, sondern sie als neue Menschen erscheinen zu lassen. Für den jüdisch-hellenistischen Denker Philon wird hier aus dem Kleinen das Große, aus dem Besonderen das Allgemeine, aus dem Sterblichen das Unsterbliche. Eine derartige „neue Harmonie“ gibt es auch bei Paulus, allerdings ist die Richtung der Änderung hier umgekehrt:

Saulos ist nämlich ein königlicher Name, und der Mann, der diesen Namen trug, übertraf jeden Israeliten nicht nur nach Maßgabe seiner Schönheit, sondern auch seiner Größe (1Sam 9,2; im Koran heißt Saul daher Talut, der Große). Der Wechsel vom sigma zum pi bedeutet daher nicht weniger als den Übergang von Größten zum Kleinsten, von der Größe zur Kleinheit – paulus bedeutet im Lateinischen „klein, von geringer Bedeutung“ und in 1.Kor 15,9 definiert sich Paulus selbst als „den kleinsten [elachistos] der Apostel.“

Paulus ist kein Bei- sondern ein Übername (ein signum oder supernomen), und zwar ein messianischer. Im Übergang vom trinominalen System der Römer (wie in Gaius Julius Caesar) zum späteren christlichen bzw. modernen uninominalen System gab es unter Christen häufig solche Neubildungen von Spitznamen, die eine „kreatürliche Demut“ verrieten:

Saulos qui et Paulos enthält also eine onomastische Prophetie, die eine lange Nachkommenschaft haben sollte. Die Metonomasie realisiert das unversöhnliche messianische Prinzip, das vom Apostel mit Nachdruck ausgesprochen wird und wonach in den Tagen des Messias die schwachen und wertlosen Dinge – die gewissermaßen nicht existieren – über diejenigen Dinge die Überhand gewinnen, die die Welt als stark und wichtig einschätzt. … Das Messianische trennt den Eigennamen vom Namensträger, der von nun an nur einen uneigentlichen Namen, einen Spitznamen haben kann. Nach Paulus sind all unsere Namen nichts als signa, Übernamen.

Wenn man (Agamben spielt darauf nicht an) daran denkt, dass der Turmbau zu Babel dadurch motiviert war, dass Menschen sich einen Namen machen wollten, dann sehen wir hier unter dem Eindruck des „göttlichen Hauches“, wie das Gegenteil passiert: Menschen verlieren ihren Namen aus freien Stücken, sie wollen nicht nach oben, sondern sie folgen dem Messias Jesus nach unten.

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Mistkäfer-Theologie

Theologie studiert Gott und seine Wege. Nach allem, was wir wissen, könnten Mistkäfer uns und unsere Wege studieren und das Menschologie nennen. In diesem Fall würde uns das eher rühren und amüsieren als stören. Hoffen wir, dass es Gott genauso geht.

gefunden bei Frederick Buechner

 

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Mit Gottes Reich ist es wie mit dem Internet…

Jesus spricht in Lukas 17 davon, dass man beim Reich Gottes nicht einfach sagen könne, es sei hier oder da. Dennoch ist es nahe, in Reichweite, am Kommen und im Wachsen begriffen. Für letzteres verwendet Jesus durchweg organische Bilder, insofern ist der Vergleich, den ich jetzt anstelle, etwas heikel. Trotzdem:

Seit etwa 20 Jahren gibt es das Internet. Auf die Frage, wo das Internet denn sei, kann man auch nicht einfach auf irgendetwas zeigen. Bildschirme, Router, Datenleitungen, Satelliten, Netzknotenpunkte, Inhalte, Nutzer, Protokolle, Software – alles gehört irgendwie dazu und nichts ist für sich genommen schon das Internet.

„Das Internet“ ist ständig im Werden. Praktisch jede(r) kann sich anschließen lassen. Zwar nutzt nicht jede(r) das Internet, manche finden es zu teuer, zu gefährlich oder zu kompliziert. Aber das Internet hat im Laufe der relativ kurzen Zeit, seit es „nahe herbeigekommen“ ist, das Leben vieler Menschen und ganzer Gesellschaften verändert – mal etwas mehr, mal etwas weniger.

Natürlich ist das Reich Gottes nicht das Internet (ebenso wenig wie das Internet das Reich des Bösen ist, wie manche argwöhnen). Aber es gibt Analogien, die uns helfen können, besser zu verstehen, wie das mit dem Reich Gottes „funktioniert“. Man lernt zum Beispiel über das Internet Menschen kennen, denen man anders bei begegnet wäre. So ist es mit dem Reich Gottes auch.

Das ließe sich jetzt bestimmt noch in verschiedene Details fortsetzen, und sicher werden manchen nun alle möglichen Aspekte einfallen, in denen der Vergleich mächtig hinkt. Schließlich hat das Internet keineswegs nur gute Seiten. Ich beschränke mich daher auf diese knappen Gedanken.

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Belebende Spaltung

Bin ich Protestant? Oder im Herzen katholisch? Orthodox? Zum Wesen des Christentums – eben nie mit sich selbst identisch – gehören die Spaltungen und inneren Kämpfe. Sie beleben den »Leib Christi«, weil die Wahrheit des Christentums immer zugleich deren Widerruf ist. Die Kirche spricht im Horizont einer kommenden Verwandlung. Was sie in Sprache fasst, widerruft sie, weil sie’s nur in der Sprache der Menschen sagen kann, und da ist kein Halt, bis der Christus kommt und sagen wird: »Im Anfang war das Wort.«

gefunden bei: Christian Lehnert, Korinthische Brocken

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Ansprechende Bibel

Das Verstehen der Bibel hat uns hier immer wieder beschäftigt. In Uta Pohl-Patalongs Einführung in den Bibliolog habe ich dazu ein paar schöne, weil hilfreiche Gedanken gefunden:

… die Texte der Bibel handeln von existenziellen Themen und Fragen, die Menschen aller Zeiten in irgendeiner Weise beschäftigten. Sie tun dies in einer historisch bedingten Form, die heute manchmal durchaus irritiert, aber sie tun dies in einer symbolischen Weise, die Menschen noch immer ansprechen und anregen kann.

Nur selten finden sich in der Bibel definitive Antworten auf menschliche Fragen, häufig schildert sie Suchprozesse und zeigt, wie Menschen in ihrer Zeit und in ihrer Situation auf bestimmten Grundlagen zu Lösungen kommen und wie sie Gott dabei erleben.

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Gewaltfreiheit: nichts für schwache Nerven

Die Fleischhauer-Fraktion in meinem Facebook-Freundeskreis schießt sich (wieder mal?) auf Margot Käßmann und deren Pazifismus ein. Ich habe Käßmanns Vorstellungen nicht näher studiert, aber in der Kritik erscheint Pazifismus stets als Untätigkeit. Natürlich auch, um dann zu begründen, warum der Einsatz von Waffen und der Krieg alternativlos ist. Zumal es jetzt ja darum geht, verfolgten Christen zu helfen oder das Existenzrecht Israels zu verteidigen.

Vielleicht gibt es diesen theoretischen und feigen Pazifismus (weil er „andere für ich kämpfen lässt“) tatsächlich, doch freilich sitzen auch fast alle seine Kritiker am sicheren Schreibtisch, statt sich freiwillig mit der Waffe in Erbil einzufinden und gegen die IS-Kämpfer anzutreten. Denn wer jetzt noch den Einsatz von Gewalt ablehnt, kann ja nur ein Verräter sein – oder?

Walter Wink hat sich stets für einen biblisch begründeten dritten Weg zwischen Pazifismus und gerechtem Krieg eingesetzt, nämlich den des gewaltfreien Kampfes. Im sechsten Kapitel von Verwandlung der Mächte beschreibt er die wichtigsten Eckpunkte dieses Kampfes, der – da macht sich Wink nichts vor – mehr Mut und Leidensfähigkeit erfordert als der mit der Waffe, daher muss man wie Paulus sagen können, dass man für die Mächte dieser Welt gestorben ist.

Die Gewaltfreiheit Jesu richtet sich nicht an die bereits Vollkommenen, sondern an verängstigte, frustrierte und sogar gewalttätige Menschen, die dennoch offen sind für Veränderung. […]

Eines muss allerdings klar sein: Wenn unsere gewaltfreien Aktionen effektiv sein sollen, werden wir genauso bereit sein müssen, zu leiden und getötet zu werden wie Soldaten in der Schlacht. Die Gewaltfreiheit ist keine Methode, persönliche Opfer zu vermeiden. Sie verlangt im Gegenteil, dass wir eher Opfer bringen, als sie anderen aufzuerlegen. Sie verlangt ein Heldentum, das erstaunlich viele Leute bereit sind, auf sich zu nehmen.

Zum einen müssen die Mittel mit dem Zweck übereinstimmen: Wer eine demokratische Gesellschaft und stabilen Frieden will, wird das mit Gewalt nicht erreichen. Eine gewaltfreie Revolution ist auf eine Verwandlung der Beziehungen und einen friedlichen Machtwechsel aus, der die Tür für eine Heilung der Schäden offen hält. Zum anderen muss das Recht selbst da geachtet werden, wo man bewusst unfaire Gesetze und Vorschriften bricht oder sich über sie hinwegsetzt. Gott will die ungerechte politische Ordnung verändern, nicht aber zerstören. Manche Menschen müssen sich unter Umständen erst einmal mit Waffen oder Gewalt wehren, mindestens aber einmal dem eigenen Zorn und eventuell sogar Hass akzeptieren, um dann darauf verzichten zu können.

Gewaltfreiheit darf auch nicht als Konfliktvermeidungsstrategie missverstanden werden. Der „Frieden“ des Evangeliums bedeutet nie Konfliktfreiheit, sondern eine unaussprechliche, göttliche Stärkung im Zentrum des Konflikts: einen Frieden, der menschliches Begreifen übersteigt. Christen haben allzu oft nach „Gewaltfreiheit“ gerufen, als es ihnen in Wirklichkeit um Ruhe ging. Gewaltfreiheit sucht aber tatsächlich den Konflikt, bringt ihn ans Licht, provoziert sogar den Konflikt, um ihn offenzulegen und seine eitrigen Geschwüre aufzustechen. Die Gewaltfreiheit ist dem Bösen gegenüber nicht idealistisch oder sentimental; sie … geht aktiv, mit dem gleichen Eifer wie der schlimmste Militarist gegen eine wahrgenommene Ungerechtigkeit vor.

Der Verzicht auf Gewalt setzt innere Stärke voraus – und Realismus im Blick auf eine wesentliche „Gesetz“ menschlicher Erfahrung: Der Kampf gegen das Böse kann böse machen. Wink zitiert Nietzsche, der sagte: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er dabei nicht zum Ungeheuer wird.“ Ähnlich schrieb C.G. Jung: „Man wird immer zu dem, was man am stärksten bekämpft.“ Und Martin Luther King stellte fest: „Die größte Schwäche der Gewalt ist, dass sie in eine Abwärtsspirale führt, die genau das, was sie zerstören will, erzeugt.“

Von daher ist es auch nicht ganz so überraschend, wenn Wink davon berichtet, wie manche Friedensaktivisten den größten Hass und den schmerzlichsten Verrat aus den eigenen Reihen erlebt haben. Wenn man den eigenen „Schatten“ nicht im Auge behält, projiziert man ihn irgendwann auf die, die es am wenigsten verdient haben. Also kann gewaltfreier Widerstand nicht auf eine spirituelle Komponente verzichten. Wink bedauert den Widerwillen mancher Aktivisten gegenüber dem Gebet und der Meditation, er erinnert sogar an die „Waffenrüstung“ aus dem Epheserbrief, die die eigene Seele vor der Infektion durch das Böse schützt. Aber für Wink sind es die äußeren Kämpfe, die uns in die spirituelle Auseinandersetzung führen. Er schließt das Kapitel mit der Bemerkung:

Selbstmörderisch erscheint denen die Gewaltfreiheit, die in der Falle des Mythos von der erlösenden Gewalt sitzen; denen allerdings, die unerschrocken die Bandbreite der Gewalt in unserer Alltagswelt wahrnehmen, wird die Gewaltfreiheit als einzig verbleibende Möglichkeit erscheinen. Und das gilt nicht nur für Christen, sondern für die ganze Welt.

Kleiner Nachtrag meinerseits:

Im Jahr 1095 rief Papst Urban II die Christenheit zum Kampf an der Seite der durch die Türken bedrohten orthodoxen Christen und für die Sicherheit der Pilgerwege ins Heilige Land auf. Viele, vor allem westfränkische Adlige folgten seinem Aufruf und hofften, die eigene Neigung zur Brutalität in diesem Kampf zu besiegen und für die eigenen, zuhause verübten Verbrechen Sühne zu leisten. Doch der Kampf für den „Gottesfrieden“ wurde – je länger, je mehr – zum Debakel. Urbans Argumente jedoch sind nicht so weit entfernt von manchem, was ich in den letzten Wochen auf Facebook und in Kommentarspalten gelesen habe. Wer mag, kann seine Rede von Clermont hier auf Deutsch nachlesen.

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Gewaltfrei glauben

Die Verknüpfung von Religion und Gewalt beherrscht die Titelseiten. Im (ehemaligen?) Irak wütet die IS gegen Christen und andere Minderheiten, die Hamas beschießt Israel mit Raketen und nimmt schwerste Schäden für die eigene Bevölkerung billigend in Kauf, in Afrika gehen Boko Haram in Nigeria oder Joseph Konys „Lord’s Resistance Army“ in Uganda mit größter Brutalität vor.

 

Passend dazu arbeite ich an der Übersetzung von Miroslav Volfs A Public Faith, das sich mit der Frage auseinandersetzt, ob eine Zunahme der Religiosität bedeutet, dass immer auch mehr religiöse Gewalt entsteht, ob man also Religionen bekämpfen oder wenigstens ins Private zurückdrängen müsse, um Gewalt zu verhindern – und ob manche (oder alle) Religionen per se potenziell gewalttätig sind.

In der FAZ schreibt aktuell der Religionsphilosoph Friedrich-Wilhelm Graf unter der Überschrift Mord als Gottesdienst facettenreich über den Zusammenhang von Glaube und Gewalt und mahnt zu mehr aufgeklärter Reflexion und Selbstkritik. Anders als bei Volf bleibt Religion an sich (das Christentum eingeschlossen) für Graf offenbar stets ambivalent.

Für das Christentum hat Walter Wink die Bedeutung und Konsequenz des Kreuzes in Verwandlung der Mächte: Eine Theologie der Gewaltfreiheit im Blick auf Galater 2,20 wunderbar zusammengefasst. Für Christen geht es darum, mit Christus zu sterben, um in Christus neu und anders, nämlich dezentriert zu leben:

Den Mächten gegenüber zu sterben ist am Ende nicht ein Weg, unsere Seelen zu retten, sondern uns einzufügen in das göttliche Bemühen, die widerspenstigen Mächte [d.h. politische, ökonomische, soziale und religiöse Systeme, die sich aufgrund ihres „gefallenen“ Zustandes destruktiv verhalten und Menschen zum Selbsterhalt und zu Steigerung ihrer Macht benutzen] zu zügeln. Als Jesus sagte: „Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es gewinnen“ (Lk 17,33), zog er einen Strich in den Sand und fragte, ob wir bereit seien, darüber zu treten: aus einer Welt, in der Gewalt immer die ultimative Lösung ist, in eine Welt, in der die Spirale der Gewalt endlich durchbrochen ist, durch diejenigen, die bereit sind, ihre Wucht am eigenen Leib aufzufangen. Diese neue Art zu leben ist die Gewaltfreiheit, der „dritte Weg“ Jesu.

Für Wink (wie für Volf) ist das mehr als kritische Selbstbesinnung, sondern eine innere Verwandlung, die weiter reicht als eine Zivilisierung des Ichs durch das Ich, richtig verstandener und gelebter Glaube daher ein Aktivposten gegen die schrecklichen Auswüchse dieser Tage. Wenn es gegen Hass und Gewalt geht, ist jeder Christ ein Aktivist…

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Streiten über Schuld und Strafe

Theologie zu treiben kommt mir in manchen Situationen vor wie dieses Spiel, bei dem man aus einer Reihe vorgegebener Worte einen beliebigen Satz bilden muss. Das Resultat ist oft unterhaltsam, aber selten sinnvoll, weil das Augenmerk auf der Vollständigkeit liegt, nicht auf der Stringenz. Ergo betont man dann auch kurzerhand, Stringenz werde überbewertet, wenn jemand deren Fehlen andeutet.

So ähnlich ging es mir in den letzten Tagen mit manchen Reaktionen auf meinen Post zu den Genozid-Passagen im Ersten Testament. Alle Sätze, die Gott in Beziehung zu Krieg und Gewalt setzen, scheinen manchen Auslegern gleich gültig zu sein, für die Verknüpfung zwischen den einzelnen Aussagen ist nur der Modus „Ergänzung“ zugelassen und nicht der des Widerspruchs. Grundsätzlich ist das ein äußerst sympathischer Ansatz, nicht gleich in Ausschlüssen zu denken, und ich würde mir wünschen, dass seine Advokaten dies auch jenseits der Bibelauslegung häufiger so hielten. Aber wenn man nur über dieses eine Werkzeug verfügt, hat man ein Problem.

Vielleicht wird an dem folgenden Beispiel deutlich, dass die sowohl-als-auch-Methode nicht funktioniert. In Ezechiel 18 diskutiert Gott mit dem Volk über Schuld und Strafe, Leben und Tod. Die Exilsgeneration klagt, ihr Elend sei unverschuldet und damit ungerecht, weil nun die Kinder die Suppe der Väter auslöffeln müssen:

Das Wort des Herrn erging an mich: Wie kommt ihr dazu, im Land Israel das Sprichwort zu gebrauchen: Die Väter essen saure Trauben und den Söhnen werden die Zähne stumpf? So wahr ich lebe — Spruch Gottes, des Herrn -, keiner von euch in Israel soll mehr dieses Sprichwort gebrauchen. Alle Menschenleben sind mein Eigentum, das Leben des Vaters ebenso wie das Leben des Sohnes, sie gehören mir. Nur wer sündigt, soll sterben.

… Wenn der Schuldige sich von allen Sünden, die er getan hat, abwendet, auf alle meine Gesetze achtet und nach Recht und Gerechtigkeit handelt, dann wird er bestimmt am Leben bleiben und nicht sterben. Keines der Vergehen, deren er sich schuldig gemacht hat, wird ihm angerechnet. Wegen seiner Gerechtigkeit wird er am Leben bleiben.

… Wenn jedoch ein Gerechter sein rechtschaffenes Leben aufgibt, wenn er Unrecht tut und all die Gräueltaten begeht, die auch der Böse verübt, sollte er dann etwa am Leben bleiben? Keine seiner gerechten Taten wird ihm angerechnet. Wegen seiner Treulosigkeit und wegen der Sünde, die er begangen hat, ihretwegen muss er sterben.

Die Klage ertönt auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Vorstellung, Gott würde die Sünden der Väter an ihren Nachkommen heimsuchen, ja schon in den Zehn Geboten verankert ist, oder dass (wieder im Buch Josua…) Gott das ganze Volk für den relativ überschaubaren „Diebstahl“ des Achan hart bestraft. Umgekehrt konnte freilich auch der Segen eines Gerechten (im Falle Abrahams wenigstens in der Theorie, bei Mose auch praktisch) ganze menschliche Gemeinschaften vor dem verdienten Gericht retten.

Gott verweigert keineswegs die Diskussion, aber er stellt ausdrücklich um von Kollektiv- auf Individualschuld. Jeder wird für seine Taten belohnt oder bestraft, und zwar in diesem Leben. Von einem Jenseits ist nicht die Rede. Der Gerechte lebt also lang und glücklich, dem Ungerechten droht der Tod. So weit, so klar.

Was hier formuliert wird, ist exakt die Position, gegen die sich Hiob so vehement wehrt, dass sich nämlich Leid und Schuld strikt proportional zu einander verhalten. Seine Freunde dagegen werden nicht müde, genau diesen Zusammenhang zu „beweisen“, etwa indem sie das Vorhandensein unbewusster Schuld (ziemlich dreist…) postulieren. Am Ende behält Hiob Recht: Leid trifft Menschen völlig willkürlich – Gerechte und Ungerechte. Der Unterschied liegt in der Reaktion – der eine klammert sich an Gott, der andere verflucht ihn. Dass die Rahmenerzählung mit den merkwürdig nachklappenden Alles-wieder-gut das komplett konterkariert, ist ein weiteres Zeichen dafür, wie uneinheitlich dieses Problem gelöst wurde und wie offen die Widersprüche stehen bleiben dürfen. Jesajas Gottesknecht leidet unverschuldet und wird dafür auch noch verachtet. Und die Psalmisten beklagen immer wieder das Glück der Gottlosen, das Elend der Frommen und das Schweigen Gottes.

Aber nicht nur bei Hiob, auch für Jesus verbietet sich der Rückschluss von individuellem Leid auf persönliche Schuld – vom Kollektiven und Generationsübergreifenden ganz zu schweigen. Freilich kennen wir diese Zusammenhänge auch, manches Elend ist durchaus hausgemacht, manches ist uns als Hypothek mitgegeben. Und wir alle hätten es wohl begrüßt, wenn Hitler (oder jeder andere unumstrittene Erzschurke) in dem Moment tot umgefallen wäre, als die Nazis den ersten Juden (oder jedes andere unumstritten unschuldige Opfer) töteten.

Für seine Gegner war das Leiden Jesu der Beweis, dass er ein Gottloser war. Dazu kommt: Er selbst hat den Tod unter den Gottlosen, durch die Hände der Gottlosen und als Gottloser (bzw. vom Gesetz verfluchter, wie Paulus später schreiben wird) gewählt. Banalen und brutalen Sünden setzt Gott exzessive Vergebung entgegen, und allen, die leiden, gilt die Verheißung, dass ihre Tränen in der kommenden Welt in Freude verwandelt werden. Was aus der Diskussion zwischen Ezechiel und seinen Leidensgenossen bleibt, ist diese Asymmetrie von Schuld und Barmherzigkeit, Leid und Heilung. Das Gericht ist aufgeschoben bis zum Ende der Geschichte und vieles deutet darauf hin, dass es gnädiger ausfallen könnte, als mancher (Selbst-)Gerechte sich das momentan wünscht, weil Gott schlicht kein Interesse am Tod des Sünders hat und den Tod lieber selbst erleidet – und damit auch überwindet. Alles Herumrechnen ist nun überflüssig.

Als neulich mein Freund Udo starb und Tage später Ezechiel 18 in der sonntäglichen Perikopenreihe erschien, war mir sofort klar, dass ich diesen Text nicht so predigen kann, als gelte heute alles eins zu eins so, wie es da steht. Ich kann es nur als geschichtlichen Zwischenstand predigen, als eine Stimme in der großen Runde der Bibel, vielleicht auch als Ende problematischer Vorstellungen von Kollektivbestrafung. Doch statt nun eine wasserdichte Universaltheorie zum Problem von Leiden und Unrecht hier zu präsentieren, kann ich alle nur einladen, wie die Juden damals heute selbst eine offene Diskussion mit Gott anzufangen, in der wir ihm seine Verheißungen vorhalten und die Missstände dieser Welt beklagen, aber auch dafür danken, dass uns und vielen anderen Vergebung und ein Neubeginn geschenkt wird. Vor allem müssen wir nicht in falsch verstandener Ehrfurcht alles schlucken, was uns an Erklärungen (selbst „biblische“) so vorgesetzt wird.

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Gott im Zwielicht der Gewalt?

Seit ein paar Tagen geht mir ein Beitrag meines geschätzten Bekannten Krish Kandiah im Kopf herum, den er jüngst auf Christian Today veröffentlicht hat. Krish ist für die Evangelical Alliance tätig und hat die Aktion Home For Good ins Leben gerufen, er ist ein wacher Beobachter des Zeitgeschehens und ein feiner Kommunikator.

In dem Beitrag hat er sich der Frage von Genozid und Heiligem Krieg in der Bibel angenommen, ein Thema, das vorwiegend im Rahmen des deuteronomistischen Geschichtswerks erscheint und tagespolitisch kaum aktueller sein könnte. Wie geht man mit Bibelstellen um, in denen davon erzählt wird, Gott habe angeordnet, eine ganze Bevölkerung zu vernichten?

Sie eroberten die Stadt und bannten alles, was in der Stadt war, von Mann bis Weib, von Knabe bis Greis, bis Ochs und Lamm und Esel, mit der Schneide des Schwerts. (Josua 6,20f.)

Drei Lösungen des Problems lehnt Krish ab: Den Völkermord erstens als unhistorisches Sagenmotiv zu relativieren, ihn zweitens als Missverständnis und Irrtum der Israeliten zu bezeichnen, und drittens die Annahme, dass Gott seine Meinung in dieser Frage später geändert haben könnte.

Stattdessen versteht er – er nennt das die „kanonische Perspektive“ die Texte offenbar als Tatsachenberichte, die ein göttliches Gericht beschreiben, zu dem es keine gewaltfreie Alternative mehr gab. Israel vollzieht dieses Gericht in Gottes Namen an den Kanaanäern, so wie die Propheten später sagen werden, dass Gott sich auch der Feinde Israels bedient, um sein abtrünniges Volk zu strafen. Dabei bedient sich Gott – in Ausnahmefällen, nicht grundsätzlich – menschlicher Akteure und der Methoden damaliger Kriegsführung.

Die „Moral“ dieser Geschichten ist dennoch die, dass Gott Krieg und Gewalt ablehnt, dass er deren Urheber zur Rechenschaft ziehen wird und dass sich kriegs- und Konfliktparteien nicht auf göttliche Legitimation herausreden dürfen.

Mit der Schlussfolgerung bin ich völlig einverstanden, aber die Herleitung überzeugt mich ganz und gar nicht. Der Versuch, alle historische und theologische Kritik an den entsprechenden Textpassagen zu umgehen (wie authentisch und zuverlässig sind die Berichte einzuschätzen, wie ist das Gottesbild zu bewerten, das ihnen zugrunde liegt?), führt dazu, dass gravierende Ambivalenzen ins Gottesbild verlagert werden. Die Bibel ist aus dem Schneider, aber Gott rückt ins Zwielicht.

Denn wenn Gott früher einmal einen Völkermord in Auftrag gegeben hat, warum nicht heute wieder? Wenn sich nicht grundsätzlich und kategorisch bestreiten lässt, dass Gott Gewalt verabscheut und verbietet, dann kann jeder, der solche Gräuel begeht, theoretisch im Recht sein. Die Kirchengeschichte ist voller Beispiele: Luther meinte 1525, die Fürsten vollstreckten das Gericht Gottes an den Bauern. Die Conquistadores bestraften die Azteken für deren Menschenopfer und Unterdrückung der Nachbarvölker, Karl der Große war Gottes Antwort an die sturen Sachsen. Nun werden manche einwenden, ein Missbrauch dieser Vorstellung hebe den rechten Gebrauch nicht auf (so wie Übergriffe der Polizei das staatliche Gewaltmonopol nicht grundsätzlich widerlegen), aber für mein Empfinden läuft es genau umgekehrt: Wer diese Tür offen lässt, darf sich nicht wundern, wenn plötzlich alle möglichen Gestalten durchgehen.

Im Unterschied zum Josuabuch haben die Aussagen der Propheten über Gottes Gericht eine völlig andere Struktur: Gott bedient sich der Großmächte ohne deren Wissen und ohne ihnen einen expliziten Auftrag erteilt zu haben. Und die exzessive Grausamkeit wird zugleich beklagt und kritisiert. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Gerichtsworten Jesu gegen Jerusalem, in denen sich die Katastrophe des Jahres 70 schon abzeichnet. Blutvergießen erhält hier keinen heiligen, religiösen Anstrich. Es erscheint lediglich als die absehbare Folge der Verstrickung in rabiate Machtpolitik und Gewaltanwendung, gegen die die Propheten Sturm laufen.

Wenn wir uns also in dieser Frage der Denkfigur des Paradoxons bedienen wollen (Krish Kandiahs aktuelles Buch heißt „Paradoxology“), dann in dem Sinn, dass Gott einstweilen Kriege und Verbrechen zulässt, ohne sie zu billigen, und uns lediglich die Verheißung bleibt, dass er kommt, um den Schaden zu heilen); aber nicht in dem Sinn, dass Gott situativ einmal brutal für Ordnung und Gerechtigkeit sorgt und dann wieder nicht.

Die naheliegendste Lösungsmöglichkeit kommt in diesem Artikel nämlich gar nicht vor: Nicht Gott hat sich verändert, wohl aber das Gottesbild Israels: Im Buch Jona finden wir einen Gott, der so vorhersagbar barmherzig ist mit Mensch und Tier, dass Jona (der offenbar noch mit dem kriegerischen Gott des Josuabuches liebäugelt) seinen Auftrag verweigert. Wenn man Gott nicht als bipolare Persönlichkeit missverstehen möchte, dann bleibt nur der Schluss, dass sich die Gottesvorstellungen verändert haben.

Denkt man von der Offenbarung Gottes im Kreuz Christi her, dann lässt sich dieser gewaltsame Aspekt der Eroberungskriege im Zuge der Landnahme (die, wie viele Historiker unter Verweis auf Richter 1 glauben, ohnehin eher ein allmähliches Einsickern als ein kohärenter Feldzug war) nicht mehr additiv integrieren als ein Charakterzug neben anderen, sondern nur noch radikal und konsequent korrigieren und kritisieren: Ein Massaker auf Gottes Geheiß wie das von Jericho ist nach christlichen Maßstäben ein schweres Kriegsverbrechen – und nichts anderes.

Wo dieser klärende Schritt ausbleibt, da wächst die Wahrscheinlichkeit (wieder), dass Christen Gewalt als Mittel der Konfliktlösung akzeptieren und zugleich blind werden für die prophetische Fundamentalkritik der Bibel an menschenverachtender Machtausübung und massiver Gewaltanwendung durch das Herrschaftssystem, wie Walter Wink diesen gemeinsamen Zug menschlicher Machtgebilde nannte.. Wenn die „kanonische Methode“ diese Kritik nicht hergibt und die innerbiblischen Entwicklungs- und Diskussionsprozesse verschleiert, dann ist sie, fürchte ich, einfach ungenügend.

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Radikale Denkarbeit

In der Einleitung zu Ingolf U. Dahlferts Radikale Theologie findet sich dieser prägnant und ansprechend formulierte Absatz über einseitige Radikalismen:

Theologie ist Denkarbeit, und radikal denkt nicht, wer meint, dabei »RADIKAL« groß und »denken« klein schreiben zu müssen. Radikal sind Theologinnen und Theologen aber auch nicht, wenn sie ihre ganze Energie darauf richten, das Logos-Element in Theologie zu maximieren, indem sie das Theos-Moment minimieren. […] Man ist nicht dann ein besonders radikaler Theologe, wenn man alle Anstrengungen darauf richtet, zu zeigen, dass es nicht nötig, möglich, sinnvoll oder angebracht sei, von Gott zu reden, sondern dass stattdessen die Menschen, ihre Erfahrungen, Nöte, Probleme, religiösen Orientierungen, antireligiösen Vorbehalte oder areligiösen Lebensbereiche ins Zentrum theologischen Denkens und kirchliche Handelns gestellt werden müssten. Die Alternative ist eine Karikatur. Was hier gegeneinander gestellt wird, schließt sich nicht theologisch aus, sondern fordert sich gegenseitig.

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Weisheit der Woche: Zeitlose Zeitlichkeit

Es ist kein Zufall, dass das Neue Testament zu einem wesentlichen Teil aus Briefen besteht. Diese Briefe führen vor Augen, was es heißt, ganz und bejahend in der Welt zu leben, ohne in ihr letztlich beheimatet zu sein. Sin sind die zentrale literarische Form für das christliche Selbstverständnis zwischen diesseitiger Zeitgenossenschaft und dem Wissen, nicht dieser Zeit und dieser Welt anzugehören. Der Brief im biblischen Kanon bringt das zur Abbildung: zeitlose Zeitlichkeit eines Dokuments.

Christian Lehnert, Korinthische Brocken, S. 13.

 

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Die Macht der Bilder

Die Frage nach der mächtigen, aber oft unbewussten Wirkung verschiedener Metaphern hat mich schon verschiedentlich beschäftigt, zum Beispiel in der Diskussion um die Sühnetheologie und alternative Deutungen des Todes Jesu, oder zur gottesdienstlichen Sprache und dem Liedgut.

Walter Wink hat die Sühne in Verwandlung der Mächte für mein Empfinden etwas zu grob behandelt, aber an anderer Stelle dieses wichtigen Buches eine treffende Beobachtung zur Metaphorik der Evangelien gemacht:

Gleichnis für Gleichnis spricht Jesus von der „Königsherrschaft Gottes“. Er verwendet dabei Bilder aus der Landwirtschaft und der Arbeit der Frauen, nicht aus dem krieg und nicht aus königlichen Palästen. Diese Herrschaft wird nicht beschrieben, als würde sie vom Himmels auf die erde herabkommen; still und unbemerkt steigt sie aus dem Land empor. Sie wird nicht durch Armeen und militärische Macht etabliert, sondern durch einen unaufhaltsamen Wachstumsprozess von unten, aus dem einfachen Volk.

 

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Pflichtlektüre

Der Pustet-Verlag in Regensburg hat Walter Winks († 2012) kleines Buch The Powers That Be auf Deutsch herausgebracht unter dem Titel Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit.

Es ist eines der wenigen Bücher, von denen ich sagen würde, die sollten zumindest jede Theologin und jeder Theologe gelesen und verarbeitet haben. In der Einleitung bringt es Wink schön auf den Punkt, worum es geht: Viele der Schwierigkeiten und Fehlschläge, die wir uns selbst oder anderen anlasten, sind nicht einfach nur auf individuelles Versagen zurückzuführen, sondern auf die innere Dynamik der Institutionen, die unser Leben regeln. Es geht auch nicht nur technisch um bessere und gerechtere Strukturen, sondern darum, dass da eine spirituelle Dimension enthalten ist, die es zu erkennen und zu berücksichtigen gilt, wenn man echte Veränderung anstrebt:

Im Zentrum handfester Institutionen der Gesellschaft entdecken wir etwas Geistiges. IBM und General Motors haben jeweils eine eigene Spiritualität, genauso die Liga für die Ausbreitung des Atheismus. […] Auch die Vordenker der neuen Physik sind, nachdem sie durch den Materialismus hindurch gestoßen sind, in einer Welt der Geist-Materie angekommen. So können auch wir das ganze gesellschaftliche Unternehmen der menschlichen Spezies unter den beiden Aspekten von Geist und Materie sehen. Wir stehen auf der Schwelle der Wiederentdeckung der Seele im Innersten eines jeglichen Geschöpfes. Es gibt nichts, von der DNA bis hin zu den Vereinten Nationen, das nicht Gott in seinem Innersten hat. Alles hat einen spirituellen Aspekt. Alles ist Gott gegenüber verantwortlich.

Vom Weltbild her liegt das nahe an dem, was etwa Patrick Spät in Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein darlegt, aber Wink fragt nun weiter, wie diese Einsicht nun fruchtbar gemacht werden kann im Ringen um eine gerechte und menschliche Gesellschaft, in kirchlichen und politischen – also institutionellen – Veränderungsprozessen und was das für die Spiritualität bedeutet, die wir leben und anderen vermitteln wollen.

Fragt man sich etwa aktuell, warum das TTIP-Abkommen zustande kommen könnte, dessen Geist den Sieg des internationalen Kapitals über die nationalen Demokratien bedeuten würde, so dass selbst die Zeit nur noch den Begriff „satanisch“ dafür findet, dann lässt sich das Geschehen und seine potenzielle Wirkung in den Kategorien von „Mächten und Gewalten“ und deren Hang zum Götzendienst offenbar besser fassen als in der Sprache der Ökonomen und Juristen.

Jetzt, wo die Textgrundlage für alle verfügbar ist, wäre eigentlich eine theologische Konferenz oder ein Symposium über Wink und seine Anstöße fällig. Vielleicht kommt da ja noch etwas von den Herausgebern…?

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