Allianzgebetswoche 2016: Jesus, zwei Brüder und die Spaltung

„Ein Mensch hatte zwei Söhne“. So kurz und unspektakulär fiel der Predigttext zum Auftakt der Allianz-Gebetswoche dieses Jahr aus. Und lenkte damit meinen Blick auf ein paar Zusammenhänge, die das fast schon abgedroschene Gleichnis von verlorenen Sohn in einem neuen Licht erscheinen lassen.

Jesus erzählt hier nämlich keine neue Geschichte, und auch keine erfundene Geschichte, sondern er erzählt alte Geschichten neu. Es gibt ja schon eine biblische Geschichte von zwei Brüdern, von denen der jüngere in die Fremde zieht und dort ausgebeutet wird, bis er irgendwann reumütig zurückkehrt und überraschend freundlich aufgenommen wird. Es ist die Geschichte von Jakob, dem Stammvater Israels, und seinem Bruder Esau.

Aber damit nicht genug. Dass hier nicht „ein Vater“ sondern „ein Mensch“ steht, kann man als Hinweis auf die biblische Urgeschichte lesen. Adam – der Mensch – hat zwei Söhne: Kain und Abel. Der Ältere denkt, dass ihm der Jüngere vorgezogen wird, aus gekränktem Stolz wird Zorn, Hass und Gewalt, der Bruder wird zum Feind, und schließlich wird Kain verstoßen und zieht in die Fremde.

Jesus spricht in diesem Gleichnis von Israel. Israel ist Gottes Sohn, aber er benimmt sich nicht wie ein Sohn und verlässt seinen Vater. In Jeremia 2,13f heißt es: “Denn mein Volk hat doppeltes Unrecht verübt: Mich hat es verlassen, den Quell des lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten. Ist Israel denn ein Knecht oder ein im Haus geborener Sklave?“ Und etwas später sagt der Prophet: „Wie ihr mich verlassen und fremden Göttern in eurem Land gedient habt, so müsst ihr Fremden dienen in einem Land, das euch nicht gehört.“ Niemand anders als Israel ist der Sohn, der den Vater verlässt, und deshalb in der Fremde und in der Knechtschaft landet.

Die Erwartung zur Zeit Jesu war, dass die verheißene Erlösung aus der Knechtschaft und die Rückkehr aus der Fremde wenn überhaupt, dann bestenfalls unvollständig eingetreten war. Wenn Jesus vom Kommen des Reiches Gottes spricht, dann spricht er diese Erwartung an. Und sein Ruf „kehrt um“ kann im Hebräischen auch „kehrt zurück“ heißen. Wenn sein Reich anbricht, dann sammelt Gott sein Volk und stellt es wieder her.

Jesus beschreibt in diesem Gleichnis, wie sich unter dem Eindruck seiner Verkündigung eine Spaltung vollzieht: Die einen gehen dankbar und freudig überrascht auf seine Einladung ein (wohl wissend, dass sie nichts vorzuweisen haben), die anderen sehen ihre privilegierte Stellung in Gefahr, weil Jesus in ihren Augen die falschen Leute einlädt und die Einladung an falsche oder unzureichende Bedingungen knüpft. Jesus ist also der nachgiebige Vater, der seinem zerlumpten Sohn entgegenrennt und auf jede autoritäre Pose und jedes tadelnde Wort pfeift.

Der Vater hat sich entschieden, das Fest ist schon im Gang. Am Ende der Geschichte steht eine offene Frage an den älteren Sohn: Kommt er doch noch zum Fest oder bleibt er draußen, weil ihm die Gästeliste nicht passt?

Das Schöne an Gleichnissen ist, dass man durch sie den eigenen Lebenskontext betrachten kann. Wir Deutsche befinden uns in einer Situation, in der statt des Vaters „Mutti“ sich bittere Klagen anhören muss, weil sie zu viele und viel zu fremde Menschen an unseren reich gedeckten Tisch eingeladen hat. Auch da hat sich im vergangenen Jahr eine tiefe Spaltung offenbart.

Spaltung ist auch das Stichwort im Blick auf die Evangelische Allianz selber. Symbolisiert wird das durch zwei „Brüder“: Michael Diener, der in einem Interview mit der „Welt“ sagte, er achte und betrachte auch diejenigen als Brüder und Schwestern, die seine (konservative) Position im Hinblick auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht teilen. Und (tatsächlich der Ältere…) Ulrich Parzany, der sich nur denen verbunden fühlt und über den Weg traut, die sich von denselben Leuten distanzieren und fern halten wie er selbst.

Aktueller könnte die Textbasis dieser Gebetswoche doch gar nicht sein!

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„Fehl am Platz“ – eine Weihnachtspredigt

Sie brachte ihr erstes Kind, einen Sohn, zur Welt, wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Futterkrippe; denn sie hatten keinen Platz in der Unterkunft bekommen. (Lukas 2,7)

Das Jahr 2015 brachte Licht und Schatten in einer Deutlichkeit wie schon lange nicht mehr: Paris wird von einem verheerenden Terroranschlag getroffen und nur ein paar Wochen später entscheiden sich die Regierungen der Welt, gemeinsam zu handeln, um das Klima für kommende Generationen in einem erträglichen Rahmen zu halten – in derselben Stadt. In Deutschland brennen so viele Flüchtlingsunterkünfte wie nie zuvor und Helfer werden bedroht, aber der Münchener Hauptbahnhof wurde zum Symbol spontaner Hilfsbereitschaft, die sich die Deutschen selbst nicht zugetraut hatten. Östlich von uns höhlen autoritäre Machthaber wie Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan demokratische Strukturen aus – und weit im Westen will mit Donald Trump ein alter, weißer Mann Präsident werden, der unter dem Jubel seiner Anhänger gegen ethnische und religiöse Minderheiten gehässige Dinge sagt.

Wie passt unsere Weihnachtsgeschichte in diese Welt? Es ist eine vielerorts brutalisierte Welt, in der sich aus einer verunsicherten Masse jederzeit ein rastloser Mob bilden kann, und in der die „Sicherheitskräfte“ rücksichtslos zuschlagen oder alle und jeden ausspähen. Eine Welt, in der Millionen Menschen umherirren auf der Suche nach einer sicheren Heimat und einem menschenwürdigen Leben. Eine Welt, in deren medialem Dauerrauschen eine dramatische Nachricht die nächste jagt und jedes neue Ereignis das größte zu sein vorgibt, nur um vom nächsten Aufreger überlagert zu werden. In diesem Sinne bleibt alles beim Alten: Diese Welt scheint dem Ende immer wieder gefährlich nahe. Und in der Enge und dem Lärm scheint kein Platz zu sein für kleine Hoffnungen.

Der Mönch und Schriftsteller Thomas Merton (1915-1968), der als Einsiedler in der Abtei von Gethsemani im US-Bundesstaat Kentucky lebte, hat vor 50 Jahren auf dem Höhepunkt des kalten Krieges Worte gefunden, die unser Lebensgefühl heute erstaunlich gut treffen:

Wir leben in der Zeit, in der es keinen Raum gibt, der Zeit des Endes. Die Zeit, in der jeder besessen ist von Zeitmangel, Platzmangel, davon Zeit zu sparen und Raum zu erobern, in Raum und Zeit hinein die Angst zu projizieren, die das technologische Wüten von Größe, Menge, Geschwindigkeit, Stückzahl, Preis, Macht und Beschleunigung in ihm hervorruft.

Der Ursegen „Seid fruchtbar und mehret euch“ ist plötzlich in das Bluten des Terrors umgeschlagen. Man zählt uns nach Milliarden, wir werden zu Massen verdichtet, herumkommandiert, nummeriert, … besteuert, gedrillt und bewaffnet, bis zum Empfindungslosigkeit beansprucht, von Informationen geblendet, mit Unterhaltung benebelt, bis uns übel wird von der Menschheit und uns selbst, übel vom Leben.

Aber das Ende im biblischen Sinne ist nicht der große Abgrund der Selbstzerstörung: Das Dunkle und die Angst, die es heraufbeschwört, werden nicht verleugnet, aber ihnen wird im Evangelium die Freude und das Helle entgegengesetzt. Das findet seinen Platz freilich nicht im Gedränge der durch die Volkszählung überfüllten Stadt, sondern unter freiem Himmel. Da gehört es hin.

Die Hirten von Bethlehem sind der Rest des „wahren Israel“. In ihnen lebt noch etwas von den Nomaden und Wüstenbewohnern der Frühzeit, das an die großen Gestalten erinnert: Mose war Hirte, bevor Gott ihn nach Ägypten sandte. David war Hirte (in Bethlehem!), bis er Goliath besiegte und König wurde. Und so beginnt auch hier das Neue in der Stille und Leere der Nacht auf dem Feld. Die Herrlichkeit Gottes (Juden sprechen von der Schechina), die den Weg aus Ägypten gewiesen hatte und später im Tempel ihre Heimat fand, erscheint wieder unter freiem Himmel. Gott hat sein Haus verlassen und taucht bei seinen Leuten auf. Er bricht aus – aus der festgelegten religiösen und politischen Welt, in der kein Spielraum für Neues ist.

In unserer Welt fehlt für viele Dinge der Platz: Die Natur steht an der Schwelle zu einem Artensterben, wie es die Welt in Milliarden von Jahren nur selten gesehen hat – eine Folge ihrer rücksichtslosen Ausbeutung durch den Menschen. Immer produktiv sein zu müssen und nicht abschalten zu können führt dazu, dass uns die Ruhe und Stille verloren geht, in der wir nachdenken und zu uns selbst finden können. Und so erliegen wir dem Druck, uns selbst immer weiter zu optimieren, um nicht den Anschluss zu verlieren, um konkurrenzfähig zu bleiben, um nicht in den Augen der anderen irgendwann selbst fehl am Platz zu sein: nutzlos, abgeschrieben, eine ungeliebte Last. Wir versuchen jeder Art von Schmerz auszuweichen, verleugnen unsere Verletzlichkeit, und mit ihr unsere Sterblichkeit. Unsere Unfähigkeit, richtig zu trauern, macht uns paranoid. Und die vielen Dinge, die wir uns leisten, erfüllen uns nicht tief oder dauerhaft, sondern sie verdecken nur die Leere, die daher rührt, dass für etwas Wesentliches kein Platz ist. Noch einmal Thomas Merton:

In diese Welt, in diese wahnwitzige Herberge, in der für ihn absolut kein Platz mehr ist, kam Christus ungebeten.

Aber weil er in ihr nicht zuhause sein kann, weil er fehl am Platz ist in ihr und doch in ihr sein muss, ist sein Platz bei denen, für die kein Platz ist.

Sein Platz ist bei denen, die hier nicht hingehören, die von der Macht Abgelehnten, die man für schwach hielt, die in Verruf Gebrachten, denen man das Personsein nicht zugesteht, die Gefolterten und Vernichteten.

Bei denen, für die es keinen Raum gibt, ist Christus in dieser Welt gegenwärtig.

Denen, die fehl am Platz scheinen, verkünden die Engel große Freude. Nicht das Ende vom Ende der alten Welt ist im Blick, sondern die Saat einer neuen Welt. Diese neue Welt funktioniert nicht mehr nach den Bedingungen der alten: Mehr vom Selben, Auge um Auge, Survival of the Fittest, die Mechanismen des Marktes. Sie gehört all jenen, die ihre kleinen Hoffnungen auf etwas Glück und ein Leben in Würde nicht begraben oder verkauft haben. Insofern wir zu diesem Menschen gehören, die fehl am Platz sind, gilt sie uns. Und wenn wir sie suchen, dann finden wir sie bei denen, die aussortiert und abgeschoben werden sollen.

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Im April 2015 war ich in Bethlehem. Die Enge und der Druck, von denen Merton schreibt, sind dort mit Händen zu greifen, wenn man die Checkpoints der israelischen Soldaten passiert und vor einer Mauer und Wachtürmen steht, die doppelt so hoch sind wie die Berliner Mauer. Sie trennt Familien von ihren Verwandten und Bauern von ihren Feldern. Diese Woche habe ich den Brief eines neunjährigen Mädchens aus Bethlehem gelesen. Sie heißt Marianne, ist palästinensische Christin und lebt in Beit Sahour. Jeden Morgen betet die ganze Familie das Vaterunser oder singt „Christus ist auferstanden“, dann macht Marianne sich auf den Weg in die Schule, der sie am Feld der Hirten vorbei führt. Sie muss gar nicht bis zur Geburtskirche gehen, um an das „Fürchtet Euch nicht“ erinnert zu werden, das der Engel den Hirten zurief.

Immer wieder eskaliert die Gewalt im besetzen Gebieten Westjordanland. Marianne hat daher viele Gründe, sich vor den Panzern und Soldaten zu fürchten. Es ist gefährlich, draußen zu spielen. Die Lage ist sicher nicht so schlimm wie in Syrien, doch viele Verwandte und Bekannte sind schon frustriert ausgewandert. Marianne möchte bleiben, und ihr Glaube gibt ihr die Hoffnung, dass so etwas wie ein normales Leben möglich sein kann. Am Ende des Briefes lädt sie uns ein, sie zu besuchen, und zu sehen, dass auch die Palästinenser in Bethlehem Menschen sind wie Du und ich. „Wir sind die Hirten“, sagt sie.

An Weihnachten lädt uns Gott zu zwei Dingen ein: Als behütete Gotteskinder damit aufzuhören, uns ständig von der Sorge um unseren Platz umtreiben zu lassen. Und uns, als Hüter unseres Bruders, furchtlos und verletzlich wie er auf die Seite all derer zu stellen, für die das Europa des 21. Jahrhunderts keinen Platz und keine Verwendung hat. Oder, wie Thomas Merton schrieb: „Sei menschlich in dieser so unmenschlichen Zeit. Wahre das Bild des Menschen, denn es ist das Bild Gottes.“ Darin erwartet uns die große Freude: Wir finden wieder Geschmack – an der Menschheit und uns selbst, am Leben.

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König oder Rebell – die Macht der Metaphern

Vor ein paar Wochen hatten wir Martin Pepper hier zu Gast. Er hatte eine Menge guter Beobachtungen und Anregungen rund um das Stichwort „Anbetung“ im Gepäck. Immer wieder war auch davon die Rede, wie wir uns selbst im Weg stehen können, wenn wir die Bilder und Metaphern nicht passend wählen. Das betrifft sowohl unser Reden von Gott als auch die Vorstellung davon, was wir in einem Gottesdienst denn tun (oder tun sollten).

Wir kommen ja nicht umhin, bildhafte Sprache zu verwenden, nur machen wir uns selten bewusst, welche Metaphern im Hintergrund des jeweiligen Diskurses stehen, und wie sie das Resultat beeinflussen. Schon vor längerer Zeit habe ich das folgende Zitat von Iain McGlichrist einmal gepostet:

Die gewählte Metapher ist sowohl Ursache als auch Wirkung der Beziehung. Daher offenbart sich, wie wir über uns selbst und unser Verhältnis zur Welt denken, schon in den Metaphern, die wir unbewusst wählen, um darüber zu sprechen. Diese Entscheidung verfestigt unsere Teilansicht des Themas weiter. Paradoxerweise scheinen wir genötigt, etwas – einschließlich unserer Selbst – gut genug zu verstehen, um das angemessene Modell zu wählen, bevor wir es verstehen können. Unser erster Sprung bestimmt, wo wir landen.

In einem von mehreren Gesprächen seit dem Seminar kamen wir darauf, dass Martin bei der Königs- und Thronsaal-Metapher zu besonderer Behutsamkeit riet. Monarchie und Feudalismus sind seit fast einem Jahrhundert abgeschafft, und autoritäre Willkür ist gerade kein prominenter Zug eines gesunden Gottesbildes. Nicht von ungefähr ist die Königs-Metapher diejenige Vorstellung, die auch in den heidnischen Religionen im Vordergrund stand, wo der Götterhimmel als Monarchie und der irdische König als gottgleich gedacht wurde. Und Jesus hat mit seiner Verkündigung der Gottesherrschaft vor allem an die königs- und machtkritischen Traditionslinien der hebräischen Bibel angeknüpft, während er außer dem kryptischen „Menschensohn“ die angebotenen Hoheitstitel eher ablehnte.

Kürzlich habe ich mit einer Konfi-Gruppe verschiedene Jesusbilder angesehen. Die stärkste positive Reaktion kam zu einem revolutionären Jesus, die befremdlichste Darstellung war ein kitschig-prunkvoller Jesus, der wie ein Kaiser (oder wie ein russischer Zar) gekleidet war. Mit dem konnten sie am wenigsten anfangen. Sie sagten: Irgendwie (!) ist Jesus ja ein König, aber doch nicht so einer. Und sie haben völlig Recht: Wenn überhaupt, dann ist Jesus doch der absolute Anti-König. Nimmt man den Hebräerbrief aus, dann kommt der Königstitel in der neutestamentlichen Briefliteratur extrem selten vor. Folglich ist es auch nicht die beste Idee, Bilder aus dem höfischen Leben eine zentrale Rolle in Gebeten, Liedern und Verkündigung einzuräumen. Für den Seher Johannes in der Verbannung und für die bedrängten Gemeinden, an die seine Offenbarung adressiert ist, war es ein revolutionärer Akt, einen Jesus zu verehren, der dem Kaiser in Rom und seinen Handlangern überlegen war. Heute aber klingt diese Sprache eher nach Märchen mit Faunen und sprechenden Bibern als nach der Alltagswelt. Wir brauchen andere Gegenbilder gegen die Unterdrückung und das Leid auf diesem Planeten.

Die Königsmetapher hat aber noch einen weiteren, gravierenden Pferdefuß, und der betrifft unser Verständnis von Leitung: Egal wie freundlich wir unser Reden vom König ausschmücken, ein gewisses hierarchisches Element bleibt immer erhalten. Wenn wir Gottesdienst primär als „Majestätsverehrung“ begreifen, dann machen wir es uns selbst schwer, Verständnis aufzubringen für die, denen unsere Formen unzugänglich sind, die sich in unserer Sprache nicht so zuhause fühlen, deren Erfahrungen in den letzten Tagen nicht so triumphal ausgefallen sind oder was auch immer sonst jemanden dazu bringen kann, sich eher verhalten zu beteiligen – weil es in der vorgegebenen Logik unserer Metapher quasi Majestätsbeleidigung ist, wenn man dem legitimen Herrscher das im zustehende Lob vorenthält.

Zum Glück gibt es viele andere Bilder, biblische und (wer hat denn gesagt, dass es immer nur biblische sein müssen?) aktuelle wie den Rebellen-Jesus. Der trifft die Person, von der die Evangelien erzählen, nämlich gar nicht so schlecht.

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Warum wirklich „geistlich“ sein immer mit dem Leib beginnt – und was das mit Aktivismus zu tun hat

Aus Gründen, die wohl nur Google kennt, ist einer meiner populärsten Posts auf diesem Blog ein Text, der sich mit dem Begriff „Leib“ befasst. Ich kam damals auf dieses Thema durch Iain McGilchrist, der sich mit unserer Art beschäftigt, die Welt wahrzunehmen und uns zu ihr zu verhalten. Ein paar theologische Implikationen habe ich damals hier festgehalten – unter dem Stichwort „Herzensglaube“.

Von Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782) stammt der berühmte Satz, die „Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes“. Eine spirituelle Praxis, die das beherzigt, kann einen befreienden und beflügelnden Vorgeschmack auf die Wiederherstellung der Welt vermitteln, die im Evangelium verheißen ist. Anders gesagt: Sie kann eine Quelle der Hoffnung werden, und Hoffnung ist das Lebenselixier aller Aktivisten.

In den letzten Wochen habe ich mich daher wieder intensiver gefragt, was die Erfahrung der Leiblichkeit für menschliches Dasein bedeutet. Man kann Theologie und Spiritualität ohnehin nicht sauber trennen, aber im Bezug auf den Leib findet beides zusammen. Daraus sind ein paar Predigten geworden, die wir mitgeschnitten haben. Nichts zum Lesen also, sondern zum Hören – ein bisschen sinnlicher also, als es dieser Blog normalerweise hergibt.

Für In-up-and-out-Fans: Es kommt alles vor. Der Leib, der wir sind (nicht der Körper, den wir haben), ist der Schnittpunkt dieser Dimensionen. Hier nimmt alles seinen Anfang. Für alle, die gern das etwas spröde Wort „inkarnatorisch“ oder das mittlerweile überstrapazierte „ganzheitlich“ verwenden: Dito.

In der ersten Predigt geht es um unser Gottesverhältnis. Nach Römer 12,1 ist unser Leib der Angelpunkt für alle spirituelle Praxis, und er ist es deshalb, weil Gott seinerseits uns leiblich begegnet – in dem fleischgewordenen Wort, in der Sinnlichkeit der Sakramente. All das ist also Teil der missio dei.

In der zweiten Predigt geht es um unser Verhältnis zu den Mitmenschen. Die Begriffe Barmherzigkeit und Mit-Leid sind unglücklicherweise durch wiederholten Missbrauch belastet, aber sie eröffnen uns den Zugang zu einer anderen Ethik, die gerade im Blick auf die Flüchtlingsdiskussion hochaktuell ist. Passend dazu dieses Video:

In der dritten Predigt spricht Andreas Ebert über die Gemeinde als Leib und wirft einen systemischen Blick auf die Beziehungen unter Christen. Kluge Gedanken über das Menschsein, Heilung und Zugehörigkeit.

(Übermorgen geht es übrigens weiter. 10:00 im Theater der Franconian International School)

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Intime Enthüllungen

Die Verdrängung Gottes aus der Welt, aus der Öffentlichkeit der menschlichen Existenz, führte zu dem Versuch, ihn wenigstens in dem Bereich des »Persönlichen«, »Innerlichen«, »Privaten« noch festzuhalten. Und da jeder Mensch irgendwo noch eine Sphäre des Privaten hat, hielt man ihn an dieser Stelle für am leichtesten angreifbar. Die Kammerdienergeheimnisse – um es grob zu sagen – d.h. also der Bereich des Intimen (vom Gebet bis zur Sexualität) – werden das Jagdgebiet der modernen Seelsorger. Darin gleichen sie (wenn auch ihre Absicht eine ganz andere war) den übelsten Asphalt-Journalisten […], die die Intimitäten prominenter Leute ans Licht zogen; hier, um die Menschen gesellschaftlich, finanziell, politisch – dort, um sie religiös zu erpressen. Verzeih, aber ich kann es nicht billiger geben.

Dietrich Bonhoeffer

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Die Teilung der Teilung

Bei Richard Rohr habe ich vor längerer Zeit einmal gelesen „Contemplation refuses to create dichotomies“, Kontemplation weigert sich, Gegensätze aufzustellen. Daran wurde ich wieder erinnert, als ich neulich bei Ina Praetorius von der „Dichotomisierung“ der Menschheit las. Als auf dem Erlanger Poetenfest über Koran und Gewalt diskutiert wurde, ging es auch um den scharfen Kontrast zwischen Gläubigen und Ungläubigen, der in Teilen des Korans eine große Rolle spielt. Aber freilich – nein, leider! – kennen wir solche ausschließenden Denkstrukturen auch zur Genüge aus dem Christentum. Früher waren die Katholiken die apokalyptische Gefahr, heute sind es die Muslime, es spricht nichts dafür, dass die Argumente inzwischen besser geworden sind – im Gegenteil.

Die theologische Antwort darauf finden wir im Römerbrief, wie Giorgio Agamben in seiner nicht immer ganz einfach zu lesenden Auslegung Die Zeit, die bleibt zeigt. Sein drittes Kapitel beschäftigt sich mit der Frage von Universalismus und Partikularität, der „Aussonderung“ des Paulus als Apostel Christi. Paulus kommt als Pharisäer aus einer Tradition der Aussonderung, doch es ist nicht mehr der nomos, der diese Aussonderung bewirkt (der Zaun von Geboten, die die Pharisäer um die Torah herum errichtet hatten). Die messianische Torah hingegen führt „in eine Aussonderung der zweiten Potenz, eine Aussonderung der Aussonderung selbst, die die Teilungen des pharisäischen Gesetzes teilt und durchquert.“

Das Gesetz teilt die Welt in Juden und Heiden, aber für Paulus teilt es den Menschen auch innerlich in gute und böse Neigungen, und schließlich landet Paulus in Römer 7,23 beim „Gesetz des Hauches“. Auch dieses messianische Gesetz teilt, nämlich zwischen pneuma (Geist) und sarx (Fleisch). Es kommt nun zu einer Teilung der Teilung, bei der auf der Seite der Juden nun eine äußere Zugehörigkeit „nach dem Fleisch“ und eine unsichtbare „nach dem Geist“ (bzw. bei Agamben schön ausgedrückt „nach dem Hauch“) entsteht. Auf der Seite der Heiden ist durch den Geist des Messias dasselbe vorauszusetzen, so dass nun die Situation eintritt, dass der alte Gegensatz nicht mehr aufgeht. Es „bedeutet, dass die messianische Teilung in die große nomistische Teilung der Völker einen Rest einführt, dass als Juden und Nichtjuden konstitutiv »nicht alle« sind.“

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(Meine Grafik, dass ein Kreuz entstanden ist, habe ich erst im Nachhinein gesehen)

Es entsteht mit dem Rest ein Drittes, die „Nicht-Nichtjuden“, die im messianischen Gesetz leben und sich nicht mehr auf die alten Alternativen oder Dichotomien reduzieren lassen:

Sie stellen vielmehr die Unmöglichkeit für die Juden und die Gojim dar, mit sich selbst zusammenzufallen, sie sind eher so etwas wie ein Rest zwischen einem Volk und sich selbst, zwischen jeder Identität und sich selbst. … Für Paulus geht es nicht darum, die Differenzen zu „tolerieren“ oder sie zu überschreiten, um jenseits von ihnen das Selbe und Universale zu finden. Das Universale ist für ihn kein transzendentes Prinzip, von dem aus er über die Differenzen schauen könnte – er verfügt nicht über einen solchen Standpunkt –, sondern ein Verfahren, das die Teilungen des Gesetzes selbst teilt und unwirksam macht, ohne je einen letzten Grund zu finden.

Agamben folgert folgenreich: „Die messianische Berufung trennt jede klesis von sich selbst, sie erzeugt in ihr ein Spannung zu sich selbst, ohne ihr eine Identität zu geben: Jude als ob nicht Jude, Grieche als ob nicht Grieche.“ Er verfolgt dann das Motiv des Rests durch das Erste Testament und kommt zu dem Schluss:

Eine aufmerksame Lektüre der prophetischen Texte zeigt … deutlich, dass der Rest die Konsistenz oder Figur ist, die Israel in Bezug auf die Auserwählung oder das messianische Ereignis annimmt. Der Rest ist also weder das Ganze noch ein Teil von ihm, sondern bedeutet die Unmöglichkeit für das Ganze und für den Teil, mit sich selbst und untereinander identisch zu sein.

Wenn wir es heute wieder in großen Stil mit der Forderung zu tun bekommen, das Abendland müsse mit sich selbst identisch (und daher von aller Zuwanderung unbehelligt) bleiben, und wenn das Christentum als feststehende Identität und Kultur die Teilungen der Welt nicht mehr teilt, sondern eine neue kategorische Teilung zwischen Recht- und Ungläubigen herbeiführt, bei der die Rechtgläubigen ausschließlich durch das Kriterium der dogmatischen und ethischen Reinheit definiert sind, die nach ewigen und nicht wandel- und verhandelbaren Kriterien bemessen wird, dann hat er das Wesentliche im paulinischen Evangelium missverstanden. Er ersetzt lediglich eine Dichotomie durch eine andere.

Eine Neubesinnung auf die messianischen Wurzeln ist angesagt. Und sie beginnt mit dem kontemplativen Blick, der es wagt, seine Urteile, sein Bedürfnis nach trennscharfer „Klarheit“ und seine Ängste zurückzuhalten.

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Kreuz und Widerspruch

Das Kreuz ist das Zeichen des Widerspruchs – es zerstört die Ernsthaftigkeit des Gesetzes, des Imperiums, der Armeen, des Blutopfers und der Obsession.

Aber die Magier drehen das Kreuz so lange, bis es zu ihren Absichten passt. Ja, auch für sie ist es ein Zeichen des Widerspruchs: die schreckliche Blasphemie des religiösen Magiers, der das Kreuz dazu bringt, der Barmherzigkeit zu widersprechen! Das freilich ist die äußerste Versuchung des Christentums! Zu sagen, dass Christus alle Türen verschlossen hat, eine Antwort gegeben hat, alles geklärt hat und dann ging, alles Leben eingesperrt ließ in die fürchterliche Widerspruchslosigkeit eines Systems, außerhalb dessen es Ernsthaftigkeit und Verdammnis gibt, innerhalb dessen die unerträgliche Frivolität der Erretteten gibt – während nirgends mehr Raum bleibt für das Geheimnis der Freiheit der göttlichen Barmherzigkeit, die als einzige wahrhaft ernst ist, und es verdient, ernst genommen zu werden.

Thomas Merton, Raids on the Unspeakable, 32f.

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Endlich erhältlich: Öffentlich Glauben von Miroslav Volf

Im vergangenen Jahr habe ich Miroslav Volfs A Public Faith für den Francke-Verlag übersetzt und nun ist es endlich so weit, das Buch ist auf dem deutschen Markt. Ganz besonders freut mich, dass Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm das Vorwort für seinen Kollegen aus Yale geschrieben hat.

Die Frage, wie und in welcher Form Christen am gesellschaftliche Leben teilnehmen und teilnehmen sollten, hat schon immer die Gemüter erhitzt. Aktuell etwa positionieren sich die große Kirchen in der Flüchtlingskrise sehr eindeutig, was bei konservativen Parteien und deren kirchlichen Sympathisanten mit Missfallen zur Kenntnis genommen wird (da will man die Bibel auf einmal nicht mehr ganz so wörtlich nehmen). Aber es gab und gibt ja auch die säkularistische Forderung, Kirchen und Religion aus dem öffentlichen Raum möglichst vollständig herauszuhalten.

Miroslav Volf geht davon aus, dass praktisch gelebter Glaube auf „menschliches Gedeihen“ hin angelegt ist, also ein erfülltes Leben und ein friedliches Miteinander in der Gesellschaft. Die Frage nach dem ewigen Heil Er behandelt zwei Fehlfunktionen, nämlich den weltflüchtigen (und damit untätigen) Glauben und den übergriffigen Glauben.

Volf entwickelt diese doppelte Abgrenzung sehr sorgfältig und buchstabiert dann durch, wie Christen (aber auch Juden und Muslime) in einem säkularen Staat und einer pluralistischen Gesellschaft so leben, dass es dem Gemeinwohl nützt und sich jeder Tendenz zu religiösem Totalitarismus widersetzt. Ein wichtiges Thema, denn

die religiöse Vielfalt westlicher Länder spiegelt die zunehmende religiöse Vielfalt der Welt als ganzer wider. Was die einzelnen Länder angeht ist religiöse Vielfalt freilich kein westliches Phänomen. In mancher Hinsicht ist der Westen sogar spät dran. Einige nichtwestliche Länder wie Indien zum Beispiel leben seit Jahrhunderten mit religiösem Pluralismus.12 Andere werden wahrscheinlich zunehmend pluralistisch, wobei verschiedene Religionen – allen voran Christentum und Islam – um Mitglieder wie um gesellschaftliche Macht und politischen Einfluss wetteifern. Global und national wird religiöse Vielfalt in den nächsten Jahren in wichtiges Thema bleiben. Die modernistische Sehnsucht nach einer säkularen Welt muss zwangsläufig zu Enttäuschungen führen, genauso wie die Nostalgie eines „christlichen Europa“ oder eines „christlichen Amerika“ genau das bleiben muss: unerfüllte Nostalgie.

Nicht die schlechteste Wahl, wenn Ihr demnächst Eure Weihnachts-Wunschzettel zusammenstellt…

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Das Kreuz und die Feindschaft

Im Mai und Juni haben wir uns bei ELIA über vier Abende hinweg mit verschiedenen Aspekten christlicher Erlösungslehre beschäftigt. Es war der Versuch, einmal abseits der bekannten und nicht immer unproblematischen Metaphern von Sühne, Opfer oder Lösegeld darüber zu sprechen, was den Tod Jesu am Kreuz herbeigeführt hat und inwiefern sich daraus Rückschlüsse auf seine Bedeutung für die Menschheit im Allgemeinen bzw. seine Nachfolger im Besonderen ziehen lassen.

Die Schwäche der üblichen Sühnetheorien liegt ja darin, dass sie kaum einen Bezug zu Leben und Verkündigung des irdischen Jesus herstellen (außer seiner Sündlosigkeit, aber das ist ja schon eine negative Aussage in dem Sinn, dass sie nichts beschreibt, sondern nur etwas ausschließt) und kaum Folgerungen für ein Leben in der Imitatio Christi zulassen.

Im einzelnen haben wir vier Linien betrachtet, die ich in Ted Jennings’ lesenswertem Buch Transforming Atonement gefunden hatte. Da ging es um Jesu Widerstand gegen Unterdrückung, seine Zuwendung zu den „Sündern“, sein Überschreiten von ethnischen, religiösen und kultischen Grenzen und seine Identifikation mit den Leidenden. In jedem dieser vier Stränge lässt sich nachzeichnen, wie Jesus durch konkrete Dinge, die er sagte und tat, Widerspruch und Ablehnung erlebte, die in Gewalt umschlugen, und wie die ersten Christen sein Anliegen aufnehmen und weiterführten.

Inwiefern ist darin nun von Versöhnung die Rede? Nicht Gott muss irgendwie besänftigt werden, wie Paulus deutlich macht, sondern wir Menschen: „Da wir mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, als wir noch (Gottes) Feinde waren, werden wir erst recht, nachdem wir versöhnt sind, gerettet werden durch sein Leben.“ (Römer 5,10)

Jesu Leben, Verkündigung und sein Tod am Kreuz machen deutlich, dass Gott

  • nicht auf der Seite der Unterdrücker und Eliten steht (obwohl diese ihre Macht religiös legitimieren wollen), sondern sich mit den Unterdrückten solidarisiert;
  • nicht zu denen gehört, die andere selbstgerecht verurteilen, ausschließen und beschämen, sondern gerade auch auf die Verachteten zugeht;
  • Krankheit und Schmerzen aller Art weder ungerührt zulässt noch als Strafe oder Erziehungsmaßnahme einsetzt;
  • Trennungen zwischen Menschen aufgrund von Herkunft, Geschlechts- oder Religionszugehörigkeit nicht fordert oder verschärft, sondern überwinden und die Welt befrieden möchte.

Versöhnung entsteht daraus, weil Menschen ihre verständlichen und berechtigten Vorbehalte und Klagen gegen den vermeintlichen Gott der Mächtigen und Gewalttätigen, der Selbstgerechten und Kleinkarierten, der Spalter und Scharfmacher wie auch der schmerzfrei Unversehrten aufgeben können. Zudem steht nun den vermeintlichen Gewinnern und Nutznießern dieser Mechanismen die Möglichkeit offen, ihre Feindschaft gegen den barmherzigen Gott aufzugeben – und damit auch die Möglichkeit einer Versöhnung zwischen den verschiedenen Seiten aller Arten von Konflikten und Auseinandersetzungen.

Und für die vielen „Normalos“, die in der Regel beides zugleich sind (hier eher Opfer, da eher Täter oder Mitläufer) ist der Vorstoß Gottes in die Abgründe dieser Welt und des Menschseins die Chance, sich ihren Verwicklungen vorbehaltlos zu stellen. Ohne diese Ehrlichkeit wird auch die Suche nach Lösungen für alle möglichen Probleme wenig Fortschritt bringen. Mit ihr hat die Verwandlung und Erlösung der Welt schon begonnen.

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Hunger nach Wundern oder Wunder nach Hunger?

Die Geschichte von der Speisung der Fünftausend stellt heutige Ausleger vor große Probleme, scheint mir (keine Ahnung, ob die Ausleger selbst das auch merken). Vieles, was dazu gesagt wird, bewegt sich auf den folgenden zwei Ebenen:

Die eher fromme Predigt wird das Wunder betonen, und daraus resultierend die göttliche Allmacht, in der Jesus hier „übernatürlich“ handelt und Unmögliches tut. Sie wird zum Staunen angesichts dieser Allmacht aufrufen und als Anwendung … ok, da wird es dünn: Entweder heißt es dann recht unspezifisch (und damit immer „richtig“, aber seltsam irrelevant, weil die Art dieses Wunders dafür gar keine Rolle spielt): Vertrau, dass Jesus auch in deinem Leben Wunder tut. Oder der Hunger wird spiritualisiert und dann macht Jesus uns eben alle irgendwie innerlich satt und zufrieden mit unserem Leben, und natürlich geschieht das durch sein Wort (der Mensch lebt ja schließlich nicht vom Brot allein…), oder sie wird das wahre Bedürfnis einer jeden Menschenseele darin sehen, Vergebung zu empfangen, die angesichts Gottes unbestechlicher Gerechtigkeit aber eigentlich noch unmöglicher ist und daher ein noch größeres Wunder, das nur Jesus allein tun kann.

Die eher liberale Alternative wird das Wundersame in den Hintergrund rücken (oder gleich komplett bestreiten) und dann vom Teilen reden, sie wird sagen, dass es auf der Erde genug gibt jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier, es ist dann von Solidarität die Rede und wie Jesus ein Zeichen setzt, vom Teilen und davon, dass jeder irgendwie bedürftig ist, oder auch von der Verantwortung, die Jesus seinen Jüngern für ihre Mitmenschen auferlegt, obwohl die sich doch ganz ohnmächtig fühlen. Es ist eben oft „mehr möglich“, als man denkt.

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Tabgha am See Genezareth – hier hat der Tradition nach die Speisung stattgefunden

Aus beiden Richtungen kann man dann über die Stichwortassoziation „Brot“ die Kurve zum Abendmahl kratzen und damit ein bisschen verschleiern, dass man aus dem Text nur das herausgelesen hat, was eh schon jeder wusste: Vergebung und „spiritueller Hunger“, Solidarität und Teilen, irgendwie ist das wichtig und richtig und hat mit Jesus zu tun.

Weitgehend ausgeblendet wird in beiden Fällen der Kontext von Armut und Hunger, der eben nicht der unsere ist. Die Leute hatten ja nicht einfach ihr Picknick vergessen oder die Ladenschlusszeiten ignoriert. Dabei lehrt Jesus ja auch im Vaterunser, um das tägliche Brot zu beten und den Erlass der Schulden, was schon ein klarer Hinweis darauf ist, dass er es mit verarmten und verschuldeten Menschen zu tun hatte, die sich aus gutem Grund um ihren Lebensunterhalt sorgten (und nicht fürchten mussten, beim üppigen Konsum nicht mithalten zu können). Die Knappheit hatte mit der Steuerlast durch Kaiser, Militärgouverneure und die üppigen Ansprüche der Tempelpriesterschaft zu tun. Eine Missernte führte zum Verlust des Saatguts, zu Schulden, in die Verpfändung von Grund und Arbeitskraft, in Armut und Unterernährung, selbst in einem eigentlich so fruchtbaren Gebiet wie in Galiläa. Daher steht am Anfang auch die implizite Kritik an der selbstsüchtigen Aristokratie: Die Menschen sind „wie Schafe ohne Hirten“ (Markus 6,34 vgl. Ezechiel 34).

Ebenso unsichtbar bleibt meistens die anti-imperiale Zuspitzung der Speisung. Ein Kapitel zuvor „versenkt“ Jesus in der Dekapolis eine „Legion“ Dämonen via Schweineherde im See. Eine Legion hatte etwas über 5.000 Soldaten. Jesus speist also nun am galiläischen Ufer eine Legion Menschen, und dazu teilt er sie in Gruppen zu Hundert – da kann man an Zenturien denken, oder an die Abteilungen von 50 und 100 aus Israels Richter- und Königszeit. Nur ist diese Armee der Hungernden unbewaffnet und bekommt von Jesus das, was sie normalerweise an die Besatzer abtreten müssen: Nahrung. Und zwar mehr als genug. Das Ereignis wird als Machttat bezeichnet, weil es tatsächlich die Machtfrage berührt. Jesus stellt, und sei es auch nur für den Moment, eine Anti-Legion der Hungernden auf. Und nachdem diese Legion abgezogen ist, ist mehr Essen übrig, als am Anfang da war (vgl. 2.Könige 4).

Die Frage, die sich für jede Auslegung und Aktualisierung daraus ergibt, ist für mich die: Verliert diese Erzählung nicht jeden Sinn, wenn sie aus diesem Kontext von Armut und Unterdrückung herausgelöst wird, und wenn sie von Menschen erzählt und aktualisiert wird, die dafür kein Verständnis haben, weil sie im Überfluss leben? Im Magnificat heißt es: „Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ Und unmittelbar davor lesen wir: „Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind. Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.“

Während ich die letzten Zeilen dieses Blogeintrags schreibe, lese ich, dass heute Nacht ein Brandanschlag auf die Brotvermehrungskirche in Tabgha verübt wurde. Im Mutterkloster der Benediktiner von Tabgha, der Dormitio in Jerusalem, gab es am 26. Mai auch schon eine Brandstiftung. Es scheint ein Zusammenhang mit rechtsextremen Siedlern im Westjordanland zu bestehen.

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Muss Blatter bald Toiletten putzen?

Es ist eines der am häufigsten zitierten Jesusworte, dass die ersten die letzten sein werden und umgekehrt (Mt 19.30). Angesichts der Tatsache, dass auf dieser Welt unzählige Menschen unter der Willkür weniger Mächtiger leiden, ist das erste Gefühl, das diese Aussage hervorruft, Erleichterung und Genugtuung – völlig zu Recht. Die Vorstellung von einer Welt, in der Sepp Blatter und seine Handlanger die Klos putzen, Putin PET-Flaschen sammelt (das ist nur der Alliteration geschuldet, es gibt freilich keine PET-Flaschen mehr in dieser Welt, zum Verdruss von Nestlé) – das hat schon was.

 

Viele Revolutionen sind genau diesem Schema der Umkehrung der Machtverhältnisse gefolgt. An den Gefängnissen und Friedhöfen ließ sich das gut ablesen. Und die Unterlegenen planten schon, sofern sie noch konnten, den Umsturz des Umsturzes. Hat Jesus das so gemeint und gewollt?

Wenn nämlich das Reich Gottes darin besteht, dass niemand mehr Macht über andere ausübt und alle gleich geachtet und gleich unmittelbar zu Gott sind, wenn Gottes Herrschaft das Herrschen über andere kategorisch ausschließt, wie kann es dann noch „Letzte“ geben?

Allenfalls eben so: Dass die ehemals Überlegenen schon die Gleichheit als eine solche Zurücksetzung, Demütigung und Kränkung empfinden, dass sie unter allen Ebenbürtigen die einzigen sind, die unglücklich über diese fairen Verhältnisse sind. Das ist ja das Absurde, dass manchen Zeitgenossen nichts so gegen den Strich geht wie die Gleichheit aller Menschen. Wenn ihre Privilegien futsch sind, geht für sie die Welt unter. Wenn unter mir niemand mehr ist,  wer bin ich dann noch?

Und dann sitzen sie im Schmollwinkel wie der alte Jona unter seiner verdorrten Rizinusstaude und schimpfen über „Gleichmacherei“, „Gutmenschen“, „Sozialismus“. Wenn jemand mal eine Vorstellung von „Hölle“ sucht, die irgendwie mit der Botschaft Jesu kompatibel ist – das wäre ein Ansatz.

Ob das allerdings ewig dauert? Ich kann es mir nicht vorstellen.

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Blutige Erlösung (2): Stellvertretung

Wie kann es sein, dass der Tod eines einzelnen sich auf das Leben vieler, möglicherweise aller Menschen auswirkt? Was für die einen eine Selbstverständlichkeit ist, die sie nie angezweifelt haben, ist für andere schwer einzusehen. Die Tage haben wir das wieder einmal in einer Gesprächsrunde diskutiert.

So lange wir uns in der Metapher von Kult und Opfer bewegen, ist die Sache klar. Da gehört (ähnlich wie im magischen Denken) die „Stellvertretung“ zu den ungeschriebenen Regeln des Spiels: Ein Opfertier repräsentiert eine Gruppe von Menschen, und dann kann auch das Lebewesen noch durch Lebensmittel ersetzt werden und es ist immer noch ein „gültiges“ Opfer, das seinen rituellen Zweck erfüllt.

Was aber, wenn diese Selbstverständlichkeit nicht schon da ist? Welche Analogien lassen sich dann finden? Stellvertretung „funktioniert“ in unserer Gesellschaft über Institutionen und Strukturen. Die ermächtigen Menschen, für ganze Gruppen als deren Repräsentanten Entscheidungen zu treffen und Zusagen zu geben, im Gegenzug gibt es (wenigstens auf dem Papier) eine Pflicht zur Rechenschaft und regeln für die Entscheidungsfindung. Der Bundespräsident kann nur ein Gesetz unterschreiben, das der Bundestag zuvor beschlossen hat, und manchmal muss auch der Bundesrat noch zustimmen.

Es gibt aber auch, und damit kommen wir Jesus wieder näher, eine charismatische, nichtinstitutionelle Form der Stellvertretung oder Repräsentanz. Wir finden sie in Bewegungen und deren Führergestalten. Und dann lassen sich ähnliche Aussagen finden: Als Martin Luther King ermordet wurde, da galt dieser Anschlag nicht nur ihm als Person, sondern der Bewegung, für die er stand. Er wusste von der Gefahr und nahm das Risiko bewusst auf sich. Insofern starb King für die Rechte der Afroamerikaner, man kann aber auch sagen, dass er „für alle Amerikaner“ starb, denn der Rassismus belastete den Frieden im ganzen Land. Man kann vielleicht noch einen schritt weitergehen und sagen, er starb für alle Menschen, die in der einen oder anderen Form von Rassismus und sozialer Ausgrenzung betroffen sind – Opfer wie Täter. Ganz ähnlich lässt sich das von Oscar Romero sagen, der heute seliggesprochen wird für seinen todesmutigen Einsatz für die Armen. Und freilich galt dieser Einsatz auch den Reichen und Mächtigen, die er zur Umkehr rief.

Wenn wir bei Märtyrern sind – freilich nicht der völligen Perversion dieses Begriffs durch Selbstmordattentäter, sondern bei Menschen, die sich für die Würde und Rechte anderer einsetzen und dabei Gewalt erleiden – dann könnten viele Zeitgenossen auch noch mit, wenn wir sagen, sie setzen sich für etwas ein, das ihnen (und womöglich uns auch) „heilig“ ist. Etwa die Vision, die wir in der Erklärung der Menschenrechte formuliert finden. Wenn Menschen ihr Leben riskieren für etwas, das uns heilig ist, dann tun sie das in einem gewissen Sinn immer auch „für uns“ mit, sie repräsentieren alle Gleichgesinnten, und die Gewalt, die sie erleiden, wird von allen als persönlicher Angriff erlebt, die sich mit ihnen identifizieren.

Wenn wir von da aus auf Jesus zurückschauen und uns vergegenwärtigen, dass er quasi auf der Grenzlinie – beziehungsweise im Niemandsland – zwischen Juden- und Heidentum starb (oder in römischer Sprache: Römern und „Barbaren“), dann lässt sich das eben analog verstehen wie Kings Bedeutung für Angehörige aller Rassen und Völker oder Romeros für die Armen und deren Unterdrücker. Paulus scheint das in Galater 3,28 so verstanden zu haben, und er fügt den konfliktträchtigen Unterschied der Geschlechter dort gleich noch hinzu, ebenso wie die soziale Kluft zwischen Herren und Sklaven (das Kreuz war die Strafe der Herren für aufständische Sklaven). Ganz verschiedene Abgrenzungen und Identifikationen treffen also in diesem Punkt zusammen.

Es lassen sich also genug Kategorien für Konflikte und Zerwürfnisse finden, die auf uns zutreffen. Damit sind auch „unsere Sünden“ markiert und qualifiziert. Der Katholik James Alison hat sie in einer erfrischenden Interpretation des Sühnegeschehens summarisch so beschrieben: »… he was giving himself entirely without ambivalence and ambiguity for us, towards us, in order to set us “free from our sins” – “our sins” being our way of being bound up with each other in death, vengeance, violence and what is commonly called “wrath”.«

Inwiefern lässt sich das als „Erlösung“ deuten? Märtyrer wie King, Romero und andere weigern sich, sich in die ihnen zugewiesene Opferrolle zu fügen. Sie weigern sich ebenfalls, die gewaltsame Opfer-Täter-Relation einfach umzukehren. Sie demonstrieren damit eine Freiheit, sich über die Logik des Aufrechnens und der Vergeltung hinwegzusetzen. Sie räumen dieser Freiheit einen höheren Stellenwert ein als der eigenen Unversehrtheit und dem Überleben. Sie sind überzeugt davon, dass ein solcher Tod nicht sinnlos ist, sondern die Gewalttäter und deren Motive demaskieren, ihre fadenscheinigen Legitimierungen erschüttern und damit schließlich den Niedergang und Zerfall ihrer Macht herbeiführen kann.

Wenn man das nun in einem weiteren Interpretationsschritt zusammendenkt mit dem paulinischen „Gott war in Christus“, dann folgt daraus:

  • Gott solidarisiert sich mit den Opfern und öffnet den Tätern die Tür zur Versöhnung
  • Er „braucht“ keine Gewalt, sondern er stellt sie bloß in ihrer ganzen Abscheulichkeit
  • Er legitimiert auch keine menschliche Gewalt als „notwendig“
  • Er offenbart einen Gott, der frei ist von Rachegelüsten und Vergeltung (und sie auch nicht als „Strafe muss sein“ tarnt)
  • Er macht als Opfer von Gewalt das Angebot der Versöhnung
  • In dem allen wird ein Neuanfang möglich

Fortsetzung folgt, Teil 1 steht hier

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Blutige Erlösung: Die Meta(pher)-Ebene

In den immer wieder aufbrechenden Diskussionen über die Frage, inwiefern die Kreuzigung Jesu von Nazareth eine Heilsbedeutung für die ganze Welt hat, geraten die Ebenen, auf denen wir diskutieren, oft durcheinander. Es geht um ein Ereignis, nämlich die Hinrichtung eines jüdischen Propheten nach einem politischen Prozess in Jerusalem zur Zeit des Passafestes (um nur ein paar wichtige Stichpunkte zu nennen), und um dessen Deutung.

Freilich kehrt sich dieser Zusammenhang für die meisten Christen insofern um, als sie eine bestimmte Deutung schon mitbringen, wenn sie die Ereignisse betrachten. Das führt dann tendenziell dazu, dass man die übernommene Deutung in den Texten wieder entdeckt und nicht auf die Idee kommt, sich noch nach alternativen Schlussfolgerungen umzusehen. Selbst dann nicht, wenn diese in der Bibel stehen, oder der Bibel ähnlich nahe stehen.

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Die bekannteste dieser Deutungen ist die vom stellvertretenden Strafleiden: Jesus erleidet am Kreuz die Strafe für die Sünden entweder der Mensch- oder zumindest der Christenheit (bzw. in der Regel noch präziser: der einzelnen Christen) und macht es damit möglich, dass Schuld aller Art vergeben werden kann. Im Umkehrschluss heißt das, dass eigentlich jeder einzelne Sünder diese grausame, zum qualvollen Tod führende Folter verdient gehabt hätte. Das andere Problem: Die einzige Instanz, die eine solche Strafe verhängen (und einen Deal zugunsten der eigentlich Schuldigen ermöglichen) könnte, ist Gott selbst. Veranlasst hier also der liebende Vater im Himmel die brutale Hinrichtung seines Sohnes? Und hätte das, wenn dieser Tod denn schon „notwendig“ war, nicht etwas humaner ausfallen können? Ist als Gewalt das Mittel der Wahl, mit dem Gott Frieden, Versöhnung und Ordnung in die Welt bringt?

Die Deutungen basieren alle auf Metaphern, also sprachlichen Bildern. Wenn wir heute zum Beispiel in den Nachrichten von einem „Dammbruch“ lesen (weil ein Gericht Sterbehilfe erlaubt, weil die Griechen einen Teil ihrer Schulden nicht zurückzahlen, weil die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte drastisch zunehmen), dann bricht da natürlich keine Mauer und kein Wall und es ergießt sich auch keine verheerende Springflut oder Schlammlawine, es werden geltende Konventionen außer Kraft gesetzt mit entsprechenden Folgen für die gesamte Gesellschaft.

[Gleichzeitig ist die Metapher vom Dammbruch auch ein Bild, das ganz bewusst darauf abzielt, aufzurütteln oder Ängste zu maximieren: Für einen Fundamentalisten ist jeder Akt der Bibelkritik ein „Dammbruch“, weil damit die „objektive“ Autorität der Schrift insgesamt einem Urteil der „subjektiven“ Vernunft unterworfen wird – wer sich also heute fragt, ob die Pastoralbriefe von Paulus geschrieben wurden, der bestreitet morgen die Gottessohnschaft Christi oder rüttelt an den ewig gültigen Fundamenten der Schöpfungsordnung im Sinne der christlichen Ehe und Familie.]

Mit Metaphern ist es wie mit Modellen. Wenn ein (sprachliches, grafisches, dreidimensionales) Modell uns hilft, das Wesentliche an einem Vorgang oder Sachverhalt besser zu verstehen, hat es seinen Zweck erreicht. Der Stadtplan ist dazu da, dass ich den Bahnhof oder das Rathaus finde. Je intuitiver das geschieht, desto besser. Wenn es aber länger dauert, den Plan zu verstehen, als den Weg selbst zurückzulegen (und mich dabei notfalls durchzufragen), dann stellt sich die Frage, wie sachdienlich und wie nützlich mein Modell ist.

Metaphern laden zu Assoziationen ein. Wenn aber die spontanen Assoziationen eher befremdlich als erhellend ausfallen, dann erfüllen sie ihren Zweck nicht. Manche Begriffe und Bilder sind entweder nichtssagend oder verbrannt. Wollen wir also beurteilen, wie nützlich unsere Metaphern sind, dann muss sich das einerseits an den geschichtlichen Ereignissen orientieren, die sie erläutern sollen, und andererseits am Verstehenshorizont der Menschen hier und heute, denen diese Erläuterung gilt. Es gibt zum Beispiel Menschen, für die etwa die Metapher von Gott als „Vater“ genau das Gegenteil dessen anklingen lässt, was sie in den Evangelien meint: eine zugängliche, lebensbejahende, zärtliche und fürsorgliche Autorität. Ich kann nun ausgiebig lamentieren, wie verkommen unsere Gesellschaft ist und wie die verqueren Vorstellungen einzelner Gott im Weg stehen. Ich kann eine teuflische List dahinter vermuten, aber ich kann auch einfach die Metapher wechseln. Vielleicht lässt sich aus einem nicht nur intellektuell, sondern auch emotional geklärten Gottesbild irgendwann auch die Anrede „Vater“ irgendwann erlösen.

Womit wir wieder beim Thema wären.

Fortsetzung folgt

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Tod und Popcorn

Der Tod drängelte sich – unerwartet, wie so oft – ganz oben auf die Tagesordnung meiner letzten Woche. Das relativierte manches, was mich sonst vielleicht mehr beschäftigt hätte, ließ mich aber noch länger über ein paar Seiten aus Zygmunt Baumans Essay „Postmoderne Religion?“ nachdenken. Dort spricht Bauman von einer „antieschatologischen Revolution“ in der Moderne. Gegenüber der Vormoderne, deren ganz Sorge sich um die Frage des ewigen Seelenheils drehte, verschiebt sich die Aufmerksamkeit radikal auf das Diesseitige. Sünden- und Höllenängste des Mittelalters führten ironischerweise dazu, dass die

Faszination und Betörung durch das Leben nach dem Tod sowie die Anforderungen einer ganz auf Seelenheil ausgerichteten Frömmigkeit auf Gipfel getrieben wurden, die für Menschen, die noch am normalen Leben teilnehmen wollten, nicht mehr zu erreichen waren. Mönche. Prediger und andere »Künstler religiösen Lebens« setzten Frömmigkeitsmaßstäbe, die nicht nur mit allgemein verbreiteten »sündhaften Neigungen« kollidierten, sondern auch mit der bloßen ‚Aufrechterhaltung des Lebens als solchem; die Aussicht auf ein »ewiges Leben« geriet damit für alle mit Ausnahme einiger Heiliger außer Reichweite.

Als Reaktion darauf und nicht unbedingt im Sinne der Bußprediger, entwickelte sich aus dieser Maßlosigkeit heraus einerseits eine makabre Zurschaustellung von Tod und Leiden, andererseits schlug das memento mori um in ein memento vivere und die Freuden des irdischen Lebens (geflissentlich übersehen von vormodernen „missionarischen“ Paradigmen, die bis heute alles auf die Frage konzentrieren, wohin jemand wohl käme, sollte er heute sterben).

Denn analog zum paulinischen „Tod, wo ist dein Stachel?“ entwickelte die Moderne mit großem Erfolg drei komplementäre Strategien, um den Schrecken des Todes zu relativieren.

Der Tod wurde erstens in professionelle Obhut verwiesen und aus dem Alltag ausgegliedert:

Wie alles andere im Modernen Leben wurde der Tod einer arbeitsteiligen Behandlung unterworfen: er wurde zur Sache von »Spezialisten«. Für alle übrigen, die Nichtprofis, entwickelte sich der Tod zu etwas Anstößigem; eine peinliche, in gewisser Weise […] der Pornografie verwandte Angelegenheit, ein Ereignis, über das man nicht öffentlich und schon gar nicht »vor den Kindern« sprach. Man verbannte die toten und vor allem die Sterbenden aus dem Alltagsleben…

Zweitens wurde der Tod zerlegt in Einheiten, die sich bewältigen ließen:

Wie alle anderen »Ganzheiten« wurde auch die Aussicht auf den absolut und unwiderruflich bevorstehenden Tod scheibchenweise in unzählige, immer kleinere Bedrohungen für unser Überleben fragmentiert. an dem Faktum selbst kann man nicht viel ändern, und es wäre einfältig, sich mit etwas zu befassen, woran nun einmal nichts zu ändern ist. Die kleinen Gefahren jedoch kann man bekämpfen, zur Seite drücken, ja sogar besiegen. Und der Kampf gegen sie ist eine so zeit und energieraubende Betätigung, dass von beidem nichts übrigbleibt, um über die letztendliche Nichtigkeit all dessen nachzusinnen. Der Tod […] wurde in die kleinen, doch unzähligen Fallen und Hinterhalte des täglichen Lebens aufgelöst. Man neigt dazu, ihn immer wieder anklopfen zu hören – in fettreichem Fast Food, in salmonellenverseuchten Eiern oder cholesterinreichen Versuchungen, im Sex ohne Kondom oder im Zigarettenrauch, in asthmaerzeugenden Hausstaubmilben, … in zuwenig oder zuviel körperlicher Bewegung, in übermäßigem Essen oder übertriebenem Fasten, in zuviel Ozon und im Ozonloch; doch weiß man nun, wie man die Tür verbarrikadieren muss, wenn er klopft, und man kann die alten verrosteten Schlösser und Riegel oder Alarmanlagen gegen immer »neue und bessere« austauschen.

Drittens fand eine Virtualisierung des Todes statt. Während der wirkliche Tod immer mehr im Privaten verschwindet, wird der öffentliche Tod in Kino und Fernsehen unterhaltsam und spektakulär inszeniert, der tödliche Kampf zur einer Kunstform entwickelt, die (Tarantino lässt grüßen) um ihrer selbst willen existiert. Die schiere Flut des Sterbens auf der Mattscheibe erzeugt denselben Effekt wie eine Menge nackter Körper auf einem Bild, sie neutralisiert die Wirkung des einzelnen (hier Begehren, da Schrecken und Empathie).

In noch viel eindrucksvollerer Weise, als Aldous Huxley es sich ausmalte, ist seine Vision einer Todeskonditionierung (indem man Kindern Menschen im Todeskampf zeigt und sie dabei mit ihren Líeblingssüßigkeiten füttert) zur gängigen Praxis geworden – mit Auswirkungen, die dem, was er sich vorstellte, nicht sehr nachstehen.

Die Vorstellung des Lebens als eines „Seins zum Tode“ ist damit massiv geschwächt. Der Tod verleiht dem Leben, das auf ihn zuläuft, keine Bedeutung mehr, sondern er ist nur noch das Nicht-Ereignis, das eine Lebensgeschichte beendet, die just in dem Augenblick uninteressant und irrelevant wird, wo sie keine neuen Episoden mehr hervorzubringen verspricht. Und während der Tod im Leben eines vormodernen Menschen, das wenig Abwechslung und Überraschung bot, das eine völlig unkalkulierbare Ereignis war, so ist er heute häufig das einigermaßen absehbare, jedenfalls medizinisch erklärbare Ende eines Lebens, das von Umbrüchen, Ungewissheiten und Apokalypsen – Bauman spricht von der „Instabilität alles Erreichten und der Zerbrechlichkeit menschlicher Bindungen“ und der „Launenhaftigkeit von Regeln, die sich schon vor Spielende wieder ändern“ – gekennzeichnet ist.

Ungewissheit postmodernen Typs zeugt nicht von einem Bedarf an Religion, sie bewirkt vielmehr eine ständig steigende Nachfrage für Identitätsexperten. Wen die Ungewissheit postmodernen Typs quält, der braucht keine Prediger, die ihm etwas über die Schwäche des Menschen und die Unzulänglichkeit menschlichen Vermögens erzählen. Er braucht die Bestätigung, dass er/sie es schaffen kann – und Anleitung, wie dies anzustellen sei.

Ich kann nicht auf alles eingehen, was Bauman hier anreißt, aber mich hat seine Analyse insofern überrascht, als ich im Blick auf seine jüdische Herkunft erwartet hätte, dass er den Kern des Glaubens und damit von Religion nicht in der Frage nach Tod und Jenseits sieht, wie es dann im katholischen Spätmittelalter der Fall war. Zu Beginn des Essays, aus dem ich zitiert habe, beschreibt er noch sehr treffend die Unmöglichkeit einer umfassenden Definition von Religion, nur um das alles mit einem Satz von Tisch zu wischen und festzustellen, Religion sei „schließlich nichts anderes […] als das intuitive Wissen um die Grenzen dessen, was wir Menschen als solche tun und verstehen können“, Religiosität bestehe mithin im „Bewusstsein menschlicher Unzulänglichkeit und dem Eingeständnis der Schwäche“, die er im Folgenden dann strikt auf Tod und Transzendenz bezieht.

Für den Alttestamentler Walter Dietrich hingegen (und das hätte ich bei Bauman eigentlich erwartet, weil es ja sein Ur-Anliegen darstellt) ist der rote Faden der hebräischen Bibel die Frage nach Gerechtigkeit, der „Herstellung und Wahrung lebensfreundlicher Verhältnisse gerade für die in ihrer Existenz oder ihrem Wohl Bedrohten […]. Für Israel kennzeichnend ist dabei, dass sich religiöse Motivation und politische Aktion untrennbar miteinander verbinden“ (Der rote Faden des Alten Testaments, in: Ders., Theopolitik. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, S. 21)

Für mein Empfinden gilt diese Aussage ebenso für das Christentum und Jesu Botschaft vom Reich Gottes. Besonders auch in dem Sinn, dass Jesu Eintreten für Gerechtigkeit ihn zum Märtyrer und Opfer eines Justizmordes machte – ein Ereignis, an dem deutlich wird, dass sich derjenige ganz besonders mit dem Tod beschäftigen muss, der die sozialen Verhältnisse verändern will. Dazu kommt das für die ersten Christen völlig unerwartete Geschehen der Auferweckung, in dem erkennbar wird, dass der Tod als die Summe und endgültige Festschreibung aller lebensfeindlichen Verhältnisse und Bedrohungen auf eine völlig andere Art und Weise und von anderer Seite relativiert wurde, als es im Projekt der Moderne geschah und geschieht. Wer sich gegen Großkonzerne, Geheimdienste, Diktatoren, rechte Todesschwadronen oder mafiöse Strukturen stellt, darf keine Angst vor dem Tod haben und wird ihn schwerlich durch den Konsum von Popcorn und Actionkino ausblenden können.

Ein „aktuelles“ Evangelium, das sich auf Identitätsmanagement reduzieren lässt und zu diesem Zweck die Ur-Angst postmoderner Menschen beschwichtigt, in den ständigen Wahlzwängen Entscheidendes zu verpassen, ist ebenso ungenügend wie ein traditionelles, dass sich auf Schuld und Tod reduzieren lässt. Wer mutig vom Tod reden kann, hat auch in Sachen Gerechtigkeit etwas zu sagen. Wer sich vor dem Tod in Wellness flüchtet, wird auch davor zurückschrecken, sich den Mächten dieser Welt tapfer entgegenzustellen.

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Stress mit bösen Geistern (2)

Ich hatte mich mir Richard Horsleys These befasst, dass sich die Unterdrückung indigener Völker durch technisch und wirtschaftlich überlegene Großreiche oder Kolonialmächte in einer signifikanten Zunahme von Bessenheitsphänomenen äußert. Die eindringenden Dämonen tragen häufig Attribute der Besatzer, der Kampf gegen sie lenkt ab von der demütigenden Aussichtslosigkeit des politischen und militärischen Kampfes, ja sie rettet die betroffenen Gemeinschaften davor, Ihr Leid durch einen Aufstand zu potenzieren.

Horsley zieht eine Parallele zum Neuen Testament. Während Geister und Engel in Israel vor der hellenistischen Zeit kaum eine Rolle spielten und vor allem nicht als eigenständigen Akteure erschienen, ändert sich das in den späten Schichten der hebräischen Bibel wie dem Danielbuch dahingehend, dass zwischen Gott (der damit in größere Ferne rückt) und Welt sich eine Sphäre von Zwischenwesen auftut, in der ein Kampf zwischen Gut und Böse tobt. Spätere jüdische Schriften wie das Henochbuch und die Texte aus Qumran malen das weiter aus. Zeitgeschichtlich fällt das mit der Besatzung durch die hellenistischen Seleukiden (davon berichten die Makkabäerbücher) und später dann durch die Eroberung und brutale Unterwerfung Palästinas durch die Römer zusammen. In Qumran wurde der „geistliche Krieg“ (meine Formulierung) rituell begangen. Deutliche Anspielungen auf Formationen der Besatzerheere trafen dabei auf Elemente der Josua-Tradition und Vorstellungen vom Gotteskrieg.

In den Evangelien finden wir zahlreiche Berichte über Dämonenaustreibungen. Solche Berichte fehlen fast völlig aus der Zeit der Selbständigkeit von Israel und Juda. Die knappen Schilderungen interessieren sich dabei im Vergleich zu vergleichbaren Texten der hellenistischen Literatur überhaupt nicht für die Techniken und Kunstgriffen des Wundertäters, dafür enthalten sie Anspielungen auf den mosaischen Exodus und die Erneuerung Israels.

Unverkennbar ist die politische Dimension (und die Parallele zum kolonialen Afrika) in Markus 5,1-20, in der sich der Dämon als „Legion“ zu erkennen gibt. Der dämonisierte Mann hingegen steht als Symptomträger für die gesamte Bevölkerung. Militärische Sprache prägt auch den weiteren Gang der Erzählung. Die Geister treiben eine Schweineherde in einen wilden Ansturm auf das „Meer“ – der See Genezareth wird zum Symbol für das Mittelmeer, über das die Römer kamen, und das Schilfmeer, in dem die Ägypter untergingen.

Dass es die Leute mit der Angst zu tun bekamen und Jesus baten, die Gegend zu verlassen, hat, so Horsley, weniger mit den tumultartigen Umständen zu tun, sondern mit der Tatsache, dass die Maskierung der wahren Unterdrückung, einschließlich der Ursachen und Folgen, nun zusammengebrochen war und ein anderer Modus Vivendi gefunden werden musste als das gelegentliche Niederringen eines Besessenen mit vereinten Kräften. Deutlich wird in alldem: Das Kommen des Gottesreiches in den Exorzismen Jesu (mit dem „Finger Gottes“) signalisiert auch den Anfang vom Ende der römischen Gewaltherrschaft.

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