Ich hatte bei der Besprechung des aufmüpfigen Buches von Peter Rollins eine Pause eingelegt. Im sechsten Kapitel setzt er sich mit Transzendenz und Immanenz Gottes auseinander. Die Auferstehung, so setzt er an, ermöglicht eine neue Art zu leben, die das Leid und die Dunkelheit oder Sinnlosigkeit in unserem Leben nicht aufhebt, ihnen aber den Stachel raubt: Wir müssen nicht mehr verzweifeln.
Verzweiflung droht für Rollins da, wo man das irdische Leben als Wartezimmer der Rechtgläubigen für die Ewigkeit versteht (da ist Gott ganz transzendent gedacht) oder Gottes Gegenwart in einem enthusiastischen Geist/Welt-Dualismus auf das Außergewöhnliche begrenzt (wodurch alles andere um so profaner erscheint), oder aber ewig auf der Jagd nach Gott bleibt, ohne seiner je ansichtig zu werden (denn dann wäre die Jagd vorbei und möglicherweise die Enttäuschung groß).
Rollins plädiert dagegen für einen indirekten Zugang zu Gott und er erläutert das so:
Wir betrachten Gott nicht mehr als einen Gegenstand, den wir lieben. Tatsächlich wird die Vorstellung, Gott direkt zu lieben, problematisch. Stattdessen lernen wir, dass Gott in der liebenden Tat selbst gegenwärtig ist. Wir finden das Glück nicht darin, der Welt zu entsagen und unser Sehnen auf das Göttliche zu richten, sondern jetzt begegnet uns das Göttliche in jedem Akt der Liebe der Welt gegenüber. Gott liebt man durch das Werk der Liebe an sich. In der Liebe finden wir neuen Sinn, Freude und Erfüllung.
So, erklärt Rollins, behalten wir Gott gegenüber eine Distanz und finden ihn zugleich. Das erinnert von fern an Luthers Kreuzestheologie, wo dieser davon spricht, dass man Gott wie Mose auf dem Berg Sinai nicht direkt, sondern nur „von hinten“ erkennen kann. Aber dann dreht Rollins das Ganze noch einmal um. Wenn man einen Menschen liebt, dann wird dieser Mensch durch unsere Liebe zu einer ganz besonderen, einzigartigen Person – aber nicht deshalb, weil sie oder er das „objektiv“ wäre, sondern weil unsere Liebe ihn zu diesem Mysterium macht:
Wenn wir Gott als den Gegenstand betrachten, den wir lieben, dann erleben wir immer eine Distanz zwischen uns und der letztgültigen Quelle unseres Glückes und Sinns. Wenn wir Gott in der Liebe selbst finden, bringt uns der Akt der Liebe in eine unmittelbare [!] Beziehung zur tiefsten Wahrheit überhaupt.
Man ist geneigt zurückzufragen, wie das nun gemeint sein soll:
- Zu Gott gibt es nur eine mittelbare Beziehung, exklusiv vermittelt durch die gelebte Liebe, zur Liebe dagegen gibt es eine unmittelbare Beziehung?
- Weil sie meine Tat ist?
- Weil ich als Liebender an ihr teilhabe – aber gälte das nicht genauso mittelbar oder unmittelbar auch für Gott?
- Was qualifiziert meine Tat eigentlich als Liebe: Meine gute Absicht, ihre („objektiv“) gute Wirkung, wie sie bei anderen (subjektiv) „ankommt“?
- Wie passt dazu die Aussage aus 1.Johannes 4, dass Gott die Liebe ist?
- Will Rollins hier alle metaphysischen, auf den deus-ex-machina hinauslaufenden Aussagen über Gott umgehen – und macht er damit unter der Hand nicht doch wieder „die Liebe“ zu einer quasi-metaphysischen Größe?
Und nun schwenkt Robins wieder zurück. Die Liebe selbst erscheint ja gar nicht, sondern sie lässt nur den geliebten Menschen für uns größer, wundersamer und besonderer erscheinen. Sie stellt andere nicht in ihren Schatten, sondern rückt sie ins Licht (hier würde sich ja ein Schwenk zur johanneischen Pneumatologie anbieten, aber Rollins lässt die Gelegenheit aus).
Rollins fährt fort: Sie, die Liebe, ist die höchste Wahrheit überhaupt. Nur die Liebe erkennt in dem Gekreuzigten den Sohn Gottes. Dass wir lieben, verändert alles Erleben. Und da wahre Liebe den anderen immer um seiner selbst willen liebt, lieben wir genau genommen nicht den anderen um Gottes Willen, sondern wir lieben Gott in unserer Zuwendung zum anderen mit.
(Spätestens hier müsste man nun unbedingt vom Heiligen Geist als der Kraft reden, die es uns ermöglicht, uns der Welt in Liebe zuzuwenden, statt uns in der Liebe zu Gott von ihr abzuwenden, der es möglich macht, dass meine menschliche Liebe diese göttliche Qualität bekommt, ohne dabei aufzuhören, meine Liebe und wahrhaft menschliche Liebe zu bleiben).
Rollins dagegen zitiert wieder Bonhoeffer: Am Kreuz hat sich Gott aus der Welt hinausdrängen lassen, darum geht es für Christen darum, zu leben etsi deus non daretur („als gäbe es keinen Gott“). Erwachsener Glaube kann diese Abwesenheit Gottes und unsere Gottesferne annehmen, weil darin das Paradox schlummert, dass wir „vor Gott und mit Gott ohne Gott“ leben.
Glaube und Liebe sind von daher nicht zwei verschiedene Dinge: Man glaubt nur insofern, als man liebt! Weil das aber so ist, kann ein Christ die Frage nach der Existenz Gottes nicht mit einem herzhaften, ungebrochenen „Ja“ beantworten, sondern er muss sagen: „Darum geht es mir“ oder noch besser „Frag meine Feinde“. Gottes Existenz ist nur darin erkennbar, dass wir Gutes tun, ohne nach einem Lohn dafür (den „Himmel“, Gottes Wohlwollen, Beifall anderer) zu schielen. Genau dazu befreit der Glaube an die Auferstehung: Das Leben uneingeschränkt und furchtlos zu bejahen, selbstlos zu lieben ohne zu berechnen, was es denn „bringt“, uns von der Idee eines vorbestimmten Schicksals zu verabschieden. Und dann hört man gegen Ende des Kapitels nach dem Existenzialisten Kierkegaard beinahe noch Rudolf Bultmann reden, wenn Rollins schreibt, die Frage nach einem Schicksal sei nur so zu beantworten:
Alles, was mich zu genau diesem Augenblick geführt hat, dem Augenblick, in dem ich resolut über den nächsten Schritt entscheiden muss, ohne irgendeinen kosmischen Beistand (S. 135).
Ist das, was Rollins schreibt, nichts als sattsam bekannter Existenzialismus, oder doch etwas mehr? Das werden wohl erst die nächsten Kapitel aufklären. Unklar bleibt manches deshalb, weil Rollins sich durchaus auf Inkarnation und Kreuz beziehen kann, ja seine Thesen darauf begründet, zugleich sich aber dagegen wehrt, Glaube mit irgendeinem sachlich-dogmatischen Gehalt oder Aussagen über irgendetwas „da draußen“ zu verknüpfen. Kann das denn gut gehen? Und legt er mir mit den Aussagen dieses Kapitels nicht die schwer zu schulternde Last auf, mein eigener Gottesbeweis zu werden? Hat er den Gedanken an einen in der Geschichte handelnden Gott aufgegeben oder für irrelevant erklärt, wenn er derart steil auf das menschliche Subjekt abzielt?