Muttis Welt

Jan Ross hat in einem großartigen Essay auf Zeit Online die Krise Europas in einen passenderen Deutungsrahmen gestellt, als das sonst oft geschieht. Man muss die Besonderheit dieses Experiments zu würdigen wissen, erklärt er. Hier ist eine ganz andere Nachbarschaft unter Völkern entstanden als etwa zwischen Indien und Pakistan:

Die Schicksale von Staaten in Europa sind einmalig eng verknüpft, aber genau andersherum als in der klassischen Macht- und Geopolitik: Man profitiert von der Stärke des anderen und leidet unter seiner Schwäche. Das stellt Jahrhunderte historischer Erfahrung auf den Kopf. Für neunzig Prozent der Menschheit sind solche politischen Lebensbedingungen unvorstellbar.

Aus den Nationen Europas ist dagegen eine Familie geworden. Da hilft man einander auch dann aus, wenn einer unverantwortlich gehandelt hat, aber man sagt sich die Wahrheit auch undiplomatischer ins Gesicht. Diese „relative Formlosigkeit“ im Umgang ist auch ein Zeichen für eine „neuen Intimität“. Aber es ist noch nicht ausgemacht, ob sich die Familie in der gegenwärtigen Krise bewährt. Mit inneren oder äußeren Zwangsläufigkeiten zu argumentieren, sagt Ross, hilft nicht weiter. Man muss für diese „hochgradig avantgardistische Lebensform“ und ihre „postheroische, hormonell abgerüstete Politik“ anders argumentieren, und das tut er dann auch:

Das ist Europa: eine große, unfertige, kostbare, lebendige Angelegenheit. Es ist keineswegs aussichtslos, für »mehr Europa« Werbung zu machen, auch wenn das Opfer bedeutet – mühsame Reformanstrengungen der Schuldnerländer, unpopuläre Transfers der reichen Nordeuropäer und Deutschen. Doch muss man über diese Familie auch entsprechend reden: mit Sinn für ihre großen Traditionen und kleinen schmutzigen Geheimnisse, mit etwas Liebe und Humor.

Das klingt doch sympathisch – reden wir also besser in der Sprache der Dichter als der Buchhalter und Struktur-Mechaniker! Und zu Angela Merkels Spitznamen passt es sowieso prima.

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