Eindringliche Mahnung

Kürzlich habe ich wieder mal eine dieser vertrauten Geschichten gehört: In einer Gruppe, die eine gravierenden Konflikt durchlebt, meldet sich jemand mit einem „Eindruck“ bzw. „Bild“ (das ist charismatischer Code für „Reden Gottes“) zu Wort, das die eigene Position von aller Kritik ausnimmt und den anderen einseitig die Schuld anlastet. Ein dreister oder vielleicht auch verzweifelter Versuch der Manipulation, eine Vereinnahmung Gottes zum Zweck der Selbstrechtfertigung.

Ich merke, dass ich für solche Manöver überhaupt gar kein Verständnis habe. Vielleicht war ja die Drohung aus Deuteronomium 18,20 gar nicht so falsch? Da heißt es ganz rabiat:

Doch ein Prophet, der sich anmaßt, in meinem Namen ein Wort zu verkünden, dessen Verkündigung ich ihm nicht aufgetragen habe […], ein solcher Prophet soll sterben.

Niemand würde das heute noch wörtlich verstehen. Es geht weder um Blasphemiegesetze noch um Inquisitionsprozesse, eher schon um die fehlende „Furcht Gottes“. Aber die scharfe Warnung hilft vielleicht, das Problembewusstsein etwas zu steigern: Erst mal sein Testament zu machen, bevor man allzu flott unter Berufung auf göttliche Inspiration den Mund öffnet, also bei letzterem wenigstens ebenso viel kritische Sorgfalt walten zu lassen wie bei ersterem, das kann allen Beteiligen doch nur gut tun. Und wenn der „Prophet“ das nicht selbst kann, müssen es eben seine Hörer tun, und ihm eine deutliche Rückmeldung seiner Grenzverletzungen verpassen.

Gestern wurde Hildegard von Bingen von Papst Benedikt XVI zur Lehrerin der Kirche erhoben. Sie wird als prophetische Gestalt geschildert, die ein ganzes Zeitalter geprägt hat. Ihr wird die folgende Weisheit zugeschrieben:

Nicht mit Drohworten sollst du auf deine Untergebenen einschlagen wie mit einer Keule. Mische vielmehr die Worte der Gerechtigkeit mit Barmherzigkeit und salbe die Menschen mit Gottesfurcht.

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Korea (9): Die weibliche Perspektive

Der letzte Beitrag am Montag: Abschließend spricht Dr. Min Jung Kim, sie ist Pastorin, leitet das Good Ministry Institute und Gastdozentin am Fuller Seminary und arbeitet als „Chaplain“ (gibt’s dafür einen deutschen Begriff?) von MCM, deren koreanischer Zweig auch von einer Frau geführt wird. Pastorinnen dürfen in Korea, wenn sie überhaupt ordiniert werden, weder Beerdigungen noch Abendmahlsgottesdienste halten, sagt sie. Oft sind sie für die männlichen Kollegen eine Art Sekretärin oder sie kümmern sich um den Kindergottesdienst.

DSC06018Trotz Promotion wurde sie selbst alles andere als freudig begrüßt in ihrer Denomination, daher auch die vielen unterschiedlichen Tätigkeiten in Gemeinde, Studium und Forschung und Wirtschaftsleben. Ihr Fachwissen zum Thema Integration neuer Gemeindeglieder in den Kirchen eignete sie sich an, weil sie keine Gelegenheit zur öffentlichen Wortverkündigung bekam.

Frauen in irgendwelchen Führungspositionen – in der „säkularen“ Welt keine Seltenheit – tauchen in den Gemeinden gar nicht auf, sagt sie. Weil sie nicht predigen durfte, schrieb sie Bücher und hielt Fortbildungen für Pastoren. Sie betrachtet sich als Wegbereiterin für ihre zukünftigen Kolleginnen: Kürzlich durfte sie die Beerdigung des ehemaligen Chefs von Hyundai halten.

Sie wirkt entschlossen und kämpferisch, glaubt aber nicht an einen schnellen Erfolg, in Korea ändert sich das wohl erst, wenn Jesus wiederkommt, sagt sie. Immer mehr Frauen studieren Theologie, aber sie kommen in den Gemeinden nicht zum Zug. Als „Firmenpfarrerin“ bei MCM/Sungjoo predigt sie nun bis zu sieben Mal in der Woche.

Und da kommt auch schon die Frage, die mir auf der Zunge lag: Müssen die Gemeinden, in denen Frauen leiten und predigen dürfen also erst noch gegründet werden? Das sei sehr schwierig, sagt Dr. Min Jung Kim. Hier werden neue Gemeinden in der Regel durch Ausgliederung von Gruppen aus großen Muttergemeinden gegründet. Selbst da scheitern viele Gründungsprojekte. Die Verbände stellen keine Mittel bereit, eine Frau stünde also völlig allein, wenn sie das täte.

Am Erbe der US-Missionare kritisiert sie den evangelikalen Heilsindividualismus. Nicht das Versagen der Leiter, sondern die Selbstbezogenheit der Christen und Gemeinden insgesamt hat den Bedeutungsverlust ausgelöst – hier widerspricht sie ihren Vorrednern also. Wenn die sozialen Aspekte des Evangeliums nicht wieder entdeckt werden, lässt sich das miese Image auch nicht mehr umkehren.

Unter den PioniermissionarInnen hier war auch eine Offizierin (geht das auf Deutsch?) der Heilsarmee aus Südafrika. Das wäre doch eine lokale Tradition, an die sich anknüpfen ließe…

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Chefsache

In diesen Tagen war zu lesen, dass der Ministerpräsident das Gymnasium zur „Chefsache“ erklärt hat. Da muss einem Angst und bange werden. Das letzte Mal nämlich, als Bildungspolitik zur Chefsache wurde, bekamen wir das G8. Ich frage mich ja manchmal: hätte es am Ende sogar funktionieren können, wenn man einfach die Kollegen nördlich der Staatsgrenzen, in Thüringen und Sachsen, gründlich interviewt und deren Know How übernommen hätte?

Aber Chefs erfinden das Rad neu und beweisen damit fatale Tatkraft.

Kein gutes Omen also, wenn wieder ein Regent ohne große Erfahrung in der Bildungspolitik die Sache an sich reißt. Es bedeutet nur, dass ein Jahr vor der nächsten Wahl das Thema den Interessen der Partei unterworfen wird, nicht etwa dem der Schüler, Eltern und Lehrer. Die Eltern haben das kapiert, inzwischen boomen die Realschulen und in ein paar Jahren können FOS und BOS anbauen und Lehrkräfte einstellen.

Bis irgendwann meine Enkel in die Schule kommen, ist es dann hoffentlich keine Chefsache mehr. Und hoffentlich auch nicht mehr derselbe Chef.

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Werktagsreden

Das Thema Integration hat mich die letzten beiden Tage intensiv beschäftigt. Gestern vormittag hörte ich Prof. Heiner Bielefeldt auf einer Veranstaltung im Rathaus über die Menschenrechte und deren Bedeutung für Integration in Europa reden, am Abend folgte eine Podiumsdiskussion zum Thema „Menschlichkeit im Rechtsstaat“, die von beiden großen Kirchen ausgerichtet wurde.

Leider war sie eher spärlich besucht, etwas 50-60 Leute hatten sich in der Markuskirche eingefunden. Eine Vertreterin der Stadt Erlangen, eine Beamtin des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der frühere Vorsitzende des Erlanger Ausländer- und Integrationsbeirats, ein Vertreter des bayerischen Flüchtlingsrates.

Es begann etwas zäh. Die Menschenrechte als das verbindende Element von Menschlichkeit hätten der Debatte gut getan. So wiesen die Vertreterinnen der Behörden auf die geltende Rechtslage, nicht ohne sie kräftig schönzufärben als „in Recht gegossene Menschlichkeit“ – gemeint war das Grundrecht auf Asyl, das seit 1993 durch zahlreiche Bestimmungen eingeschränkt und ausgehebelt wird. Und freilich erscheint in dieser obrigkeitlichen Logik jeder, der – mit welcher Motivation auch immer – das Gesetz missachtet, als Vorbote von Anarchie und Chaos, die sattsam bekannte Dammbruch-Logik. Entsprechend entrüstet wurde auch die Kritik an konkreten Entscheidungen einzelner Beamtinnen zurückgewiesen.

Umgekehrt standen dann nur spärlich abgemilderte Vorwürfe sturen Kadavergehorsams im Raum. Erst mühsam entspann sich unter (zum Teil etwas weitschweifigen) Wortbeiträgen der rote Faden eines Konsenses, der die Politiker (insbesondere die aktuelle Regierungskoalition in München und Berlin) und deren bis zur Unmenschlichkeit restriktive Gesetzgebung als die eigentliche Ursache des Problems ausmachten, und am Ende konnte man zwischen den Zeilen auch bei den beiden Vertreterinnen der Behörden Kritik an der Rechtslage vernehmen und die damit verbundene Einsicht, dass geltendes Recht nicht immer gutes Recht im Sinne der Mitmenschlichkeit ist. Die aber, daran ließen die beiden Dekane keinen Zweifel, ist für Christen noch wichtiger als der Gehorsam gegenüber dem Rechtsstaat. Und so kam auch Kirchenasyl als letztes Mittel wieder ins Gespräch.

Die Hauptaufgabe bleibt jedoch die öffentliche Meinungsbildung. Am Vormittag hatte Prof. Bielefeld noch erläutert, das beste Mittel gegen diskriminierende Hate Speech sei more speech. Den Scharfmachern dürfen wir nicht das Feld überlassen. Ich habe hier in jüngster Zeit viel über das Schweigen gepostet, aber natürlich gilt auch hier: Alles hat seine Zeit und seinen Ort.

2013 wird gewählt – in Bayern und im Bund. Nur wenn unsere Innenminister und deren schwarze Parteifreunde an den Stammtischen nicht mehr billig punkten können, indem sie den harten Hund gegen Fremde herauskehren, wird der Weg frei für eine Neufassung des verstümmelten Asylrechts und zu Gesetzen, die Integration ernsthaft fördern und den Fremden nicht als Menschen zweiter Klasse behandeln.

Wir brauchen keine Sonntagsreden, sondern Werktagsreden, in denen möglichst viele möglichst klar Position beziehen zugunsten von mehr Mitmenschlichkeit im Umgang mit Flüchtlingen und Fremden. An diesem Gespräch können wir uns alle ab sofort ganz offensiv beteiligen!

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Wer seine „Nische“ nicht findet…

… ist vielleicht nicht am falschen Platz, sondern einfach nur ein Generalist: Jemand, der nicht die eine Sache ganz besonders gut kann, sondern der viele unterschiedliche Dinge kann und gern tut. Dem es schwer fallen würde, sich auf eines davon dauerhaft festzulegen, weil er meistens mehrere Bälle in der Luft hat. Jemand, der Monotonie scheut und die Vielfalt liebt.

Für jemand, der ein breites Profil hat, wird es nie passgenaue Lücken geben, keine maßgeschneiderten Stellenbeschreibungen. Er braucht ein weites Feld, auf dem er sich bewegen kann. In einer Welt der überwachten Planquadrate ist der Generalist immer am falschen Platz, immer etwas zu sperrig. In der Welt der Spezialisten wirkt der Generalist oft deplatziert, unzureichend angepasst, schwer vermittelbar. Einen sorgsam eingefriedeten „Platz“ wird er nie haben.

Aber in einer Welt, deren Existenz durch das Scheuklappenwesen und Fachidiotentum (Disclaimer: nicht jeder Spezialist ist ein Fachidiot, aber ein Generalist kann per Definitionen eben kaum zum Fachidioten werden) bedroht ist, weil niemand mehr das Detailwissen zu einem großen Bild zusammensetzen kann, weil wir zwar fast alles über jeden Baum wissen, aber uns jedes Verständnis von Wald abhanden gekommen ist, ist oder wird er vielleicht wichtiger, als viele denken?

Ich fühle mich nicht nur selbst als Generalist, sondern ich kenne auch noch eine Reihe anderer. Und das irritierende Gefühl, oft keine Nische zu haben oder zu finden, verbindet uns. Oder die nicht ganz unberechtigte Sorge, sich mit all den vielen Dingen zu verzetteln, ein viel zu unscharfes Profil in die Umgebung auszustrahlen. Stattdessen könnte es sich lohnen, mal auf die Chancen zu blicken, selber aktiv zu werden und nicht darauf zu warten, dass uns massgeschneiderte Jobs angeboten werden.

Kürzlich habe ich den Satz gelesen: Der Mensch ist ein Generalist. er kann alles, aber nichts gut. Das ist aus der Perspektive des Zoologen geschrieben. Aber ich freue mich immer, wenn ich glückliche Generalisten treffe. Da wird tatsächlich eine Qualität des Menschseins sichtbar, die man nicht überall antrifft.

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Lazarus 2012

Gestern kam das Gespräch auf Nahtod-Erfahrungen. Menschen, die welche hatten, werden ja gern untersucht, befragt und herumgereicht, um davon zu erzählen. Ich selber bin eher Skeptiker, was die Aussagekraft solcher Berichte angeht. Meine Theorie ist, dass was immer da passiert ist und sich vermutlich ja auch fragmentarisch in der Erinnerung zeigt, nach dem Ereignis vom Bewusstsein des Betreffenden sortiert und interpretiert wurde, und zwar anhand von Kategorien und Vorstellungen, die schon längst da waren, zum Beispiel auch religiösen. Der überarbeitete „Clip“ überschreibt dann das ursprüngliche Erlebnis, weil wir eben nur interpretierte Erfahrungen behalten. Was „wirklich“ war, lässt sich nicht mehr ermitteln.

Würde Jesus Lazarus heute auferwecken, dann sähe sich dieser in den Wochen und Monaten danach nicht nur neugierigen Fragen seiner Nachbarn und Verwandten ausgesetzt, wie es denn „im Himmel“ gewesen sei. Er würde möglicherweise auch psychologischen Tests unterzogen; ein christlicher Verlag würde anklopfen, ob man ein Buchprojekt machen könne und anschließend eine Vortragstournee. Lokale Fernsehsender würden um ein Interview bitten und in den christlichen Medien müsste Lazarus, flankiert von Experten, sein Erlebnis schildern und analysieren lassen.

Wie anders dagegen die Geschichte in Johannes 11. Da sagt Jesus: „Löst ihm die Binden und lasst ihn weggehen“ (11,44). Das ist alles. Seine Erlebnisse darf er für sich behalten. Niemand versucht, die Decke zum Jenseits an einem Zipfel anzuheben und zu sehen, was drunter war. Ist doch interessant…

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Cooler Song

Ich weiß, Kontext ist alles, aber die erste Zeile dieses Liedes ließ erst einmal ganz ungewohnte Bilder in meinem Kopf ablaufen:

Komm, brich ein durch das Eis

Vielleicht klingt es im Sommer weniger riskant. Wobei, noch etwas weiter assoziiert, Gott als „Einbrecher“ ja schon wieder ein eminent biblisches Motiv wäre 🙂

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Auf Abrahams Spuren

William Ury ist Anthropologe und Experte in Sachen Frieden und Versöhnung. In diesem TED-Video beschreibt er neben ein paar wichtigen Grundsätzen zur Konfliktbewältigung vor allem ein konkretes Projekt: The Abraham Path, eine Art Pilgerreise auf Abrahams Spuren, bei der sich Menschen verschiedener Ethnien und Religionen begegnen, Gastfreundschaft erfahren und Seite an Seite gehen.

Der syrische Teil der Route dürfte momentan nicht zugänglich sein, aber es bleiben ja noch viele andere Abschnitte auf der Route von Ur nach Be’er Sheva.

William Ury on TED from Ting Wu on Vimeo.

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Wie sich „christliche“ Politik unglaubwürdig macht

Alexander Jungkunz hat heute in einem Kommentar der Nürnberger Nachrichten anlässlich des Anschlags in Nigeria auf das Problem der verfolgten Christen hingewiesen. In über 50 Staaten weltweit müssen Christen mit Unterdrückung und Gewalt rechnen. Aus ökonomischen Erwägungen fällt der politische Protest an dieser Stelle oft aus, schreibt Jungkunz und kritisiert dann vor allem die rigide Asylpolitik ausgerechnet der C-Parteien, die Glaubensflüchtlingen bei uns das Leben schwer bis unmöglich macht. Wenn man an den Zuständen anderswo schon nicht direkt etwas ändern kann, dann muss man wenigstens hier sein Möglichstes tun.

In die gleich Kerbe schlägt heute Diakoniepräsident Bammessel, der ebenfalls die Flüchtlingspolitik der schwarz(gelb)en Staatsregierung kritisiert, die zu unhaltbaren Zuständen führt. Die Stadt Erlangen passt so gesehen leider bestens ins düstere Bild, weil hier seit Jahren die ohnehin schon die harten Vorgaben des Landespolitik konsequent zu Ungunsten Betroffener ausgelegt werden. Das Thema wird im neuen Jahr den Stadtrat weiter beschäftigen. Für eine Kommune, die sich als „offen aus Tradition“ bezeichnet, ist das kein Glanzstück, zumal die Stadtverwaltung auf die Kritik der Verbände bislang sehr defensiv reagiert.

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Weiter wursteln? Das Wulff-Dilemma

Vor ein paar Tagen erst hat mich eine Leserin gelobt dafür, dass ich mich aus der Tagespolitik heraushalte, jetzt kann ich es mir doch nicht ganz verkneifen. Nicht weil ich ganz neue Aspekte sehe, sondern weil ich merke, dass sich das leidige Präsidenten-Thema einfach nicht ignorieren lässt. Gestern habe ich es mit einer 80-jährigen Dame diskutiert. Wir fanden beide: Es taugt nicht zur Empörung, aber eben auch nicht zur achselzuckenden Resignation. Vielleicht ist ehrliche Trauer die beste Lösung.

Diese Woche ist Vaclav Havel gestorben – ein Präsident, wie er im Buche steht: Literat, Bürgerrechtler, unbeugsam, moralische Autorität, großer Europäer.

Kleiner (?) Sprung: Ganz Deutschland diskutiert in diesen Tagen über Christian Wulff. Vielleicht auch, weil wenig andere Dinge die Gemüter erhitzen. Zwischen den Zeilen der Statements von Freund und Feind wird schon deutlich, dass er sich im juristischen Sinne nichts hat zu Schulden kommen lassen. Irgendwie wäre es für uns doch alle peinlich, wenn ein Präsident über einen popeligen, lange verschämt verschwiegenen Privatkredit stolpern würde. Man kann seinen Rücktritt gar nicht mit inbrünstiger Entrüstung fordern, ohne als selbstgerechter und kleinkarierter Moralapostel dazustehen, oder? Wenn er wenigstens betrunken Auto gefahren wäre, aber das kann man sich bei ihm irgendwie gar nicht vorstellen.

Dennoch – das fade Gefühl geht deswegen nicht weg, und daher endet auch die ratlose Diskussion nicht. Das hat damit zu tun, dass Wulff von Angela Merkel gegen den deutlich populäreren Joachim Gauck zwecks Machtdemonstration an die eigene verunsicherte Partei ins Amt gehievt wurde. Der Eindruck, dass er sich vielleicht doch weniger erarbeitet als von Gönnern zugeschoben bekommen hat, ist also gar nicht erst jetzt entstanden.

Na gut, sagten damals viele, er ist vielleicht etwas blass, aber wenigstens integer. Vorsichtig gesagt herrscht nun der etwas ungünstige Eindruck, dass es eine eher passive als entschlossene und mutige Ehrlichkeit ist. Insofern ist die Vermutung, dass Wulff es aus Naivität oder Ahnungslosigkeit versäumt haben könnte, die Sache klarzustellen, für die öffentliche Wahrnehmung seiner Amtsführung fast noch schädlicher, als ihm energischen Vorsatz zu unterstellen.

Das Ganze ist aus einem dritten Grund tragisch: Wir bekommen es regelmäßig gesagt, dass in den letzten Jahren die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter aufgegangen ist. Für viele ist schon ein bescheidener Urlaub nicht drin, an ein Eigenheim nicht zu denken. Jeder gönnt dem Bundespräsidenten sein Dach über dem Kopf und seine Erholung. Auch seine Freunde gönnen wir ihm. Aber wie ernst wird sein Appell für eine Umkehr dieser schleichenden Umverteilung von unten nach oben sein können – wenn er denn käme?

Das letzte ist die persönliche Tragik: Wulff muss sich vom Spiegel sagen lassen: „Es ist tragisch, dass Deutschland in dieser schwierigen Zeit keinen unbefangenen Bundespräsidenten hat, der seine Stimme mit Autorität erheben kann.“ Mit eben diesen Worten griff Wulff einst Johannes Rau wegen bankenfinanzierter Privatflüge in dessen Zeit als Ministerpräsident von NRW an. An dieser Marke wird er nun gemessen.

Rau blieb im Amt. Wird Wulff bleiben? Bestimmt, vermutlich aus demselben Grund, aus dem er kam: Weilte Kanzlerin es wollte. Nach zahlreichen Personalpannen und mit einem Koalitionspartner im Todeskampf kann sie das Scheitern ihres Kandidaten überhaupt nicht brauchen und weiß, dass die Kritiker, die sich derzeit auf Wulff konzentrieren, dann wieder auf sie einschießen würde. Nennenswerten Widerstand aus dem Bundespräsidialamt musste sie bisher nie fürchten, das wird sich auch nicht ändern. Warum sollte sie also etwas ändern?

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Angst vor dem Kontrollverlust

Der britische Dramatiker Simon Stephens spricht diese Woche mit der Süddeutschen über seine Kritik am Europa-Kurs der Tories, der die Schlagzeilen in den letzten Tagen beherrschte. Es geht viel um die Angst vor dem „Anderen“ und deren Missbrauch.

Dabei ärgert ihn besonders die scheinheilige Argumentation über mangelnde demokratische Legitimierungen von Entschlüssen der EU – ein Argument, das man hier ja auch ab und zu hört. Stephens‘ Antwort lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Vielleicht ist der Ärmelkanal ja doch nicht endgültig breiter geworden:

Der öffentliche Diskurs über die EU in Großbritannien ist geprägt von dem Widerwillen, sich den Launen und Entscheidungen einer Institution zu beugen, über die wir nur begrenzte demokratische Kontrolle haben – warum sollten wir tun, was Europa uns sagt? Das scheint auch der Grund für die Popularität von Camerons Blockade zu sein. Aber dieselben Leute haben anscheinend keine Probleme mehr damit, sich den Launen und Entscheidungen einer deutlich weniger legitimierten Institution zu beugen, nämlich der sogenannten City.

… Die Heuchelei von Leuten wie Cameron und Johnson ist, dass sie sich jetzt, heimlich oder öffentlich, die Hände reiben und sich über die Krise des Euro freuen. Dabei war es ja nicht der Euro, der die europäischen Volkswirtschaften hat kollabieren lassen, sondern die Art von Bankgeschäften, die diese Politiker selbst so eifrig beschützen.

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Mia san ia?

Das ist mal wieder typisch: Antenne Bayern hat einen Song fabriziert, in dem die Regionen und Highlights des Freistaats besungen werden. Franken und Schwaben werden dabei durchaus erwähnt, aber obwohl verschiedene Sänger auftreten singen sie doch alle in einem moderaten Bayerisch – „dahoam“ und so weiter.

Klingt alles ganz sympathisch und verrät, wie Harmonie in Bayern funktioniert: München gibt den Ton an, und wenn man bei den anderen Stämmen ein paar schöne Federn findet, schmückt man sich mit gern damit.

Kleiner Trost: Bayerns bester Fußballverein spielt in den fränkischen Landesfarben.

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Roman und Realität

Die Süddeutsche schrieb heute anlässlich der erschütternden Hinrichtung von Troy Davis:

Amnesty registrierte 2010 nur in China, dem Iran, Nordkorea und dem Jemen mehr Hinrichtungen als in den Vereinigten Staaten.

Erst vor ein paar Tagen habe ich John Grishams Thriller Das Geständnis, und war erstaunt, wie nahe an der Realität diese erfundenen Handlung liegt. Nicht erfunden ist freilich der gesellschaftliche Diskurs, der in den USA stattfindet und den Grisham nachzeichnet. Etwa die Bedeutung von Todesstrafen für politische Karrieren, aktuell die von Rick Perry in Texas, der gegen Barack Obama antreten will.

In mancher Hinsicht stehen die USA, zumal die USA der Republikaner, in ihrem Verständnis von rächender und strafender Gerechtigkeit den oben genannten Staaten näher als den meisten anderen Nationen. Spuren davon finden sich freilich auch in der Theologie, denn gerade unter den Protagonisten der Todesstrafe finden sich absurderweise viele konservative Christen. Auch diesen traurigen Zwiespalt zeichnet Grisham deutlich nach, ebenso wie die Tatsache, dass hier wieder ein Afroamerikaner das Opfer der Justiz geworden ist.

Weil nicht zu erwarten ist, dass dies in absehbarer Zeit anders wird, lohnt sich die Lektüre von Grishams Buch und natürlich der Nachrichten rund um Troy Davis‘ Tod. Es ist eine realistische Momentaufnahme eines Landes im Wahnzustand und seiner Justiz. Und ein gutes Gegenmittel gegen Knalltüten, die hier – immer angefeuert vom Boulevard, auch das zeichnet Grisham nüchtern ein – ähnliche Forderungen stellen.

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Bücherstapel

Die Ferien sind in vollem Gang, das Tempo wird gemächlich, es ist Zeit und Musse da, die Nase in ein paar gute Bücher zu stecken, zumal ein dicker Knöchel und gelegentlich das Wetter den Bewegungsdrang hemmt. Irgendwie passen sie auch gut zusammen:

Wladimir Kaminer: Meine russischen Nachbarn. Der Mann begeistert durch hintergründigen Humor und den genialen lakonisch-undramatischen Stil. Fremde in Deutschland, von denen man eine Menge lernen kann. Zum Beispiel, sich selbst nicht so schrecklich ernst zu nehmen.

Richard Rohr: Falling Upward. A Spirituality for the Two Halves of Life Die zweite Lebenshälfte, oder besser: -aufgabe. es geht nicht ums Altern im biologische Sinne, sondern um das Wachstum und die Suche nach dem wahren Selbst. Ich muss zwar immer wieder die Gedanken in meine eigene theologische Matrix übersetzen (etwa die eher platonische Vorstellung, es gebe ein „wahres Selbst“, das einem vorgegeben ist, nun entdeckt werden muss und dessen Gunsten man ein falsches Selbst dann ablegt), aber es ist eine mutmachende Anleitung, Brüche und Scheitern nicht als Makel zu betrachten, sondern als unerlässliche Lernerfahrungen.

Michael Frost/Alan Hirsch: Faith of Leap. Embracing a Theology of Risk, Adventure & Courage das missionale Gegenstück zu Rohrs Buch über Spiritualität mit erstaunlich vielen Parallelen, zugleich natürlich den Themen, die bei Frost und Hirsch nie fehlen. Wer die schon kennt, kann das Buch auch recht zügig lesen.

wenn ich also in den nächsten Tagen etwas stiller bin, dann sind diese Autoren schuld 🙂

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