Brian McLaren: Anbetung – vorbei am Eigentlichen? Teil 4: Gott, Sex und “Das Gefühl”

Das Beste zum Schluss. Nach den Fragen zu den Inhalten und zur Stilistik kommt Brian wieder auf die Frage zurück, was genau wir eigentlich erreichen wollen:

Anbetungsleitung, die kein neues Gebiet erkundet (sondern Produkte einer Industrie hervorbringt, deren unausgesprochenes Ziel es ist, 52mal im Jahr ein gutes Gefühl zu liefern) kann uns ungewollt nicht in die Anbetung, sondern in Versuchung führen. Und dann lägen wir daneben.

Ich denke, mit der Anbetung ist es ähnlich wie mit dem, was Forscher über Sexualität entdecken. Eine Fernsehsendung über Evolution zitierte Wissenschaftler zum biologischen Hintergrund von Verliebtheit: Das Hirn scheint so angelegt, dass es in Reaktion auf einen romantischen oder sexuellen Kontrakt zu einem besonders attraktiven Objekt des Begehrens alle möglichen wohltuenden Substanzen ausschüttet. Diese Stoffe lösen im Gehirn eine Mischung aus Euphorie, Obsession und Sehnsucht aus – wesentliche Gefühle für die Erhaltung unserer Spezies.

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Unter der Einwirkung dieses chemischen Cocktails in unserem Gehirn werden wir dazu angeregt, Veränderungen in unserem Leben anzugehen, die wir andernfalls nie wagen würden: Vater und Mutter verlassen, einen besseren Beruf anstreben, die Freuden persönlicher Körperpflege entdecken, wenigstens ein bisschen weniger mit uns selbst beschäftigt zu sein. (In The Road Less Travelled beschreibt M. Scott Peck Verliebtsein als Zustand vorübergehenden Wahnsinns, der stark genug sein und lange genug dauern muss, um uns zu Verpflichtungen zu verleiten, die wir bei klarem Verstand nie eingehen würden.)

Doch genauso wesentlich für das Überleben der Spezies ist das Ende des Verliebtseins. Die Wirkung der Chemikalien lässt allmählich nach, erklärt der Wissenschaftler, so dass ein Paar sich niederlässt, sich wieder den Dingen des Lebens zuwendet und verantwortlich die Kinder großzieht, die aus ihrer Leidenschaft empfangen wurden. Leidenschaft, Obsession und Euphorie müssen Platz machen für harte Arbeit, den Lebensunterhalt und die Verantwortung, sagte der Wissenschaftler.

Ein Problem entsteht, wenn ein Mensch süchtig wird nach der Euphorie des Verliebtseins: Wenn es langsam abblättert, verlieren sie das Interesse an ihrem Partner und gehen zum nächsten Partner, um eine Wiederholung der Verliebtheitserfahrung zu finden – die wieder unvermeidlich verblasst. Solche Menschen verwechseln das notwendige Nachlassen von Verliebtsein mit einer gestörten Beziehung, als schließen sie den vorgesehenen Prozess (Verliebtheit, Bindung, Verpflichtung, Verantwortung, Geben und Nehmen, Kindererziehung) kurz, indem sie weitergehen und ein neues High suchen. Die daraus resultierende Sucht, sagt der Wissenschaftler, macht ebenso abhängig wie Crack, Heroin, Alkohol – und vielleicht auch so zerstörerisch.

Was haben diese Studien über Sex also mit Anbetung zu tun? Nur so viel: Ich frage mich, wie viele von uns eine Art Sucht entwickeln nach einem geistlichen Gefühl, einer spirituellen Verliebtheit in Gott, einer schönen Sache, einer nötigen Sache, aber einer Sache, die nicht die Hauptsache ist? Und ich frage mich, ob wir Lobpreisleiter nicht unseren Teil zu dieser Sucht beitragen – unbewusst co-abhängig gegenüber Menschen, die süchtig nach spiritueller Vernarrtheit sind, Dealer einer bestimmten Art von Hochgefühl.

Ich weiß dass es in meiner Stadt vagabundierende „Gemeinden“ von Menschen gibt, die von Gemeinde zu Gemeinde wandern; wo immer der größte Knall spürbar ist, da kommen sie. Sie haben christliche Worte dafür – „die Salbung” vielleicht, oder „Intime Gemeinschaft mit Gott“ oder „in Gottes Gegenwart sein” – aber manchmal frage ich mich im Stillen, ob sie nicht einfach süchtig sind nach geistlicher Benebelung. Wessen Predigten geben ihnen Das Gefühl? Welcher Lobpreisleiter, welche Lieder, welche Instrumente, welche Sänger(innen) helfen ihnen, Es zu bekommen? Welche Gottesdienstordnung, und wie viele Lieder in welcher Reihenfolge, welche Kombination von Laut und Leise oder von Lenti und Allegretti, welches Muster eines emotionalen Verlaufs wird den Leuten helfen, Das Gefühl zu spüren?

Manchmal frage ich mich, ob zu viele von uns davon ausgehen, Das Gefühl sei die Hauptsache – schlimmer noch: die einzige Sache – worum es beim Christsein geht.

Moment mal, sagt Ihr: Was könnte besser sein als eine innige Beziehung zu Gott, tiefe Anbetung, in Gottes Gegenwart zu sein oder Gott zu erfahren (Phrasen, die normalerweise Das Gefühl beschreiben)?

Mein erster Impuls wäre, Euch zu antworten, „nichts könnte besser sein!“ Aber in meinem Hinterkopf höre ich eine kleine Stimme murmeln: Also da wäre immer noch Gehorsam … und Dienen … und Treue … und Demut… Aber ich bin mir nicht immer sicher, wessen Stimme das ist, Gottes oder meine eigene.

Wenigstens dies weiß ich: in den vielen Jahren, in denen ich Gottesdienste vorbereitet und geleitet habe, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass Gott sich viel weniger für Das Gefühl interessiert als wir. Tatsächlich scheint Gott es manchmal richtig zu missachten. Wäre es nämlich so wichtig, dann könnte er das Baby davon abhalten zu schreien, die Deckenlampe nicht bersten, die Gitarrensaite nicht reißen oder die Bauchkrämpfe und den Feueralarm nicht im unpassendsten Augenblick losgehen lassen. Er könnte unsere Gebete (die wir so inbrünstig beten wie ein Alkoholiker, der um einen Drink fleht) treuer erhören, so dass unsere Gottesdienste Das Gefühl anhaltender und kräftiger hergeben.

Die Erfahrung lässt mich daran zweifeln, dass es Gott so um Das Gefühl geht wie uns. Ich glaube, in der Anbetung gibt es, wie in der Sexualität, Phasen. Ja, Verliebtsein ist wunderbar. Ja, die Euphorie und Ekstase ist ein wunderbares Geschenk, das ich mehr genießen durfte, als ich verdiene. Aber Anbetung und Nachfolge haben mit Dem Gefühl genauso wenig zu tun, wie Elternschaft und Erwachsensein damit zu tun haben, den euphorischen Hirncocktail endlos zu bewahren. Ja, ich habe oft im Gottesdienst gestanden und gebetet oder gedacht: Es läuft nicht, Gott! Komm, heiliger Geist! Lass deine Gegenwart offenbar werden! Und wenn ich je eine Antwort hören konnte, dann sagte sie nur: Nein, tut mir leid. Darum geht es für dich und mich im Augenblick nicht. Ja, lobe mich. Ja, bete mich an – aber nicht um dich ein eine „nur du, nur du”-Euphorie hineinzusteigern.

Und ich höre auch diese Frage oft: Wenn du Das Gefühl nie wieder bekämst, würdest du mich trotzdem anbeten – um meinetwillen und nicht degen Des Gefühls?

Wenn Ihr Lobpreisleiter seid, müsst Ihr Euch sich unweigerlich diesen Fragen stellen, und mit ihnen dieser Entscheidung: Wenn nach dem Gottesdienst Gemeindeglieder ankommen oder e-mails und anonyme Notizen schicken („Ich habe die Salbung hier nicht mehr so gespürt wie früher … Ich denke, der Geist hat unseren Gottesdienst verlassen … ich wünschte, wir hätten einen Lobpreis wir drüben in Jonesville“) – wenn Ihr solche Reaktionen bekommt, werdet Ihr, die fürsorglichen und aufrichtigen Lobpreisleiter, Euch fragen: Ist das meine Schuld? Enttäusche ich Gott und diese Gemeinde? Was kann ich tun?

Und so seid Ihr nächste Woche versucht, etwas nachzuhelfen. Ihr wisst, wie das ist – Du drückst ein bisschen, täuschst Gefühle vor oder bläst sie auf. Du gibst Dich leidenschaftlicher, als Du eigentlich bist, schiebst fester als Du solltest, benutzt vielleicht Schuldgefühle, um Leute etwas lauter singen und rufen zu lassen. Daran ist doch nichts falsch, oder? Außer, dass der Grat schmal ist zwischen Schauspieler, Nachahmer, Einheizer – und Heuchler. Und wenn Du dieser Versuchung erfolgreich widerstehst, wirst Du vor einer anderen stehen: Depression, Entmutigung, Selbstvorwürfe.

Aber fasset Mut! Es ist vielleicht alles gar nicht Eure Schuld – vielleicht ist das Fehlen Des Gefühls sogar ein wunderbares Geschenk, eine rettende Gnade, ein notwendiges Zwischenspiel, damit Ihr und Eure Gemeinde nicht süchtig nach dem Hochgefühl werdet. Vielleicht ist das Fehlen Des Gefühls ein notwendiges „Nein” von Gott, damit Ihr vom Hochgefühl zu anderen Dingen gelangt – Gehorsam etwa, Demut, Ausdauer, Dienen, Reife.

Vielleicht liegen wir mit dem geistlichen Vernarrtsein in Gott daneben – knapp, aber eben doch daneben. Vielleicht geht es in öffentlicher Anbetung um mehr, als Das Gefühl herzustellen. Vielleicht sind Gottesdienste eine Art Startbahn oder Startrampe, die uns inspirieren, zu einer ganzheitlichen Anbetung aufzusteigen, die sich in der Lyrik des Alltagslebens ausdrückt, im Rhythmus von Arbeit und Familie, Ruhe und Spiel, durch die Musik der Freundlichkeit gegenüber Fremden, das Ringen um Gerechtigkeit und Taten nachbarschaftlicher Barmherzigkeit. Vielleicht ist der inspirierendste Lobpreis der, der uns inspiriert, dann noch gut zu leben, wenn die Verstärker abgeschaltet sind.

Mit freundlicher Genehmigung übersetzt aus: Brian McLaren/Tony Campolo, Adventures In Missing The Point. How The Culture-Controlled Church Neutered The Gospel, Grand Rapids 2003, S. 202-214

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8 Antworten auf „Brian McLaren: Anbetung – vorbei am Eigentlichen? Teil 4: Gott, Sex und “Das Gefühl”“

  1. „in die Anbetung gehen“ oder „Lobpreis machen“ … wird hier nicht „Anbetung/Lobpreis“ total eingeschränkt in seiner Bandbreite?

    … und was ist mit den Worten von Paulus „… damit ihr etwas SEID zum Lob seiner Herrlichkeit“? Anbetung/Lobpreis, das unser ganzes SEIN … unser gesamtes Leben umfasst! Anbetung, die sich durch den Alltag zieht, im Alltag gelebt wird und nicht nur an speziellen Tagen in der Woche („ich freue mich schon auf die Anbetungszeiten im Sonntagsgottesdienst“).

    Anbetung die ausdrückt „Gott, du bist spitze!“, „Gott, du bist einmalig!“, „Gott, du bist …“ … und deshalb vertraue ich IHM mein gesamtes Leben an! … Anbetung, die mit meinem ganzen Leben ausdrückt „Gott, du bist …“ … ja sogar bis hinein in die alltäglichsten Dinge … und bis hinein in die leidvollsten Erfahrungen meines Alltags.

    guido

  2. Klingt als könne man diese „Sucht“ durch „Moral“ bzw. eine kräftige „Entscheidung“ ausmerzen.
    Aber auch die christlichste Moral hilft nicht. Bestenfalls verlagert sich die Sucht. Das wäre dann wie bei dem Raucher, der nun nicht mehr raucht, aber dafür tütenweise Gummibärchen in sich reinstopft…

    Ich bekenne, ich bin in gewissem Masse süchtig nach diesem „Gefühl der Gegenwart Gottes“.
    Aber kann mir Brian helfen? Ist er etwa frei von jeder Art v. Sucht?
    Man weiß es nicht.
    Außer der Moralsuppe bietet der Text wenig. Zumindest keine nachvollziehbare Lösung. Die Frage ist doch immer, wie kriegen wir das „innere Loch“ weg? Brian hat vielleicht keins mehr, aber ich schon und ich vermute, der Mehrheit der Christen geht es ähnlich. Deswegen sind wir ja süchtig…
    Ich dachte immer, das Loch geht weg, wenn ich immer mehr „Füllung“ in Form von „Begegnungen mit Gott“ reinschmeiße. Aber zur Zeit denke ich drüber nach, ob vielleicht Watchmann Nee recht haben könnte. Er schreibt in dem Buch „Das normale Christenleben“ das die Freiheit erst anfängt, wenn man dieses „Ich-bin-mit- Jesus-gestorben“ erlebt hat. Er meint: Die Sucht verschwindet erst, wenn das „Selbst“ stirbt. Er meint, wernn aus dem fleischlichen Christen ein geistlicher Christ geworden ist, dann wäre Freiheit da und damit das Ende aller Sucht. Ich hab das Buch erst angefangen, deswegen kann ich nicht mehr dazu sagen. Aber der Anfang scheint mir verheisungsvoll

    Ich hab das noch nie so richig kapiert – die ganzen Römeraussagen etc… Und wer unter all den Brians, Johns, Kenneth´s und wie sie alle heißen, kann wirklich erklären, wie das ist mit dem Gestorbensein und mit dem „Wandel im Geist“? Und haben sie es auch erlebt?

    Ich hab inzwischen viele verschiedene Autoren gelesen – aktuelle und alte bis uralte… und mir scheint, an die „Alten“ (z.B. eben W. Nee oder Leute wie Witness Lee, Andrew Murray, Reese Howells, Bruder Lorenz von der Auferstehung (uralt), John Hyde…) bieten wesentlich mehr Hilfe als die Autoren von heute.

  3. Ich bin mir nicht sicher, ob das „Mit-Christus-gestorben-sein“ sich in unsere Kategorien von individueller Erfahrung und Erleben fügen lässt. Klar bieten die genannten Mystiker da konkrete Ansätze, aber eben auch manchmal recht einseitige, indem sie wieder die Innerlichkeit betonen. Wer tot ist, fühlt und erlebt ja gerade nichts…

    Vielleicht heißt „Mit-Christus- gestorben-sein“, dass man sich im positiven Sinn einfach mal vergessen kann, und zwar nicht nur während man sich in einem bewussten Akt in Gott versenkt, sondern während man mit anderen zusammen und für andere Dinge tut, die unsere Welt zu Guten verändern.

    Und so, wie es Zeit und Geduld erfordert, den Weg über die Innerlichkeit zu entwickeln, so muss man das auch für die anderen Wege einplanen. Aber in seiner Konkretion christlichen Lebens in den paränetischen Teilen seiner Briefe (nach dem großen „deshalb“ in der Mitte) spricht Paulus viel mehr über das gemeinsame Leben (Dienst, Liebe, Gastfreundschaft, Barmherzigkeit, Vergebung, Fürbitte) als über Anleitungen zur Reise nach innen.

  4. Ich denke nicht, daß „mit Christus gestorben zu sein“ etwas mit einer Reise nach innen oder einer mystischen Versenkung ins Innere zu tun hat, im Gegenteil! Paulus schreibt ja grad nach der Passage mit dem Sterben mit Christus in Römer 6, unsere Glieder Gott als Werkzeuge der Gerechtigkeit zur Verfügung zu stellen. Erst dann ist die wahre Wendung nach außen, zu den anderen möglich meines Erachtens.
    Der stete Unabhängigkeitsmotivator in uns muß endlich mal zum Schweigen kommen, das ist das Sterben des „Leibes der Sünde“, kennen wir Gott noch nicht, sorgt er dafür, daß wir Oberwasser, Lustgewinn, Identität und Integrität der Persönlichkeit möglichst lang aufrecht erhalten, kennen wir dann Gott, zieht er sein frommes Mäntelchen an und mischt weiter fleißig mit, mit Gewinn an selbst gemachter Bestätigung, Identität und Wohlfühlfaktor, nun halt im christlichen Sektor.
    Ein Lobpreisteam ist eben nicht die Selbsthilfegruppe der musisch begabten und ambitionierten „Könner“ einer Gemeinde (aller Gabentests zum Trotz …), und die Lobpreiszeit ist eben nicht die emotionale Auftankphase ganzheitlich Bedürftiger beim kreativen Arrangement der Rührseeligkeiten. Denn dies ist letztlich alles aus dem Blick nach Innen, auf diese inneren Impulse des Motivators begründet. Geht der Blick endlich mal nach außen, dann kann auch Gott durch unsere Glieder auf die Menschen sehen und handeln.

  5. Und wenn die innige Nähe zu Gott mich einem Gott nahebringt, der sich mir offenbart als einen Vater-Gott der um mich wirbt, ihm und seiner Güte zu vertrauen (freier Wille) dass er mich entwöhnen dürfte?

    Wie Paulus schrieb, dass uns nichts trennen könne von Seiner Liebe, werder Hunger noch Blösse weder Verfolgung , Trübsal, Gefahr, Schwert etc etc

    Das tönt nicht gerade romantisch…

    Ein tieferes Verbundensein als die Gefühlseben uns bieten kann ist gemeint mit intimer Beziehung. Ich glaube, dass der Vater intensivst daran arbeitet dass wir genug vertrauen könnten um einer Entzugskur einzuwilligen.

    Das täglich geschlachtet werden wie Schlachtschafe , der ununterbrochene Prozess des abbauens unseres Schmerzleibes (Falscher Selbstschutz, Leib der Sünde), ein Prozess uns unseres heidnischen Götzenverständnisses was Gott uns bieten sollte zu entledigen.

    Er ist anders: Er fordert uns (am Kreuz) heraus, Stärke darin zu gewinnen indem wir diesen Leib der Sünde ihm dem Vater ausliefern. Selbst wenn es weh tut und uns alles kostet. Also kein Evangelium für Softgefühlsüchtige und Wohlfühlweicheier.

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