Richard Sennett macht sich in seinem Buch Autorität Gedanken über allerlei merkwürdige Machtverhältnisse unter Menschen und die Vorstellungen, die ihnen zugrunde liegen. Dabei wirft er eine Reihe interessanter Fragen auf, zum Beispiel die nach der moralischen Bedeutung der Opfer:
Nie war der Status des Opfers höher als heute, und nie barg er größere Gefahren in sich. In der christlichen Theologie war Christus das Opfer der Menschen, aber er wurde durch sein Leiden nicht erhöht. […] Auch die Armen dieser Welt sind für die christliche Theologie keine Helden; sie leiden, und sie werden erlöst werden. Ihre Unterdrücker sind keine Ungeheuer, sondern Menschen. Diese christliche Vorstellung vom nichtheroischen Opfer verblasst im Zeitalter der Aufklärung, und es tritt eine neues Bild vom Leidenden an ihre Stelle. Leidensfähigkeit wird zu einem Zeichen von Mut; die Massen werden heroisch; ihr Leiden wird zum Maßstab sozialer Ungerechtigkeit. Ihre Unterdrücker haben kein Mitleid verdient, jenes Mitleid, dass nach christlicher Auffassung die ganze aus dem Zustand der Gnade gefallene Menschheit verdient hat; die irdischen Unterdrücker sind nur noch Feinde, die es zu vernichten gilt.
[…] Noch weitere Verbreitung fand die in der romantischen Ära entstandene und bis heute fortwirkende Vorstellung, dass der Mensch moralisch nur dann legitimiert sei, wenn er leide. Letztlich rührt die Legitimität, die das Leiden gewährt, aus einer Verletzung, die dem Menschen von einem anderen oder von »der Umwelt« zugefügt wurde.
[…] Die Erhöhung des Opfers entwertet das gewöhnliche bürgerliche Leben. »Wenn man bedenkt, wie sie in Harlem leben…« – aber wir leben nicht in Harlem. Die bürgerliche Moral wird zur Stellvertretermoral; das Bürgertum tritt für die Sache der Unterdrückten ein, macht sich zum Sprecher derer, die nicht selbst sprechen können. Die Unterdrückten in dieser Weise zu missbrauchen, um den eigenen moralischen Bestrebungen einen Sinn zu geben, ist unaufrichtig. Selbst wer das Handeln eines Saint-Just ablehnt, der sich das Leiden der unglücklichen Massen als Vorwand für sein Machtstreben zunutze machte, begeht im Grunde die gleiche Sünde, wenn er die Unterdrückten als »Vorbilder« hinstellt, als Menschen, die es »wirklich« mit dem Leben zu tun haben, deren Dasein »substanzieller« ist als das eigene. Das ist psychologischer Kannibalismus.
Das ganze führt schließlich dazu, dass sich Menschen immer intensiver mit den eigenen Verletzungen befassen und dem, was ihnen vorenthalten wurde, um der eigenen Stimme dadurch Gewicht zu verleihen, also von anderen ernst genommen zu werden.
Gute Beobachtungen. Und gut geschrieben.
Allerdings zwei konterkarierende Beobachtungen von mir:
Im Deutschen wird „Opfer“ zumindest in manchem Milieu immer mehr zum Schimpfwort. So wird dem, der andern zum Opfer fiel, nun auch noch die Verachtung zu Teil. Das Opfer wird nicht mehr idealisiert, sondern verachtet.
Manche Opfer von Missbrauch verzichten inzwischen bewusst auf den Begriff und nennen sich „Missbrauchsüberlebende“.
Ich weiß nicht, ob mir das besser gefällt als die Heroisierung des Opfers.
Das Opfersein wird nicht mehr identitätsstiftend. Aber oft fehlt dann ganz etwas Identitätsstiftendes.
Wie könnte den Opfern von Gewalt Recht geschehen, ohne in eine dieser beiden Fallen zu tappen?
Ja, „Du Opfa“ liegt wieder auf einer anderen Ebene. Sprache ist doch sehr wandelbar, und hier wird statt Solidarität nun Verachtung ausgedrückt. Allerdings wohl nur für die, die sich in ihre Opferrolle widerstandslos fügen. Ein bisschen wie Nietzsches Sklavenmoral, oder? Man muss es wahrscheinlich als Protest gegen bürgerliche Werte lesen.
Sennett stellt ja nicht die Solidarität in Frage, sondern deren Missbrauch und die Verklärung der Opferrolle. Wo Menschen Opfer von Unrecht waren, darf man das selbstverständlich sagen und kritisieren. Sennett sieht die Lösung darin, die Verschränkung der Rollen von Herren und Sklaven, Tätern und Opfern aufmerksamer zu betrachten. Das hat er bei Hegel gelernt.