Adam, wer bist du?

In den letzten Wochen haben etliche Knochenfunde neue Erkenntnisse über die komplexe Entwicklungsgeschichte der Menschheit geliefert. Die Funde von „homo?“ und „x-woman“ erinnern wieder einmal an die Schwierigkeit, an der wörtlichen, d.h. „historischen“ Auffassung der biblischen Urgeschichte aus Genesis 1-11 festzuhalten, wie sie vor allem seit Augustinus die westliche Theologie geprägt hat. Wenn man Paläontologie und evolutionäre Biologie nicht als kollektive Verschwörung gegen die Wahrheit oder gigantischen Irrtum verstehen will (manche tun das freilich…), muss man neue Wege suchen. Wie das frühere Generationen das auch recht unbefangen getan haben, wenn sie den Glauben in den Kategorien ihrer Weltsicht formulierten.

Exegeten haben längst entdeckt: Innerhalb des Alten Testaments kann Genesis 2-3 mit der Vertreibung aus dem Paradies auch als Gegenstück zum Exil gelesen werden, dann geht es darin um Israel, nicht die ganze Menschheit und es ist auch kein Wunder mehr, dass in Genesis 4 andere Menschen auftauchen. Der Sündenfall ist innerhalb des AT also eine späte Erscheinung. Er spielt im restlichen AT keine Rolle und ist auch kein Thema des apostolischen oder nizänischen Bekenntnisses. In CA II dagegen wird er vorausgesetzt – das wäre neu zu interpretieren.

Wenn also Adam und Eva nicht das eine universale Elternpaar aller Menschen waren, wenn es keinen idealen „Urstand“ einer Welt ohne Tod und damit verbunden einer „unverdorbenen“ menschlichen „Natur“ gab, und damit auch keinen einzelnen Punkt, an dem der Bruch und der Absturz sich ereignete – wie können wir heute von Gott dem Schöpfer und dem Menschen als Geschöpf – und als Sünder – reden? Das stellt die Frage nach einer Schöpfung in 6 Tagen ja von der Tragweite her mächtig in den Schatten: Die klassische Erbsündenlehre, die eine „Übertragung“ der Ursünde seit Adam durch Zeugung annimmt und sie damit folgenschwer im Bereich der Körperlichkeit sieht, ist aus heutiger Sicht einfach unverständlich.

Viele Begriffe, die dem Welt- und Menschenbild vor 1.500 Jahren entsprechen, haben heute aus vielerlei Gründen ihre Plausibilität eingebüßt. Die antike Vorstellung einer immer gleich bleibenden menschlichen „Natur“ ist heute durch eine dynamische und sich differenzierende Entwicklung überholt – die Kategorie der Differenz wird wichtiger, die der „Gleichheit“ tritt zurück. Neurobiologen denken heute das Verhältnis von Leib und Seele/Geist ganz anders als das von Platon bis Descartes noch der Fall war. LeRon Shults geht auf diese und andere Fragen in dem enorm spannenden Buch Christology and Science ein. Er analysiert sorgfältig die Begrifflichkeit und Gedankenwelt, in der sich die Lehre vom Sündenfall entwickelt hat. Dazu gehören die „Fakultätenpsychologie“ (wo der immateriellen Psyche bestimmte unterscheidbare Funktionen wie Wille, Verstand etc. zugeschrieben werden), das antike Verständnis von Leib und Seele und einiges mehr. Es geht Shults (und vielen anderen) nicht darum, die biblische Autorität zu unterhöhlen und vor den Wissenschaften zu kapitulieren, sondern darum, die Kernaussagen über das Verhältnis von Gott und Mensch unter den veränderten Bedingungen heutigen Wissens neu und so stimmig wie möglich zu formulieren:

Wir können die theologischen Aussagen der ersten Teile des Buches Genesis (…) akzeptieren, ohne die antike wissenschaftliche Kosmogonie (…) der ursprünglichen Autoren und Redaktoren zu übernehmen. (S. 43)

Im alten Orient hat man Verbundenheit zwischen Sippen und gemeinsame Eigenschaften von Menschen bevorzugt durch den Verweis auf eine gemeinsame Abstammung erklärt. Das ist heute nicht mehr unmittelbar einleuchtend.

Was also, wenn das „Paradies“ im Sinne von umfassendem Heilwerden und gerechter Beziehungen, der Abwesenheit von Leid und Tod, erst vor uns liegt? Wir müssten Genesis 2-3 dazu rückwärts lesen: Als Menschen sind wir mit der Sehnsucht geschaffen, das endliche Leben in dieser begrenzten Welt zu transzendieren. Und in dieser Hinsicht wollen wir „sein wie Gott“. Der „Sündenfall“ besteht darin, dieses Ziel aus eigener Kraft erreichen zu wollen, statt es aus Gottes Hand als Geschenk zu empfangen. In Jesus sehen wir das Gegenbild dieser Lebensweise, und erst hier zeigt sich, was wahres Menschsein bedeutet: Statt diese Bestimmung mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, kann er loslassen und wird genau deswegen von Gott auferweckt und erhöht – verwandelt in einen Zustand der Herrlichkeit, der uns auch verheißen ist in ihm. Er macht also nicht einfach etwas rückgängig, was Adam verbockt hat.

Heute könnte man das so lesen: Wir alle „sind“ Adam/Eva, und in Christus steht uns der Weg zu einem erfüllten Leben in anderen Dimensionen als den uns vertrauten offen. Damit wäre nebenbei auch das Problem vom Tisch, ob es gerecht ist, wenn Gott aufgrund des Falls der ersten Menschen auch alle anderen im Zustand der Sünde lässt bzw. die Schuld allen anlastet und alle unter Strafe stellt. Oder die Frage, die schon Augustinus nicht so recht beantworten konnte, wie aus diesem Idealzustand überhaupt ein so schwerer Fall geschehen konnte.

Jaroslav Pelikan hat gezeigt, dass die augustinische Vorstellung des epochalen Falls aus dem idealen „Urstand“ eine Reaktion auf die christologische Lehrbildung in der alten Kirche war. Dass Gott zur Rettung der Welt bis zum Äußersten ging, musste doch einen gewichtigen Grund haben. Soteriologie prägt die Anthropologie. Zarte Ansätze in eine andere Richtung findet Shults bei Theologen wie Irenäus, die nicht den Fall als Anlass oder Ursache für die Menschwerdung des Sohnes ansehen, sondern „supralapsarisch“ von der Schöpfung einer unvollkommenen Menschheit ausgehen, die von vornherein auf die Menschwerdung hin angelegt war. Das Kommen Christi ist also kein Reparaturunternehmen. Sondern es eröffnet mit der Auferstehung allen Menschen eine Perspektive über den biologischen Verfall hinaus. Für eine radikale Rekonstruktion der Christologie und Anthropologie, die Shults für nötig hält, haben wir, wie er sagt, weniger Zeit als die 400 Jahre, die zur Verarbeitung der kopernikanischen Wende nötig waren.

Spannend! Wer sich für die Materie interessiert, kann auf BioLogos weiterlesen, dort finden sich viele interessante Artikel von Theologen und Naturwissenschaftlern. Dort finden sich die folgenden zwei Videos und ein Blogpost von Peter Enns zu dieser Frage, ob man das heute noch so wörtlich nehmen muss, und ob man sich in diesem Fall – wie es immer wieder geschieht – auf Paulus berufen kann:


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24 Antworten auf „Adam, wer bist du?“

  1. Hmm, ich halte die motivischen Parallelen von Gen 2-3 mit der Exoduserzählung für kaum hinreichend, Adam und Eva zu so etwas wie den Erzeltern Israels zu stilisieren: diese Schlußfolgerung erscheint sehr gewollt und geht über das, was man methodisch sauber exegetisch erreichen kann, deutlich hinaus, zumal man für diese Parallelen auch ganz andere Beweggründe anführen kann und darüber hinaus der weitere Verlauf von Genesis völlig aus dem Rahmen fiele. Auch im Judentum gibt es meines Wissens kaum Ansätze, Gen 2-3 dahingehend auszulegen.

    Bei aller Berechtigung dafür, die enge Verbindung der universalen biblischen Botschaft mit spezifischen und grundsätzlich wandelbaren Weltbildern zu problematisieren: das entscheidende Ärgernis des „Sündenfalls“ wird doch nicht dadurch entschärft oder auch nur einen Deut verständlicher, indem man es sozusagen aus dem Korsett eines einmaligen urzeitlichen Geschehens, das eine kausale Schuldkette verursacht, herausholt und als Beschreibung der menschlichen Natur schlechthin versteht oder durch die exklusive Zuschreibung an Israel für irrelevant erklärt. Erstens bleibt der mythologische Charakter der Erzählung in beiden Fällen bestehen, zweitens ist das eigentliche Problem doch völlig unberührt: woher die Neigung des Menschen, sein Leben aus eigener Kraft und damit in Auflehnung Gott gegenüber gestalten und erhalten zu wollen? Abgesehen davon, daß auch Paulus im Christusgeschehen keineswegs nur einen „Reparaturvorgang“ sieht, der ohne den Sündenfall vermeidbar gewesen wäre (dazu müßte man den Römerbrief z.B. schon sehr gegen den Strich lesen), stellt sich das Problem der Erbsünde für ihn auch nicht so dar, daß jeder Mensch aufgrund des Sündenfalls gar nicht anders könnte, als zu sündigen: gerade am Römerbrief läßt sich zeigen, daß Paulus die Möglichkeit, nicht zu sündigen, für jeden Menschen in Betracht zieht, dabei aber zu dem Schluß kommt, daß faktisch jeder Mensch der Neigung zur Sünde unterliegt. Der Sündenfall des ersten Menschenpaares wird so für Paulus zu einem Deutungsmuster und eben nicht zu einem rein faktisch-kausalen, ursächlichen Geschehen.

    1. @Tobias: das Problem (Kausalkette und „Reparatur“) liegt viel mehr bei Augustinus‘ Paulusinterpretation als bei Paulus selbst. Peter Enns (hier) und NT Wright erklären m.E. ganz plausibel, wie Gen 2-3 für Israel im Exil (nicht Exodus!) und danach wohl geklungen hat, scheinbar ist diese Auslegungstradition bei uns aber kaum bekannt.

      Das Ärgernis des Sündenfalls bleibt, aber manche Theorien haben das ja verschlimmert oder wirken heute lächerlich. Wenn man davon wegkommt, kann man das Thema Sünde vielleicht konstruktiver in den Blick bekommen.

    2. Zum Glück schlägt das hierzulande keine so großen Wellen, aber in den USA kann man für solche Aussagen seinen Job verlieren, wie Prof. Bruce Waltke hier

  2. @Peter:

    Wie Gen 2-3 für Israel im Exil (meine Erwähnung des Exodus ist dem Artikel auf BioLogos geschuldet, der den Exodus ja als Vergleichsmotiv heranzieht – in der Tat ging es mir aber natürlich grundsätzlich um die Exilssituation), scheint mir einleuchtend, und daß das Judentum den Text so auch liest und gelesen hat, ist klar. Aber ich würde schon einen großen Unterschied machen zwischen einer bestimmten Interpretation eines Textes, oder sagen wir besser einer Applikation eines Textes für eine bestimmte Situation, und der grundsätzlichen Aussageintention desselben. Bei letzterem würde m.E. schon der ganze Aufbau von Genesis der These widersprechen, Adam und Eva seien tatsächlich die Erzeltern Israels, nicht der Menschheit insgesamt. Letztlich würde das auch mit der Bundestheologie des Alten Testaments kollidieren. Auf diesen Unterschied geht mir der BioLogos-Artikel nicht ausreichend ein, er scheint eher zu implizieren, daß es sich hier nicht um eine Applikation, sondern um eine echte Textintention handelt.

    Recht hast Du natürlich, daß vor allem Augustins Paulusinterpretation in Blick auf die Erbsündenlehre problematisch war und ist – und daß die Tradition darauf so manchen theologischen Humbug produziert hat, ist auch traurige Wahrheit. Mein Impetus zum konstruktiveren Verständnis von Sünde ist deshalb eher das „ad fontes!“ als das Überbordwerfen von scheinbar veralteten Weltbildern.

  3. @ Tobias: Ich denke, „ad fontes“ geht nur, wenn wir das in unseren heutigen Kontext von Anthropologie und Kosmologie sinnvoll integrieren können. Und der ist eben gravierend anders. Für Paulus war es in mancher Hinsicht eben unproblematischer, von Adam und Eva zu reden, auch wenn man damals vielleicht nicht in dem Sinne „historisch“ dachte wie wir heute.

    Bundestheologie berührt das m.E. gar nicht so sehr, die beginnt für mich erst so richtig mit Abraham.

  4. @Peter:

    „Bundestheologie berührt das m.E. gar nicht so sehr, die beginnt für mich erst so richtig mit Abraham.“ – Eben! Deshalb macht es auch keinen Sinn, Gen 2-3 die Aussageintention, von Adam und Eva als Erzeltern Israels zu sprechen, zuzuschreiben. Die Existenz Israels ist im AT durchweg per definitionem mit dem Bundesschluß verbunden.

    Natürlich muß das „ad fontes!“ so geschehen, daß es verständlich wird. Mir leuchtet nur nicht ein, warum heutige Anthropologie (bei der Kosmologie wäre das ungleich schwerer – ist aber auch nicht so wichtig, weil das AT m.E. weniger feste kosmologische als anthropologische Prämissen hat) nicht auch von biblischer Anthroplogie geprägt werden könnte. Es könnte ja immerhin sein, daß eine Rückbesinnung auf „die“ biblische Anthropologie eine Bereicherung und befreiende Korrektur für heutige Selbstverständnisse wäre. Ich traue das der Bibel zu. Und ich glaube eben nicht, daß sich, wie das manche Theologen so optimistisch von sich geben, „Form“ und „Inhalt“ in der Bibel in vielen Fällen so trennen lassen, daß die Botschaft nicht unter der Hand eben doch verändert wird. Natürlich wird man auch an Stellen kommen, wo es nicht ohne Brüche geht. Ich habe nur den Eindruck, daß solche Erfahrungen und diese „Wir müssen die Botschaft innerhalb unseres heutigen Kontextes verständlich machen“ allzu oft als Entschuldigung dafür herhalten muß, z.B. gar nicht mehr so ernsthaft exegetisch zu arbeiten, wie es möglich wäre. Wir könnten ja immerhin zu der Entdeckung gelangen, daß vieles, was uns in der Bibel auf den ersten Blick fremd erscheinen mag, gar nicht so fremd ist und durchaus verstanden werden kann, ohne gleich alles mögliche über den Haufen zu werfen. Unser heutiger Kontext ist in vielerlei Hinsicht eben auch Konstrukt, in den wenigsten Fällen unhintergehbare Tatsache. An Konstrukten aber kann man basteln.

  5. Sorry für die Fehler: es sollte heißen „Ich habe nur den Eindruck, daß solche Erfahrungen und dieses “Wir müssen die Botschaft innerhalb unseres heutigen Kontextes verständlich machen” allzu oft als Entschuldigung dafür herhalten müssen, z.B. gar nicht mehr so ernsthaft exegetisch zu arbeiten, wie es möglich wäre.“

  6. @Tobias: Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst. Gen 2-3 jetzt doch im modernen Sinn als „historisch“ verstehen und wörtlich nehmen? Wenn Du es symbolisch oder mythisch verstehst, kommst Du gar nicht herum um einen Dialog mit den Wissenschaften, ohne deren Aussagen freilich gleich Letztgültigkeit zuzugestehen. Wenn Du es nicht tust, gibt es kaum noch Chancen auf Verständigung – nicht nur mit den Wissenschaftlern, sondern mit ganz normalen Menschen, die das antike Weltbild nicht teilen.

    Irgendwie muss doch die Theologie der Tatsache Rechnung tragen, dass wir heute viele Dinge anders erklären und damit auch Erfolg haben (z.B. Medizin oder Physik)? Genau das macht doch gute Exegese aus, dass sie das schafft.

    Aber wenn es dich interessiert, lies doch mal bei Shults rein.

  7. @Peter:

    Nein, natürlich will ich Gen 2-3 nicht „historisch“ verstehen – ich habe ja schon oben geschrieben, daß z.B. bei Paulus, obwohl er selbst den Text höchstwahrscheinlich historisch versteht, das gar nicht der entscheidende Punkt für sein Sündenverständnis und die Adam-Christus-Typologie ist.

    Dialog mit den Wissenschaften: kein Thema, selbstverständlich! Ursprünglich ging es ja darum, daß ich es für sehr konstruiert halte, Gen 2-3 die Intention zu unterstellen, die der Artikel auf BioLogos nun einmal zuschreibt. Der andere Punkt ist, daß man m.E. nur selten ein so großes Trara machen und „Paradigmenwechsel!“ hier und dort rufen muß, wenn es z.B. um die Sündenfallgeschichte geht. Ich glaube, daß so gut wie jeder heutige Leser der Bibel durchaus noch versteht, was in Gen 2-3 über den Menschen ausgesagt wird, und dieses Menschenbild in Blick auf sich selbst auch teilen kann, auch wenn er die Vorstellung, es handele sich bei Adam und Eva um historische Individuen, nicht mehr teilen kann.

  8. Also so wie ich es versanden habe, ist der Erste Schöpfungsbericht (1. Mose 1) der jüngere, der aus dem babylonischen Exil stammt und der zweite (1. Mose 2) ist der ältere. Aus der beschrieben Konstellation zwischen Mann und Frau in den beiden Berichten, könnte man auch eine Veränderung des Rollenverständnis ableiten, den man als Auswirkung des babylonischen Exils interpretieren könnte.

    O.T.:
    Danke noch mal für den Buchtipp! Sehr anregend. Genau das was ich jetzt gebraucht habe…

  9. Ich dachte spontan an eine Eckstein-Römerbrief-Vorlesung in Tübingen: Die Lüge der Schlange bestehe nach Paulus (Röm 7) nicht etwa darin, dem Menschen das „Sein wie Gott“ zu versprechen – sondern in der Behauptung, Gott gönne das dem Menschen nicht… Hat damals für heiße Diskussionen gesorgt. 😉

  10. Das ist nicht ganz richtig, Waltke hat nicht „seinen Job verloren“, sondern er ist von sich aus zurückgetreten und hat umgehend einen neuen Posten an einem anderen Seminar erhalten s. hier. Enns hingegen ist in Philadelphia in der Tat seines Postens enthoben worden.
    Dass die Erbsündenlehre besage, die Sünde würde „durch Zeugung“ seit Adam von Mensch zu Mensch übertragen, behauptet übrigens nicht mal der Wikipedia-Artikel.
    Wir hatten ja kürzlich schon eine Diskussion über die Frage des Stellenwertes christlicher Dogmen. Du hattest damals keinen Kriterienkatalog aufstellen wollen, woraus man schließen konnte (und sollte?), dass Dogmen nicht so wichtig sind. Dieser Post zeigt (genau so wie der zu den UP), dass es natürlich um dogmatische Fragen geht. Konsequent zu Ende gedacht läuft das, was Du hier vorschlägst, wie mir scheint darauf hinaus, dass der Mensch kein Sünder (im herkömmlichen Sinne) mehr vor Gott ist, nicht mehr vor Gott schuldig ist, nicht mehr dem Gericht Gottes ausgesetzt ist und dementsprechend auch keinen Erlöser mehr benötigt. Hab ich da was falsch verstanden?

    1. @Alexander: Du hast alles falsch verstanden, fürchte ich. Das liegt aber auch an dem dogmatischen Raster, das Du anlegst. Menschen werden auf verschiedene Weisen täglich schuldig, das bestreitet niemand.

      Nur: Wenn es keine von „Adam“ ausgehende Kausalkette gibt, muss man die Sünden- und Erlösungslehre in neue Kategorien umformulieren – vgl. das Zitat von Shults. Dass manche offenbar der Meinung sind, dass das nicht geht, ohne den Inhalt auszugeben, ist eine traurige Realität. Waltke hat m.E. aber Recht, wenn er das Resultat dieses starren Festhaltens an überholten Vorstellungen für einen Schritt ins gesellschaftliche und wissenschaftliche Abseits hält.

  11. @Peter:

    Wenn Du mit „manche“ u.a. mich meinst, dann will ich die Realität für Dich ein bißchen weniger „traurig“ gestalten. 😉

    Damit wir uns nicht mißverstehen – ich würde keinesfalls behaupten, daß sich „Form“ und „Inhalt“ nie voneinander trennen lassen, ohne den Inhalt aufzugeben. Das wäre nun wirklich zu pauschal gesprochen. Meine Aussage oben bezog sich tatsächlich nur auf den konkreten Fall von Gen 2-3.

    Ich hatte ja schon erwähnt, daß es m.E. dem Sinn des darin enthaltenen „Sündenverständnisses“ keinen Abbruch tut, wenn man Adam und Eva nicht als genealogische Erzeltern versteht, die eine kausale Schuldkette in Gang setzen. Das bedeutet nun in gewisser Weise zwar auch schon einen Kategorienwechsel – ich halte es in diesem Fall nur nicht für überzeugend, daß die in Gen 2-3 enthaltene und von Paulus weiter entfaltete Rede von Sünde ohne diesen Kategorienwechsel dem modernen Menschen nicht mehr begreiflich sein sollte. Wie gesagt: der Kern der paulinischen Aussagen zur Sünde etwa bleibt m.E. durchaus erhalten, wenn man Adam und Eva nicht mehr als erstes Glied in einer kausalen Kette von Schuld verstehen kann oder mag – und zwar so, daß es nicht erst einer umständlichen Umformulierung bedarf, damit der Inhalt dieser Texte wieder verständlich wird. Darauf bezog sich auch meine etwas überspitzte Polemik gegen die scheinbar allgegenwärtige Forderung nach einem „Paradigmenwechsel“.

    Welche spezifischen Aussagen hast Du denn im Kopf, die Deiner Meinung nach ohne beachtliche Umformulierung nicht mehr verständlich wären? Vielleicht kommen wir auf diesem Weg konkreter Inhalte ja ganz schnell zusammen.

    LG,
    Tobias

  12. Hi Tobias, du warst gar nicht gemeint, aber danke für die Gedanken, ich seh’s ähnlich. Die Frage ist ja eher, wie man nicht nur den Sündenbegriff, vor allem aber das Menschenbild insgesamt, in einen konstruktiven Dialog mit den Wissenschaften bringt. Vielleicht muss man da ja auch erst mal positiv anfangen, bevor man auf die Schattenseiten zu sprechen kommt. Und das wäre dann – regt Shults an – christologisch zu entfalten. Ich selber denke, man muss Sünde systemisch verstehen lernen – ein Bündel gestörter Beziehungen.

  13. Peter, mag sein, dass ich nicht alles verstanden habe, aber mir scheint nicht, dass ich alles falsch verstanden habe. Und wenn, wäre ich dankbar für Konkretisierungen, denn Pauschalausagen helfen hier doch nicht weiter.
    Wenn ich sagte, es ginge auch hier um dogmatische Fragen, dann meinte ich nicht, ich hätte ein „dogmatisches Raster“. Vielleicht habe ich mich da missverständlich ausgedrückt. Dogmatik resultiert selbstverständlich aus der Exegese. Über die Exegese werden wir aber nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen. (Beispielsweise bin ich in der Tat der Ansicht, dass nach Röm 5 Adam nur historisch zu verstehen ist.) Deswegen versuche ich Klarheit darüber zu gewinnen, auf welche Dogmatik Dein Programm hinausläuft. Wenn Du nun Sünde als „Bündel gestörter Beziehungen“ verstehen willst, dann ist das selbstverständlich ein *neues* Verständnis von Sünde, indem Du das was nach Gen 3 die Folge der Sünde ist zur Sünde selbst erklärst. Und dann scheint mir was ich oben geschrieben habe nicht mehr allzu abwegig zu sein. Es geht nicht mehr um Schuld (Ungehorsam gegen Gott), Gericht (Vertreibung aus der Gegenwart Gottes) und Erlösung (Jesus bezahlt am Kreuz für unsere Schuld und eröffnet uns damit den Weg zurück in die Gegenwart Gottes und ins zukünftige Paradies), sondern es geht in toto um kaputte Beziehungen, die zu reparieren sind. Das sind neue Inhalte, nicht nur neue Kategorien.
    Waltkes Vorwurf, die Christenheit stünde in der Gefahr zu einem Kult zu degenerieren oder zumindest als Kult wahrgenommen zu werden, wenn wir die Erkenntnisse der Evolutionslehre nicht annähmen, ist schlicht absurd (eine gute Entgegnung hier) und faktisch doch die Unterwerfung der Theologie unter die Naturwissenschaften. Dabei ist die Biologie und vor allem die Paläontologie fast ebenso unübersichtlich wie die Theologie. Jeder gute Paläontologe wird das zugeben, zumindest die, mit denen ich mich unterhalten habe (und das waren keine ID-ler, noch nicht mal Christen). Wenn man also mit den Naturwissenschaften ins Gespräch kommen will, wogegen ja gar nichts einzuwenden ist, sollte man vielleicht einmal diese unübersichtliche Ausgangslage berücksichtigen und nicht immer gleich behaupten, das biblische Weltbild sei veraltet und nicht mehr vermittelbar.

  14. @Alexander: Tja, da trennen sich unsere Wege eben schon bei der Exegese. Für ein „historisches“ Verständnis von Genesis 2-3 ergeben sich Berge von Schwierigkeiten, angefangen bei der Beurteilung der Textgattung oder der Frage, wie man sich das überlieferungsgeschichtlich vorstellen muss, warum es im AT so spät erscheint, dass es nie zitiert wird, und warum Paulus hier (wie an anderen Stellen, z.B. wenn es um seine anthropologischen Termini geht) nicht einfach als Kind seiner Zeit angesehen werden darf.
    Dein „dogmatisches Raster“, auf das ich hingewiesen habe, ist in Deinem Kommentar deutlich herausgekommen: Entweder war das „historisch“ und ist buchstäblich zu verstehen, oder wir brauchen keine Erlösung. Zudem ist es eine bestimmte Linie westlicher Theologie, die Kategorien wie Schuld, Strafe, Bezahlung, Gericht betont und andere (auch biblische) vernachlässigt, folglich auch eine Fassung des Sündenbegriffs in relationalen Kategorien nicht duldet. Und nun wird diese Tradition, die sich im Lateinischen Sprachraum ab dem frühen Mittelalter durchgesetzt hat, so zurückprojiziert in die Schrift, dass man keine Augen mehr für andere Aspekte hat.
    Es geht (wieder: du machst ständig falsche Alternativen auf, obwohl ich das Gegenteil schreibe) nicht um eine „Unterwerfung“ der Theologie. Ich denke hier gar nicht in diesen Kategorien von Siegern und Verlierern, entweder/oder. Waltke ist so „freiwillig“ zurückgetreten wie Bischof Mixa. Es gab eine Maulkorb-Klausel in seinem Vertrag, dass man zur Evolution nichts sagen darf. Das allein zeigt schon, dass sich manche Ansichten nur aufgrund von Rede- und Denkverboten halten lassen. Das ist eine Unterwerfung der Theologie – hier ist der Begriff tatsächlich angemessen – unter fundamentalistische Positionen. Mag sein, dass in Einzelfragen die Biologie unübersichtlich ist. Wie jede Wissenschaft. Es hat sich aber bis heute keine Alternative zur Evolution durchgesetzt, die die Vorgänge und Funde besser erklären würde. Also muss man sich von theologischer Seite darauf einlassen, und darf die Vorläufigkeit dieser Hypothesen nicht zum Vorwand für Nichtbefassung machen.
    Zuletzt: Es gibt kein „biblisches Weltbild“. Es gibt bestenfalls verschiedene Elemente antiker Weltbilder, die dort auftauchen. Manches davon (die drei Stockwerke, das Himmelsgewölbe mit Wasser drüber) sind heute überholt. Man muss schon arg an den Texten herumbiegen, um sich diesen Schlussfolgerungen zu entziehen. Aber wenn man nicht a priori behauptet, dass bei jeder dieser Frage gleich der gesamte Wahrheitsgehalt des Glaubens hopps geht, ist das auch kein großes Problem.

  15. @Peter, ich hab’s ja schon selbst gesagt: Wir werden nicht auf einen Nenner kommen, und dass uns exegetisch Welten trennen, ist offensichtlich. Ich finde die hier ausgetragenen Kontroversen dennoch aufschlussreich und bin Dir aufrichtig dankbar, dass Du Dich darauf einlässt. Schließlich soll man nicht immer im eigenen Saft schwimmen und lernen, Andersdenkende zu verstehen.
    Ich würde natürlich im Gegenteil behaupten, dass eine „unhistorische“ Lektüre von Gen 2-3 mehr Probleme aufwirft als beseitigt etc. etc., aber Du kennst die Argumente so gut wie ich, deswegen müssen wir das hier nicht durchexerzieren. In der Tat denke ich, dass wir ohne den Fall des historischen Adam auch keine Erlösung benötigen. Falls hier jemand vorbeikommt, der die Probleme ausgeführt haben will, der lese bspw. hier weiter.
    Einige Klarstellungen noch: „buchstäblich“ ist ein unglücklicher Begriff, den würde ich nicht verwenden und gegen eine literalistische (meintest Du das?) Lesart würde ich mich ebenso verwahren wie Du. Ich habe nicht behauptet, *Du* propagierest eine Unterwerfung der Theologie, sondern Waltke. Dazu stehe ich auch. (Wollte man Deine Analogie zwischen Mixa und Waltke weiterspinnen, könnte man sagen, der eine ist mit ebenso gutem Grund zurückgetreten wie der andere, aber das wäre Waltke gegenüber unfair, dessen Old Testament Theology ein äußerst lesenswertes Buch bleibt.) Weiterhin: Biblisches Weltbild heißt nicht Kosmogonie, wir reden hier nicht über Gen 1, sondern 2-3. Die Behauptung, ich betreibe Eisegese, ist billig. Das hab ich Dir auch nicht unterstellt. Was das Totschlagwort „fundamentalistisch“ in Deinem Kommentar sucht, hab ich auch nicht verstanden. Sind EmCh-ler nicht *gegen* Ausgrenzung?
    Deine Behauptung, Augustin und die Reformatoren hätten mit Schuld-Gericht-Erlösung die falschen Akzente gesetzt, trifft wohl den Kern des Problems. Dass diese Traditionslinie andere ebenfalls biblische Kategorien demgegenüber vernachlässigt hätte, wird aber kaum jemand ernsthaft behaupten wollen, der auch nur ein bisschen was über die Geschichte der Reformation weiß. Das ist ein Strohmann, der da bekämpft wird. Aber es geht um die richtige Gewichtung. Und es ist keine Kleinigkeit zu behaupten, die Bibel stelle nicht Sünde (des Menschen)-Gericht (Gottes)-Erlösung (durch Christus) in den Mittelpunkt. Wer das behauptet, muss zwangsläufig ein anderes Verständnis von Christentum haben, und ich denke, es ist fair zu behaupten, dass nur eins von beiden wahr sein kann. (Ebenso wie McLarens New Kind of Christianity eben ein anderes Christentum ist, aber lassen wir das.)

  16. @Alexander: „Fundamentalistisch“ war hier in dem klassisch-theologischen Sinn verwendet und nicht als Totschlag gemeint. Die Differenz, die wir hier behandeln, besteht übrigens nicht zur Emerging Church, sondern zum größten Teil der evangelischen Theologie in den letzten 150 Jahren. Calvinistischen Traditionalismus (vielleicht ist der Begriff besser) mal ausgenommen.
    Aber das Missverständnis hält sich bei Dir hartnäckig, dass ich der Meinung sei, es gehe nicht um Sünde und Erlösung in der Bibel. Ich bin der Meinung, dass es um einen umfassenderen und komplexeren Begriff von Sünde geht (s.o.), der mit Kategorien von Schuld allein (und mit denen warst du hier angetreten) nicht umschrieben werden kann, dass ebenso die Soteriologie nicht primär in Kategorien von Strafe und ähnlichen Transaktionen zu fassen ist. Für mich sind diese Aspekte vorhanden, aber ich ordne sie dem Verständnis von Sünde als gestörten Beziehungen und gestörter Beziehungsfähigkeit unter. Und auch das ist sicher keine Erfindung von Brian McLaren. Auch ein gemäßigter Evangelikaler wie Scot McKnight sieht das so in „A Community Called Atonement“.
    Aber eigentlich kannst Du Dich nicht bei mir über „Ausgrenzung“ beschweren und dann zum Ende hin schreiben, das sei ein anderes Christentum (und die Konnotation ist ja klar), und dass es nur ein Entweder/oder gibt zwischen beiden Seiten.

  17. Peter, nein, ich beschwere mich nicht über Ausgrenzung, bewahre. Das war eine unnötige Spitze meinerseits, die ich zurückzunehmen bereit bin. Freilich wird man das RTS, den ehemaligen Arbeitgeber Waltkes, auch nicht im klassisch-theologischen Sinne als „fundamentalistisch“ bezeichnen können. Aber egal.
    Ja, das stimmt, die evangelische Theologie hat in den letzten 150 Jahren den historischen Adam verabschiedet. (Von daher können wir die EmCh-Kiste in der Tat zulassen, auch ok.) Freilich fehlt, damit der Satz wirklich wahr wird, ein entscheidendes Adjektiv: deutsch. Die deutsche evangelische Theologie usw. Im 19. Jh. gab es hierzulande vielleicht eine Handvoll Theologen professoralen Ranges, die am historischen Adam festhielten. Das 20. Jh. kann man dann komplett zumachen. Befreit man sich aus dieser nationalen Engführung, sieht das Bild schnell ganz anders aus. In der englischsprachigen Christenheit ist der historische Adam längst nicht wie hier ausschließlich eine Frage der Fossilien. Und interessanterweise hat das wahrscheinlich in der Tat etwas damit zu tun, dass es in D von wenigen Funken abgesehen keine calvinistische Tradition gibt (nehmen wir den Begriff mal; nicht „Traditionalismus“).
    Um nochmal zur Kernfrage zu kommen (und danach verabschiede ich mich aus der Diskussion): Mir ist klar, dass Du Sünde und Erlösung durchaus nicht aus der Bibel verbannen willst. Aber Du verlagerst das Zentrum und setzt die Schwerpunkte neu („nicht primär“, „ordne … unter“ etc.). Die Folge der Sünde (gestörte Beziehungen) machst Du zur Sünde selbst. Das Programm muss daher sein, diese gestörten Beziehungen zu reparieren. Ich würde hingegen sagen: Es gibt vor allem *eine* gestörte Beziehung, nämlich die des Menschen zu Gott, verursacht durch den Ungehorsam des Menschen gegenüber Gott, der dadurch vor Gott schuldig wird. Diese kaputte Beziehung wird repariert durch den stellvertretenden Sühnetod des Sohnes Gottes und die einzige Chance des Menschen ist es, auf diese Karte zu setzen. Wer das tut, steht in einer geheilten Beziehung zu Gott und hat die Chance, die Beziehungen zu seinen Mitmenschen zu heilen. Das ist, behaupte ich wie oben schon, eine andere Gewichtung als die, welche Du vorschlägst, und die unterschiedliche Gewichtung hat erkleckliche Folgen.
    Und wenn jetzt der Einwand kommt, das lässt sich so heute keinem mehr vermitteln, dann würde ich sagen, ja, auf irgendeine Art von christlicher Bildung kann man heute nicht mehr setzen, insbesondere in dem weitgehend atheistischen Landstrich, in dem ich wohne. Aber wenn man’s den Leuten erklärt, verstehen es erstaunlich viele auch heute noch.

  18. Hallo Alexander!

    Du schreibst, „die einzige Chance des Menschen“ sei es, auf „den stellvertretenden Sühnetod des Sohnes Gottes“ zu setzen. Ich denke, dem wird niemand hier widersprechen.

    Allerdings muß dann doch auch der Hinweis erlaubt sein, daß Du letztlich doch nicht diesem Geschehen alleine zutraust, die gestörte Beziehung zwischen Gott und Mensch zu heilen: ich verstehe Dich jedenfalls so, daß Du mit der Denkvoraussetzung eines historischen Adam ein sine qua non in den Raum stellst, das der Mensch zunächst einmal anzuerkennen hat, wenn er denn in den Genuß des Heilsgeschehens kommen will – der Preisgabe dieser Denkvoraussetzung attestierst Du ja immerhin gravierende Folgen. Ein Mensch also, der diese Vorbedingung nicht anzuerkennen willens oder in der Lage ist, bliebe somit außen vor. Die Ursünde (im Sinne einer historisch ersten Sünde) eines historischen Adams wird sozusagen zur schwarzen Folie, ohne die Christus gar nicht leuchten könnte. Das ist mir dann doch etwas zu viel der Ehre für Adam.

    Es ist keine Frage, daß Paulus Adam als historisch ersten Menschen und den Fall als historisch „erste Sünde“ verstanden hat, da sind wir uns hier vermutlich ebenfalls ganz einig. Nur ist damit noch keineswegs darüber entschieden, daß ohne dieses Verständnis Christus nicht derselbe und die Situation des Menschen vor Gott eine andere wäre. Die Ausführungen von Strimple etwa pochen zwar ständig auf diesen Punkt, liefern aber tatsächlich nicht ein einziges hinreichendes Argument für die Behauptung, daß ohne einen tatsächlich existiert habenden, historischen Adam die Sünde natürlicher Teil des Menschseins wäre, der also nicht mehr in die Verantwortung des Menschen fiele, sondern mehr oder weniger einem Makel im Schöpfungswerk Gottes anzulasten sei. Warum sollte das eine zwingende Konsequenz sein? Die Schwierigkeiten, die es in der Kirchengeschichte mit der Lehre von der Erbsünde gegeben hat, zeigen doch, daß auch die Denkvoraussetzung eines historischen Adams genau diesen (Fehl-)Schluß nahelegen können: daß der Mensch aufgrund der Sünde Adams so zum Sündigen verdammt sei, daß ihm letztlich nicht mehr die Verantwortung für seine Auflehung gegen Gott zugeschrieben werden kann. Genau das aber wird in der Bibel allenthalben getan. Das ist eine Aporie, die scheinbar einfach nicht aufzulösen ist.

    Sehen wir einmal von dieser Aporie ab, so geht es beiden Denkvoraussetzungen darum: der Mensch erfährt sich selbst als ein von jeher in schuldhafte Zusammenhänge verstricktes Wesen – ohne damit die Verantwortung für den eigenen Ungehorsam Gott gegenüber verleugnen zu können. Der von Dir genannte große Unterschied zwischen beiden Annahmen bzw. die daraus resultierenden Folgen bleiben da m.E. rätselhaft, weil letztlich unbegründet.

    Darüber hinaus leuchtet mir auch nicht ein, warum die Definition der Sünde als „Beziehungsstörung“ eine so umwälzende Akzentverschiebung sein soll. Erstens dürfte es einigermaßen erfolglos sein, einen biblisch-theologisch breit entfalteten Zusammenhang der Ursünde Adams und den Folgen dieser Sünde für die nachfolgenden Generationen bzw. die notwendige Unterscheidung zwischen diesen beiden herauszustellen (gerade alttestamentlich finden sich kaum Rückgriffe auf Gen 2-3, dafür aber eine reichhaltige Entfaltung des Sündenbegriffs in anderen Kategorien – Peter hat bereits darauf hingewiesen), zweitens leugnet doch auch niemand, daß etwa gestörte zwischenmenschliche Beziehungen letztlich Ausdruck (wohlgemerkt: Ausdruck, nicht einfach nur Folge!) der Auflehung gegen Gott darstellen.

    Ich komme – ich kann es drehen und wenden, wie ich will – letzlich immer zu dem Ergebnis, daß es Christus ist, von dem her sich die menschliche Geschichte her wirklich erschließt (mag man nun zu dem Ergebnis kommen, daß Adam eine historische Gestalt war oder nicht), und eben nicht umgekehrt der historische Adam, von dem her das Heilsgeschehen überhaupt erst verständlich würde. Diese Sichtweise hat ironischerweise gerade die reformierte Theologie immer wieder vertreten, viel stärker als etwa das Luthertum – insofern halte ich manche heutige Vertreter des Calvinismus wie z.B. Piper, die zumindest eine gewisse Affinität (!) zu fundamentalistischen Positionen haben (das ist nicht als Totschlagargument gedacht – echter Fundamentalismus ist für mich nochmal etwas ganz anderes), nicht gerade die glücklichsten Vertreter ihres konfessionellen Rahmens.

  19. @Alexander: Jetzt verstehe ich unsere letzte Diskussion – bei dieser engen Grenzziehung muss die Welt voll von ungläubigen Pfarrern sein, die ein anderes Evangelium – und das heißt ja dann: gar keines mehr – predigen.
    Aber um das mit der Einengung auf Deutschland kurz zurecht zu rücken: Man kann getrost die Mehrheit in Europa einschließlich der katholischen Theologie (gut, ob das Christen sind, ist aus konservativ-reformierter Sicht vielleicht fraglich) seit Karl Rahner dazu rechnen und wohl doch auch einen guten Teil der Amerikaner – schließlich bin ich ja durch Shults überhaupt zu diesem Beitrag veranlasst worden. Aber klar, dort ist das Segment, in dem das Bucer-Seminar angesiedelt ist, deutlich größer.
    Dass die Logik des stellvertretenden Strafleidens heute noch hier und da Leuten plausibel gemacht werden kann, würde ich auch nicht bestreiten. Ich relativiere sie gar nicht deswegen, sondern wegen des zwiespältigen Gottesbildes, das sich damit verbindet. Die Diskussion gab es ja schon im Luthertum des 19. Jahrhunderts und als Erlanger bin ich natürlich Sympathisant von Johann Christian Konrad von Hofmann. Immerhin radele ich jeden Tag durch die Straße, die seinen Namen trägt 🙂

  20. traurig, was es hier zu lesen gibt…
    wollen wir den Literalsinn des Textes nicht wahrhaben, interpretieren wir munter weiter, bis uns gefällt, was wir hineinlesen…

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