Der erstaunliche Johann Baptist Metz über die Notwendigkeit einer zweiten Reformation am Ausgang des bürgerlichen Zeitalters, die für den Protestantismus bedeuten würde, sich dem Sinnlichen zu öffnen und das Ideal der „reinen Lehre“ samt der damit verbundenen Berührungs- und Vermischungsänsgte aufzugeben, um sich wieder dem „inkarnatorischen Prinzip“ zuzuwenden (der Link unten im Text ist allerdings von mir eingefügt):
Zeigt sich (…) nicht, dass »rein« eigentlich eine idealistische Kategorie ist, die Kategorie eines nervösen, abstrakt unsinnlichen Kopfchristentums, das uns glauben machen möchte, die Gnade würde sich allein über das Wort mitteilen, so dass es bei ihr nichts zu schauen, nichts anzurühren, und schon gar nichts zu handeln gäbe? War es nicht ohnehin eine Fehleinschätzung der Reformation, dass sie meinte, die Anrufung der Gnade und die Reform der Kirche allein über das Wort und die »reine Lehre« erwecken zu können und nicht über die Subjekte und deren sinnenhafte, leidvolle Praxis … ?
… Getrieben von dieser Angst entwickelte sich ein über die Jahrhunderte geschichtsmächtiges bürgerliches Christentum, das vom Dualismus zwischen Gnadenwelt und Sinnenwelt geprägt ist: ein gnadenloses Menschentum, strikt besitzorientiert, konkurrenzorientiert, erfolgsorientiert -überwölbt von der Gnade.
… Dass wir jede sinnliche Praxis der Gnade (…) sofort als eine schlechte Politisierung, als banalen Aktionismus verdächtigen, mag zeigen, wie weit wir von einer Heimkehr der Sinne in die Gnade entfernt sind.
Was der Gute zu seiner Zeit schreibt, ist schon erstaunlich genug, aber dass er im zitierten Absatz schon auf deinen Blog-Beitrag verlinkt, das haut mich jetzt echt vom Hocker.
@ Simon: ja, wenn prophetisch, dann richtig
😉
Das Zitat von Metz ist eine Provokation. Die zweite Reformation, die er einfordert, ist ja nichts weniger als das Rückgängigmachen der ersten.
Das Anliegern des Aufsatzes, auf das er verlinkt, kann ich unterschreiben – aber doch gerade deshalb, weil Gottes Wort uns deutlich auffordert, Gutes zu tun!
DerGlaube kommt aus dem Hören (des Evangeliums), die Kirche und ihre Gläubigen werden geheiligt durch das Wort.
Statt Metz würde ich die Väter des Pietismus empfehlen …
@ Helmut: Ich konnte ja nicht alles abtippen, aber Metz will nicht hinter die Reformation zurück, wohl aber über Engführungen hinaus, die zu einem entleiblichten Christentum der reinen Lehre und Gesinnung geführt haben und dem sehr individualistischen Verständnis von Freiheit (der des einzelnen Christenmenschen). Zugleich fordert er für die katholische Kirche eine Reformation der Freiheit – da hat sein Appell nach 30 Jahren noch nichts an Dringlichkeit verloren. Das Argument für einen sinnlicheren, konkreteren und weniger abstrakt-idealen Glauben findet er in der Bibel: In den Geschichten, die Jesus erzählt, und in den Dingen, die es bei ihm zu Sehen und Anzufassen gab.
Metz weist m.E. vom Denken eines klassischen Griechen weg (Dualismus) und führt mehr auf das Denken eines Hebräers hin (Holismus/Ganzheitlichkeit). Das ist nötig.
In dieser Hinsicht verstehe ich seine Kritik an dem Versuch, die „reine Lehre“ zu vermitteln. Diese „reine Lehre“ dürfte menschlich nicht erreichbar sein – Erkenntnis als Stückwerk, wiewohl ein Aspekt der Erkenntnis stehen muss: das Kreuzes- und Erlösungsgeschehen in und durch Jesus Christus.
Segen!
Dirk
Metz‘ eigentliches Anliegen (das ich im Prinzip teile) hin oder her – mit der Aussage „War es nicht ohnehin eine Fehleinschätzung der Reformation, dass sie meinte, die Anrufung der Gnade und die Reform der Kirche allein über das Wort und die »reine Lehre« erwecken zu können und nicht über die Subjekte und deren sinnenhafte, leidvolle Praxis … ?“ langt er ordentlich daneben.
1. Was meint er eigentlich mit „der Reformation“? So gebraucht kann eigentlich nur der historische Urprung der Reformation gemeint sein bzw. die ersten Reformatoren. Dann aber muß man
2. feststellen, daß diese so gar nicht in den zitierten Satz von Metz passen wollen. Wer z.B. Luther auch nur ansatzweise kennt, weiß, daß der zwar ein strenger Dogmatiker war, diese Dogmatik aber keinesfalls gegen die Sinnlichkeit ausgespielt hat. Schon allein Luthers bildhafte Sprache ist ein starker Hinweis darauf – die darin transportierten Inhalte noch viel mehr. Er ringt mit der Anfechtung, er hat einen so selbstverständlichen Umgang mit der Vorstellung eines personhaften Teufels, daß es Jahrhunderte später Karl Barth noch grauste, er malt Gottes Liebe in den schillerndsten Farben vor Augen, er vertritt eine durchaus sinnenfreundliche Sakramentenlehre etc. – da ist nichts von einer „reinen Lehre“ ohne konkrete, sinnenhafte Erdung zu finden.
Diesen Eindruck kann man allenfalls anhand einer isolierten Betrachtung etwa der vor allem Melanchthon zu verdankenden Formulierungen der Confessio Augustana betrachten. Diesen ersten Eindruck zur These umformulieren hieße aber, den historischen Kontext der CA zu ignorieren – sie ist nun einmal eine Bekenntnisschrift, die in aller nötigen Knappheit und aller gebotenen Klarheit konkrete Inhalte auf den Punkt bringen mußte.
Bei Calvin mag diese Einschätzung vielleicht etwas weniger freundlich ausfallen als bei Luther – aber auch hier wäre Metz‘ Zitat noch eine Verzerrung dessen, was die Reformation in ihrem Ursprung war.
Ingesamt kann ich daher eigentlich nur sagen: Metz referiert hier entweder ein beliebtes antiprotestantisches Klischee, oder aber verengt er „die Reformation“ auf eine bestimmte Fehlentwicklung in der altprotestantischen Orthodoxie. Beides wird „der Reformation“ nicht gerecht – auch nicht ihren heutigen Ausprägungen.
Ich denke nicht, dass Metz einfach nur ein Klischee kolportiert. Er sieht die Reformation als eine Bewegung die in den Rahmen des soziologischen Umbruchs von der Feudalgesellschaft zum Bürgertum gehört. Dass Luther da sicher am einen und Calvin am anderen Ende des sinnlichen Spektrums steht, ist klar. Insgesamt aber hat die Reformation die Unsichtbarkeit des Glaubens und der wahren Kirche betont, aus verständlichen Gründen, aber eben einseitig. Und die protestantische Betonung von Bildung und Studium brachte eben auch mit der Zeit eine gewisse Kopflastigkeit. Man sieht es schon daran, dass der Protestantismus sich (zumindest vordergründig) an Lehrfragen immer weiter gespalten hat und einen tiefsitzenden Argwohn etwa gegenüber dem Gefühl hegt.
Durch so ein Zitat gewinne ich immer mehr den Eindruck, dass die Emerging Church Bewegung immer mehr die katholische Art- und Seinsweise übernimmt. Es ist schon seltsam, die Dämme der reinen evangelischen Lehre brechen und man begibt sich ins trocken liegende Flussbett der Weltlichkeit. Mal sehen wo das hinführt.
@Peter:
Naja – der Protestantismus hat sich an Lehrfragen vor allem deshalb gespalten, weil er keine starke Ekklesiologie hat. Daß das auch schon eine Folge einer „Verkopftheit“ und lehrmäßigen Einseitigkeit ist, würde ich so nicht sagen wollen.
[Und selbst wenn: für die eine oder andere protestantische Einseitigkeit bin ich sogar dankbar. Wie gesagt: vor dem Kontext der Entstehung der Reformation war so manche Frontstellung notwendig. Und ich hege auch ein bißchen den Verdacht, daß hinter so mancher Klage über protestantische „Armut“ in Wirklichkeit eine ungesunde Portion Neid auf die ungleich höhere Präsenz Roms in den Medien etc. steckt – ohne das jetzt Dir vorwerfen zu wollen.]
Wo ich am ehesten der These Metz‘ folgen kann, ist beim Blick auf protestantische Ausprägungen der Sündenlehre. Da sehe ich in der Tat eine Verengung auf das Wort – bzw. vielmehr eine Verengung des Wortes selbst, das ja durchaus Gestalt annehmen will. Wenn man bedenkt, daß Luther die Beichte noch als quasi-Sakrament betrachten konnte, muß man sich aber auch fragen, ob diese Verengung wirklich „der Reformation“ geschuldet ist, oder ob hier nicht ursprüngliche Anliegen der Reformation durch ganz andere Faktoren verschüttet wurden.
Da wären wir beim Hinweis auf die Reformation als soziologischem Phänomen. So sehr die Reformation selbstverständlich auch soziologisch betrachtet werden muß: ich glaube, man tut sich keinen Gefallen, wenn man hier eine soziologische Fragestellung zur Leitfrage werden läßt und die theologischen Implikate der Reformation mehr oder weniger soziologisch vereinnahmt und zu bloßen Phänomenen degradiert. Kurzum: das halte ich für allzu vereinfachend – das ist es auch, was mich an Metz auch an anderen Stellen immer wieder stört.
Zum Argwohn gegenüber dem Gefühl: was ist daran spezifisch protestantisch? Ich höre diesen Satz so oder so ähnlich immer wieder – und noch nie hat er mir wirklich eingeleuchtet. Noch einmal: was ist mit Luther? Was ist mit dem Pietismus? Was, ist mit den Erweckungsbewegungen? Sind das denn nur Irrwege des Protestantismus?
Ich vermute dagegen, die Gleichsetzung von „Gefühlskälte“ und Protestantismus rührt sehr viel eigentlicher daher, daß (zumindest im deutschsprachigen Raum) Protestantismus bewußt oder unbewußt immer noch mit Volkskirchlichkeit gleichgesetzt wird, in deren Raum das problematische Verhältnis zur Sinnlichkeit in der Tat vorhanden ist. Aber: ist das eine Auswirkung der Reformation „an sich“? Glaube ich kaum.
Ich würde behaupten, daß das eher ein Begleitphänomen ist. Dieses rührt zum einen daher, daß die reformatorische Unterscheidung zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche oft gerade nicht konsequent zur Sprache gebracht wurde und so zum zweiten allen möglichen gesellschaftlichen, soziologischen, politischen und ideologischen Bewegungen im Raum der Kirche so viel Platz gemacht wurde, daß man irgendwann gar nicht mehr sagen konnte, was denn nun an einer bestimmten Ausprägung spezifisch protestantisch, reformatorisch, kirchlich oder christlich sei und was nicht (ich nenne als prominentestes Beispiel einfach einmal den „Kulturprotestantismus“).
Die genannte „Gefühlskälte“ könnte somit auch einfach „nur“ eine ganz bestimmte Tendenz innerhalb des Protestantismus sein – und ist womöglich Faktoren zu verdanken, die in den Kirchen der Reformation einfach „nur“ aus den oben genannten Gründen einen idealen Nährboden gefunden haben.
@Alex:
In Verbindung mit dem, was ich Peter geschrieben habe: ich wäre vorsichtig, die „reine evangelische Lehre“ schon dort als gefährdet zu betrachten, wo sich Schnittmengen zum Katholizismus ergeben. Das ist m.E. eher Ausdruck eines heutigen problematischen Verhältnisses zum Katholizismus als dem der Reformationszeit. Noch einmal: wo spricht denn die „reine evangelische Lehre“ der Reformatoren gegen die Sinnlichkeit des Evangeliums? Kann ich nirgendwo erkennen. Ich kann nur Frontstellungen gegen einen mißbräuchlichen Umgang mit der Sinnlichkeit zulasten des Evangeliums erkennen. Darin eine Kritik der Sinnlichkeit insgesamt sehen hieße doch, das Kind mit dem Bade auszuschütten. So blöd waren nur die Bilderstürmer. Neben denen gibt es schon vorher, aber auch zeitgleich eine Fülle von Beispielen für einen außerordentlich sinnlichen Zugang zum Evangelium im Protestantismus (z.B. Dürer und Dürerschule).
Die reine christliche Lehre muss man nicht aufgeben. Das Leben lehrt leidvolle sinnenhafte Praxis.
„…Heimkehr der Sinne in die Gnade…“ ist Überlebenstraining.
Wir müssen uns nur unserer immer vorhanden gewesenen Möglichkeiten besinnen und sie in unsere Gegenwart übernehmen ohne alte Fehler zu wiederholen und vielleicht nicht so sehr auf die Regeln der jeweiligen Konfession schauen.