Aber wehe, wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe…?

Simon hat ein neues Fass aufgemacht und nach Beiträgen gefragt. Ich habe den folgenden Text vor ein paar Jahren zum Millennium geschrieben, aber das ist ja universalgeschichtlich gesehen nur ein Klacks, also sollte das meiste noch aktuell sein…

Ob christlich oder nicht: Unsere Vorstellung von den „letzten Dingen“ prägt unser tägliches Verhalten weit mehr, als uns bewusst ist. Sie ist nämlich immer eine Aussage, über das, was Gott eigentlich und wirklich will und was demzufolge ewigen Bestand hat, auch wenn alles andere vergeht. Wer also für die Endzeit vor allem die Rache Gottes an den Gottlosen erwartet, der neigt heute schon zumindest zu verbalen Ausrutschern gegen Andersdenkende. Manch einer sichert sich seinen Platz im Himmel durch ein Selbstmord-Attentat, weil Allah Märtyrer bevorzugt. Wer an ein vorbestimmtes Schicksal glaubt, liest lieber Horoskope, statt selbst Verantwortung zu übernehmen. Ein Christ in Neuseeland bekannte gar in einem Interview, er kümmere sich nicht um das Problem der Ozonschicht und Treibhausgase, weil er hoffe, dass Jesus rechtzeitig zurückkomme. Klar: Wenn ich damit rechne, dass Gott nur „Seelen” rettet und den alten Globus in die Luft jagt, warum heute überhaupt einen einzigen Gedanken an die Erhaltung der Schöpfung verplempern?

So gedeiht eine Art „Horoskop-Christentum“: Ich lese die Bibel wie andere ihren Nostradamus. Dann beobachte ich, wie sich der „Plan Gottes” erfüllt, den mir christliche Endzeitautoren spitzfindig aus der Bibel herausdestilliert haben. Jede weitere Katastrophe bestätigt mich in dem wohlig-schaurigen Bewusstsein, dass das Ende naht. Aber nachdem das alles so kommen muss, und um dem Willen Gottes nicht zu widerstehen, werde ich kaum noch mitleiden, kaum noch beten, und schon gar nichts mehr ändern wollen.

Problematische Denkmuster
Es gibt eine Reihe verbreiteter, aber nicht unbedingt passender Endzeit-Vorstellungen, die uns den Zugang zu den biblischen Aussagen verstellen. Ein paar möchte ich kurz umreißen:

a) Das Verfallsschema: Es sieht vor, daß sich zwischen erstem und zweitem Kommen Christi alles zuspitzt und verschlechtert, als würde die Welt und die Kirche auf einer Rutschbahn mit steigendem Tempo nach unten rasen. Vorboten des Antichristen allenthalben, Verführer und Irrlehrer in der Kirche, der große Abfall steht unmittelbar bevor. Die Logik ist: je verzweifelter die Lage, desto näher das Ende.

b) Die umgekehrte Denkbewegung beschreitet der Triumphalismus: Hier mag es in der Welt auf und ab gehen, aber die Christenheit geht unaufhaltsam der einen großen und weltumspannenden Erweckung und dem apokalyptischen Showdown entgegen.

c) Das vor allem im Bereich des christlichen Fundamentalismus beliebte Schema des „Dispensationalismus“ geht von einer Abfolge verschiedener Zeitalter aus, die jeweils einen ganz eigenen Charakter haben und streng unterschieden werden. Die bekannteste Schlussfolgerung lautete, dass Wunder und Geistwirkungen in unserer Zeit nicht dem Plan Gottes entsprechen. Wenn daher wirklich Wunder geschehen, war es vermutlich Schwindel oder gar der Teufel.

d) Die Entwicklung Israels ist ein weiterer Sonderfall. Israel wird gelegentlich als „Zeiger an der Weltenuhr Gottes” bezeichnet. Nach fast 1900 Jahren Stillstand scheint er sich nun also wieder zu bewegen. Jesus und das gesamte Neue Testament dagegen schweigen sich demonstrativ aus, wenn es um eine Verbindung zwischen dem Ziel der Menschheit und dem national-politischen Schicksal Israels geht. Die Heidenvölker werden weder unterworfen, noch pilgern sie zur Wohnstätte Gottes auf dem Zion, wie es Jesu jüdische Zeitgenossen erwartet hatten. In das neue Jerusalem der Offenbarung des Johannes ziehen alle Völker gemeinsam ein, es steht kein Tempel mehr dort, es gibt keine herausgehobene Priesterschaft. Israels endzeitliche Rolle ist darin erfüllt, dass aus seiner Mitte der Messias für die ganze Welt gekommen ist. Jetzt steht nur noch aus, dass auch Israel dies mehrheitlich begreift (Römer 11,25ff).

Das Problem der apokalyptischen Bildersprache
Viele eigenartige Endzeit-Lehren beruhen auf einem Missverständnis. Sie nehmen die bildhaft-symbolische Sprache apokalyptischer Texte in der Bibel zu wörtlich, etwa im Buch Daniel oder der Offenbarung des Johannes, aber auch bei Jesus oder Paulus. Immer wieder werden dort Aussagen über Gottes Handeln wie auf eine gewaltige kosmische Leinwand projiziert. Die Weltreiche der Antike geben ein Drama mit grotesken Gestalten und bissigen Karikaturen ab. Plötzlich, so scheint es, handelt und richtet Gott nicht mehr nur durch geschichtliche Ereignisse, sondern die Elemente der Welt spiegeln das Ringen wider und scheinen in der Glut zu zergehen (2.Petrus 3,12f).

Interessant ist, wie die ersten Christen dies verstanden: Wir denken unwillkürlich an das Weltende, wenn wir in Joel 3,1ff vom „Tag des Herrn“ lesen. Als aber Petrus in seiner Pfingstpredigt diesen Abschnitt zitierte, setzte er offensichtlich voraus, dass sie erfüllt war – obwohl die kosmischen Zeichen am Himmel (die er selbst erwähnt!) weit und breit nicht zu sehen waren. Die Bildersprache der Apokalyptik verschlüsselte also Aussagen über Gottes Handeln an seinem Volk und in der Welt in dramatischen Bildern, weil die Sache an sich – nämlich dass Gott selbst kommt! – so neu, so unvorstellbar, so grandios war, dass dürre Worte und gängige theologische Begriffe einfach nicht ausreichten. Es geht um das, was sich im Verhältnis zwischen Gott und Menschheit end-gültig abspielt, nicht aber um das buchstäbliche Ende in einer kosmischen Katastrophe. Auch die Offenbarung des Johannes ist kein Fahrplan für die Endzeit, in dem ein Ereignis nach dem anderen programmgemäß abläuft, und in dessen Koordinaten man auch noch alttestamentliche Prophetien beliebig einfügen könnte. Eher schon ist sie ein surrealistisches Theaterstück auf mehreren parallelen Ebenen. Was tatsächlich wann und wie passieren wird, können wir aus diesen Metaphern nie genau ableiten.

Wenn man überhaupt nach einem Kriterium sucht, um unsere endzeitliche „Position” zu bestimmen, dann vielleicht dieses: Das Evangelium von der Herrschaft Gottes wird allen Völkern bekannt gemacht. Zu diesem Punkt finden wir in der Schrift ganz konkrete und eindeutige Formulierungen (vgl. Mt 24,14). Es mag noch einigen Aufwand erfordern, aber wir können diesen Faktor zumindest aktiv beeinflussen: Durch Gebet, indem wir gehen, und indem wir ganzheitliche Mission vor Ort und in aller Welt fördern: All das, was den passiven „Horoskop-Christen“ kaum noch gelingt, weil sie lediglich das persönliche Plätzchen im Himmel anstreben.

Wann kommt das Weltende?
Für Jesus und die Autoren des Neuen Testaments gab es nur zwei unterscheidbare Zeiten: den jetzigen und den kommender „Äon” (griechisch: „Aion“ für Zeit, Welt, Weltzeitalter). Deswegen laufen all die gelehrten Theorien des Dispensationalismus ins Leere, die ein System verschiedenster Zeitalter konstruieren. Noch ein wenig komplizierter wird die Sache dadurch, dass alter und neuer Äon sich überlappen: Wer unter Gottes Herrschaft lebt, lebt schon jetzt unter den Bedingungen der neuen Zeit, während im alten Äon das „Fleisch”, die Sünde und der Tod regieren. Für die jüdischen Zeitgenossen Jesu und der Apostel war es enorm schwer zu verstehen, dass nicht der „Tag des Herrn“, wie sie immer angenommen hatten, der alten Weltzeit ein radikales Ende setzt und die neue einläutet, sondern dass sich der neue Äon in der Person Christi und im Wirken des Geistes mitten in den alten sozusagen hineingemogelt hat. Jesus selbst spricht von Geburtswehen: Der Einbruch des Neuen verursacht erhebliche Spannungen. Es kommt, es ist sogar schon da, aber noch nicht in allen Einzelheiten sichtbar – wie in einer Schwangerschaft. Die Auswirkungen sind verwirrend: Mal erleben wir Wunder und Heilungen, mal bleiben sie unerklärlich aus. Einerseits kennt die Kirche Jesus als den Sieger, gleichzeitig leidet sie an so vielen Orten unter den schon besiegten, aber nicht völlig entwaffneten Mächten der Welt, die kopflos um sich schlagen.

Deshalb war die Botschaft Jesu nicht: „Werdet anständige Christen, dann kommt ihr auch später in den Himmel.” Er ließ keinen Zweifel daran, dass der Himmel hier und heute zu ihnen gekommen war: Durch Vergebung der Sünden, Heilung von Krankheit, wiederhergestellte Würde und soziale Beziehungen. Für jeden, der sich der Herrschaft Gottes öffnet, hat der Himmel, hat die neue Schöpfung schon begonnen (2.Korinther 5,17). Das Ende der alten Weltordnung steht jedoch noch aus bis zur Wiederkehr des Auferstandenen. Und zwischen diesem ersten und dem zweiten Kommen des Messias Jesus liegen „die letzten Tage“, wie Petrus in Apg 2,17 sagt. Diese Zeit ist durch kein anderes Ereignis qualifiziert als diese beiden Pole. Solange sie aber andauert, ist christliche Nah-Erwartung immer ein Kennzeichen lebendigen Glaubens (Philipper 4,4f).

Vollendung oder Vernichtung?
In vielen unserer Bibelübersetzungen verstecken sich hinter dem deutschen Wort „Welt” die griechischen Begriffe „Aion“ und „Kosmos”; der erste bezieht sich auf „Welt“ in ihrer geschichtlich-zeitlichen, der zweite auf Welt in ihrer räumlich-materiellen Dimension. Wenn nun (wie in Matthäus 28,20) vom „Ende der Welt” die Rede ist, steht dort „Aion“; die Aussage bezieht sich also auf das Ende des gegenwärtigen Zeitalters der Unterdrückung und Zerstörung, nicht aber auf ein Ende dieser Erde.

Der Kosmos, unsere geschaffene Welt, geht also nach Paulus nicht keinem gigantischen „End-Knall” entgegen, sondern wird von seiner Verfallenheit an den Tod und die Vergänglichkeit erlöst (Römer 8,19ff). Hand in Hand mit dieser Erwartung der Vollendung der Welt geht der Gedanke der leiblichen Auferstehung. Und beides trägt die Handschrift Gottes, der schon Noah zugesagt hatte, dass er seine Schöpfung nicht der Vernichtung preisgeben würde, und dem sogar die Tiere Ninives leid taten. Die populären christlichen Szenarien vom globalen Super-GAU haben also keine tragfähige biblische Grundlage. Ihre Denkrichtung widerspricht dem Wesen Gottes zutiefst. Die Lust am Untergang, die aus vielen Passagen dieser Schriften spricht, ist eher eine traurige Perversion des Evangeliums vom menschgewordenen Gott, der sich mit seiner Schöpfung so total identifiziert.

Vollendung statt Vernichtung bedeutet, dass Gemeinschaft und Beziehungen unter neuen, erlösten Bedingungen fortdauern und wir frei werden von Krankheit, Verfall und Tod (Auferstehung). Es bedeutet die Durchsetzung von Gerechtigkeit und Befreiung von der Macht, den Folgen und der Gegenwart von Sünde in der Welt (Gericht). Die Schöpfung erhält ihre ursprüngliche Herrlichkeit zurück. Gott wird alles in allem sein.

Wer hat an der Uhr gedreht?
Uns allen läuft die Zeit in Sekunden, Stunden und Jahren unaufhaltsam und unumkehrbar davon. Gott aber hat eine andere Zeitperspektive als wir, viel weniger linear und gleichmäßig. Lange passiert scheinbar nichts, dann alles auf einmal. Tausend Jahre sind wie ein Tag (2. Petrus 3,8ff) – das ist kein neuer Umrechnungsfaktor (etwa für das „tausendjährige Reich“…?), sondern es bedeutet: unsere Kategorien spielen bei ihm keine Rolle.

Da ist es nicht weiter verwunderlich, wenn es von Jesus heißt, dass er Alpha und Omega ist, Anfang und Ende. In Jesus nämlich hat Gott mitten in der Geschichte das getan, was alle erst am Ende der Geschichte erwartet hatten: Das Problem der Sünde und des Bösen gelöst, Gottes Herrschaft in Kraft gesetzt, sein Volk befreit von diesen seinen wahren Feinden. In Jesus, dem Erstgeborenen von den Toten, ist die erlöste neue Schöpfung schon sichtbare Wirklichkeit geworden. Für uns steht die Vollendung noch aus, aber im Heiligen Geist haben wir die unwiderrufliche „Anzahlung” und den definitiven Vorgeschmack schon jetzt. Ein Freund von mir sagte daher: „Jede Generation steht mit dem Gesicht zur Ewigkeit.“ In bestimmter Hinsicht sind wir alle der Vollendung gleich nah.

Vermutlich aber sollten wir noch einen Schritt weitergehen und sagen: Wir leben nicht in den letzten Tage des alten Zeitalters, zumindest nicht in dem Sinn, wie es das Judentum zur Zeit Jesu sich das Ende weithin als Zuspitzung der Geschichte und Abrechnung Gottes mit den Heidenvölkern vorstellte. Stattdessen erleben wir die ersten Tage der neuen Welt! Wir blicken bereits zurück auf den alles entscheidenden Wendepunkt: Das Kreuz und das leere Grab. Die größte Revolution der Weltgeschichte hat ihren entscheidenden Durchbruch bereits erzielt, das alte System ist überwunden, auch wenn noch erbitterte Rückzugsgefechte stattfinden.

Das bedeutet, dass wir in eine Zukunft gehen, die nicht immer einfach, aber die offen ist. Es gibt keinen in allen Einzelheiten festgefügten Plan, nach dem die Weltgeschichte unweigerlich abläuft. Diese Vorstellung würde uns nur ein in falscher Sicherheit wiegen, weil die Welt berechenbar scheint. Wir brauchen also weder wie gebannt auf immer schlimmere Katastrophen zu warten, noch können wir uns darauf verlassen, dass die globale Erweckung von selbst kommt. Es liegt auch nicht alles an Israel und unserer Einstellung gegenüber dem Judentum. Vielmehr ist die Frage, ob wir wach genug sind, jede Gelegenheit zu nutzen, um hier und heute mit Gott Geschichte zu machen. Die Verantwortung liegt bei uns. In den ersten Tagen der neuen Schöpfung zu leben bedeutet: Die Zukunft hat eben erst begonnen.

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