Zum Aufstehen zu wenig

Vor einiger Zeit bekam ich das inzwischen veröffentlichte Thesenpapier Zeit zum Aufstehen zugesandt mit der Einladung, Erstunterzeichner zu werden. Anscheinend gehöre ich zu den Menschen, denen die Autoren das zutrauten. Viele meiner Freunde und Bekannte haben sich inzwischen dem Aufruf angeschlossen.

Ich war nicht begeistert. Hier sind ein paar Gründe:

Erstens scheint es mir, dass es hier um evangelikale Richtigkeiten geht, die zu bekräftigen die Urheber und wohl auch viele Unterzeichner nichts kostet, weil sie diese Positionen seit Jahr und Tag vertreten und in einem Umfeld arbeiten, das sie ebenfalls für selbstverständlich hält – jedes Rütteln an ihnen aber vehement sanktionieren würde. Das Papier hätte vor 25 Jahren genau so erscheinen können. Ich habe mich gefragt, was sich denn eigentlich bewegt hat in letzter Zeit. Aber vielleicht ist das schon die falsche Frage, weil Positionierung und Bewegung ja gerade nicht dasselbe sind.

Zweitens enthält es formal und inhaltlich aus meiner Sicht keinerlei Gesprächsangebot an Andersdenkende, lädt zu keinem Brückenschlag ein, stellt keine Fragen, sondern formuliert Parolen und versucht, die eigenen Reihen zu schließen. In der obligatorischen Bekräftigung der Autorität der Bibel finden sich so – Entschuldigung, plumpe – Slogans wie „Die Bibel ist immer aktueller als der jeweilige Zeitgeist.“ Gilt das auch für die Bibeltexte, die Sklaverei unkritisch sehen? Und wenn nicht, was bedeutet so ein Satz dann eigentlich noch?

Drittens fallen die Leerstellen auf: Die Christologie (genauer: Göttlichkeit und Einzigartigkeit Christi, Versöhnung durch Kreuz und Auferstehung) hat die Trinität überlagert, vom Heiligen Geist ist nirgends die Rede und der Schöpfer erscheint, wenn man genau hinsieht, nur als Begründer und Garant der Ebenbild-Anthropologie. Diese wiederum reduziert sich, wie die weiteren Aussagen zeigen, auf die Festschreibung traditioneller Geschlechtermuster und die Unantastbarkeit menschlichen Lebens. Ich bin auch gegen eine „Entwertung der Ehe“, aber ich weiß natürlich, dass dieser Textbaustein mittlerweile ein gängiges Codewort ist, das darauf zielt, andere Lebensformen als problematisch und defizitär hinzustellen.

Viertens: Fahndet man nach den gesellschaftspolitischen Konsequenzen des Aufrufes, dann bleiben die Themen Lebensrecht, islamkritisch akzentuierte Religionsfreiheit und die Exklusivität der traditionellen Familie allein auf weiter Flur. Hat Jesus das gemeint, als er vom Reich Gottes sprach? Die Bekräftigung der alten Engführungen ist doch ein Schlag ins Gesicht für die Vertreter der Micha-Initiative, die evangelikale Frömmigkeit und den Einsatz für eine gerechte Welt verbinden, die sich ja längst nicht mehr trennen lässt von der Bewahrung der Schöpfung.

Das ohrenbetäubende Schweigen zu diesen Themen ist natürlich auch eine klare Abgrenzung von allen anderen kirchlichen Bewegungen, die sich eben diese Themen auf die Fahnen geschrieben haben. Und damit vermittelt der Text unterm Strich den Eindruck, dass es den Autoren nicht um Kooperation, gegenseitige Ergänzung und lebendigen Austausch geht, sondern um das Beharren auf und die Durchsetzung von bestimmten Positionen.

Das ist jetzt meine völlig subjektive Interpretation dieses Textes. Möglicherweise lesen und meinen ihn die Autoren und Unterzeichner ja anders. Daher ist das keine persönliche Kritik an einzelnen, wohl aber eine an diesem verunglückten Aufruf.

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13 Antworten auf „Zum Aufstehen zu wenig“

  1. Dem muss ich gar nichts mehr hinzufügen. Außer vielleicht den Hinweis auf den Stuttgarter Christustag demnächst, der vermutlich als Anlass diente …

  2. @Daniel: Der eigentliche Anlass, das vermuten zumindest andere Stimmen, könnte der Bildungsplan und das EKD Familienpapier sein. Dann wäre das der Versuch, mit frommen Allgemeinplätzen auch die als Unterstützer zu vereinnahmen, die dieses Feindbild so vielleicht gar nicht teilen, aber hier arglos unterschreiben. Als nächstes legt man das den Kirchenleitungen auf den Tisch und macht Druck.

  3. Hallo Peter,

    als Bestätigung an Deiner Subjektivität: Ähnlich habe ich das Thesenpapier auch wahrgenommen und deshalb nicht unterzeichnet. Gute Punkte übrigens, die Du benennst. So detailliert hatte ich mich bislang nicht damit auseinandergesetzt, aber bereits der erste Eindruck hat mich fragen lassen, ob ich sowas eigentlich in 2014 noch mittragen will. Ist ja nicht alles schlecht, was darin steht, aber eben doch teils einseitig, pauschal oder einfach antiquiert. Schade :-(.

  4. Danke, Phil. Die Gedanken haben mich beim einfachen Lesen des Textes derart angesprungen, ohne dass ich bewusst nach den Defiziten gesucht und gefragt hätte. Jetzt frage ich mich, wer denn ein Interesse an der Re-Fundamentalisierung des stellenweise erfreulich bunten und weltoffenen Evangelikalismus haben könnte…?

  5. Ja, i.d.T. waren/sind die Defizite offensichtlich, ohne dass man groß danach suchen müsste. Ich meinte bzgl. der detaillierten Auseinandersetzung die Tatsache, dass Du es sprachlich gut auf den Punkt gebracht hast und ja an dieser Stelle darüber bloggst.

    Tja, wird Zeit, dass wir uns demnächst zusammensetzen, um übers Thema Mission nachzudenken. Freu mich schon drauf, hoffentlich progressiv nach vorne zu denken.

  6. Tatsächlich ist die Metapher des Aufstehens eher unpassend zu dem Positionspapier. Aber vielleicht bin ich da zu sehr Bittlinger-geschädigt. Das ganze hat mehr etwas von „Hier steh ich, ich kann / will nicht anders.“ Aber da standen wir eigentlich schon immer, und das nochmal zu sagen, genau: es kostet nichts. Nicht mal die Anstrengung, aufzustehen.
    Wo es denn hingehen soll, wenn man erstmal aufgestanden ist, das kann ich nicht lesen.
    Wenn ich von diesem stilistischen Kritikpunkt mal absehe: Ja, tatsächlich enthält das A4-Blatt nicht alle möglichen und sicher wichtigen Aspekte christlichen Glaubens und Lebens, sondern pickt ein paar raus, die von den Autoren als umstritten empfunden werden. Dazu gehört der Einsatz für eine gerechtere Welt im Moment nicht so sehr, denn wer ist schon dagegen? So wenig wie die Micha-Initiative ein „Schlag ins Gesicht“ für die evangelistische Verkündigung ist, so wenig ist das Eintreten für Religionsfreiheit in islamischen Ländern einer für die Micha-Initiative.
    Da könnte immer noch mehr gesagt werden und dieser oder jener Aspekt noch mehr betont.
    Da könnte sicher jeder von uns seine eigene Liste verfassen, was da noch mehr oder weniger betont werden müsste, was zu präzisieren und was eher wegzulassen wäre. Aber das muss man dann auch nicht immer. Es ist ein Kompromisspapier.
    Es hat mich nichts gekostet, diese Erklärung mit zu unterzeichnen. Ich werde dafür nicht ins Gefängnis gehen, mich nicht mit meinen weniger evangelikalen Kollegen überwerfen, meine Stelle nicht verlieren. Keiner der Verfasser ist ein neuer Luther und hat darum auch keine päpstliche Bulle zu fürchten. Und?
    Meine Teilnahme an der Petition gegen die Sommerzeit hat mich auch nichts gekostet. Sollte ich es deswegen bleiben lassen?

  7. Was die Sommerzeit betrifft, Andreas: Ja, unbedingt bleiben lassen! 🙂

    Ich finde es immer interessant, wie solche Elementarisierungen und Reduktionen laufen, was man mithin notfalls als „verzichtbar“ begreift. Mein Verständnis des Evangeliums finde ich in diesem Substrat nicht mehr wieder. Und in den letzten drei Tagen merke ich, dass ich keineswegs der einzige bin.

  8. @Andreas: Aber vielleicht noch eine Rückfrage an Dich als Unterzeichner – Wie genau verstehst Du den Passus zur „Entwertung der Ehe“? Wer entwertet die Ehe denn im Augenblick und wodurch?

    1. Zunächst mal kann ich auch grundsätzlich gegen eine Entwertung sein, ohne konkrete Beispiele vor Augen zu haben.
      Eine Entwertung findet in meinen Augen statt, wenn Menschen heiraten, aber sich bei der ersten Krise trennen, statt sich Hilfe zu suchen. Wenn sie mit der Heirat warten, weil die Feier noch zu teuer ist. Wenn sie zwei Kinder haben, aber sagen, sie sind sich noch nicht sicher, „ob sie eine Familie gründen wollen“. Wenn sie in Wirklichkeit mit dem Beruf verheiratet sind, dem Sportverein oder der Kirchengemeinde.
      Wenn ich versuche, Jugendlichen davon zu erzählen, die Ehe sei der bestmögliche Schutzraum für Sexualität, dann fallen mir als Einschränkungen nicht andere Lebensformen ein, sondern Ehepaare, die nicht das Beste daraus machen.
      Die größte Entwertung der Ehe ist m.E. nicht, dass es auch Zölibat und Homosexualtität gibt, sondern die gesellschaftlich fast völlig unproblematische Serienmonogamie.
      Und wieso fällt mir gerade Horst Seehofer ein?

      Ob die Autoren es so gemeint haben, weiß ich nicht. Vermutlich nicht. Aber ich unterzeichne keine vermutete Aussageabsicht, sondern einen Text.

      Zu meinem Verständnis des Evangeliums würde auch noch mehr gehören. In den Text ist lutherisch gesehen auch viel Gesetz drin. Ich habe es jetzt auch nicht als evangelistischen Text verstanden.

    1. Gern. Und was, wenn jetzt mehrere es so verstehen würden und z.B. bekennend homosexuelle Theologen diese Erklärung unterschreiben würden? Schließlich muss man sich den Schuh ja nicht anziehen.
      (Ich will die Erklärung nicht darauf reduzieren, aber es ist so ein schönes griffiges Beispiel für das, was auch mit den anderen Punkten möglich ist.)

      In anderen Kontexten mache ich diese postmoderne Erfahrung andauernd: Ganz liberale Theologen etwa singen alte charismatische Lobpreislieder, weil ihnen diese Symbolsprache so zusagt. Die Einladung zu einem „Gebetsnetzwerk“ in der damaligen Nordelbischen Kirche fand Sympathie weit über die klassischen Allianz-Grenzen hinaus. Man kann das bedauern (Etwa mit Konstantin Wecker: „Unsere Feinde singen unsere Lieder, und wenn man Pech hat, klatschen sie sie mit.“) oder neue Chancen darin wittern, Feindschaften abzubauen.

      Das jetzt nur als unzusammenhängende Gedanken, die über Deinen Blogeintrag hinausgehen. Die Anfragen, die Du formulierst, kann ich gut verstehen, nur wie ich angesichts eines fertigen Textes damit umgehe, ist eine weitere Entscheidung. Eine Hermeneutik des Verdachts, die die Absicht vermutet, alte Fronten zu zementieren, dürfte dem einen oder anderen der Autoren sehr nahe kommen. Aber genauso gut kann ich auch naiv den Text lesen und sagen, „was nicht da steht, steht nicht da“, und meine ganz eigenen Deutungen finden.

      Was ist den Autoren möglicherweise sprachlich „gelungen“, diese postmoderne Lesart so schwer zu machen?

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