Bei einer Diskussion über geistliche Reife kam neulich mal wieder die Forderung auf, wir müssten mehr über „unsere Identität in Christus“ lehren. Ich empfand das als recht zwiespältige Angelegenheit, zumal das auch ein Schlagwort aktueller Sektengründer ist. Sie haben das aber nicht erfunden, sondern eine problematische Denkweise nur einen Schritt weiter getrieben.
Natürlich kann man das Thema auch auf gute Weise angehen, und das war zumindest die Intention. Vielleicht lässt sich das – zumal an Weihnachten – hier kurz gegenüberstellen:
Oft genug wird unsere Identität in Form von wörtlich zu nehmenden Behauptungen aufgeschlüsselt, und dann bekommt das Thema etwas Ideologisches: Wir sind in Christus dies und das, und zu diesem und jenem bestimmt. Konkret stürzt man sich meist auf Teile des Epheserbriefs, ohne nach rechts und links zu sehen. Am Ende steht dann eine Lehre wie: Wir sind in Christus erlöst, wir haben einen Platz im Himmel, wir sind zu Königen und Priestern bestimmt, es ist unsere Berufung, mit Christus zu herrschen. Und dann geht es um Heilung und Wohlstand und immer auch ein bisschen um Macht. Und eine gewisse Glaubensanstrengung ist nötig, um die offensichtliche Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht zu groß werden zu lassen. Man muss es möglichst laut und oft proklamieren, um die Zweifel einzudämmen.
Ich weiß nicht, ob wir davon wirklich mehr brauchen.
Identität hat aber weniger mit Satzwahrheiten als mit Geschichten zu tun. Die sympathischere Variante dieser Lehre funktioniert also narrativ. Ich bin Teil der großen Geschichte des Segens, den Gott seit Abraham über alle Völker bringen will. In Christi Menschwerdung, Tod und Auferstehung hat diese Verheißung begonnen, sich zu erfüllen. Ich bin mitgestorben und werde mit ihm auferstehen, und als „Anzahlung“ auf dieses Leben lebt und wirkt Gottes Geist in mir. Immer wenn ich denke, jetzt ist es aus mit meiner Kraft, meinem Glauben und meiner Liebe, dann fließt aus dieser Quelle etwas nach. Ich bin Teil dieser liebenden Suchbewegung Gottes nach den Menschen, die ihm verloren gegangen sind. Und damit lebe ich als Glied der christlichen Kirche in der Spannung von Verheißung und Erfüllung, Leiden und Herrlichkeit. Ich muss gar nicht viel über mich reden, aber viel über Jesus. Was „königlich“ und „herrschen“ bedeutet, bestimmt sich damit ideologiekritisch ganz exklusiv von dem einen König her, der sich selbst aller Macht und Pracht entleerte. Jedesmal, wenn wir das Abendmahl feiern, schaue ich auf diesem Weg Gottes mit uns (und damit auch mit mir) zurück und nach vorne.
Gibt es eine bessere Form, unsere wahre Identität zu bekräftigen, als Brot und Wein und diese große Story?
„Ich bin Teil der liebenden Suchbewegung Gottes nach den Menschen, die ihm verloren gegangen sind – „, zutreffender kann man es nicht formulieren. Ich bin nicht Zuschauer, der immer nur hört und liest, was Gott tut, sondern darf mich an seiner Suche nach Menschen beteiligen. Jetzt weiß ich, was ich auf meinen Wunschzettel zu Weihnachten schreibe:
Ich wünsch‘ mir von Papa einen Kursus in dieser Identitätsverwirklichung. Vielleicht wünscht er sich das auch von mir?
Danke, Peter.
Danke, Wie schön, dass es noch vernünftige Christen gibt, mit den Füssen auf dem Boden (und dem Kopf im Himmel). Das gibt mir als Freikirchen-Ausgetretenem wieder Hoffnung. Ich möchte auch wieder mal ein Abendmahl feiern ohne diese frommen Phrasen, Ansprüche und Forderungen; ohne Zwang zur Heilung (von unheilbarer Krankheit), Wohlstand und schönen Gebäuden. Und auf herrschen und Macht haben und auf (überhebliche) Proklamationen kann ich auch verzichten.
Sehr schön auf den Punkt gebracht Peter. Mir gefällt an deinen Ausführungen im letzten Teil auch, dass Identität nicht statisch verstanden werden muss und nur in vorgefertigten Formen zu finden ist, sondern dynamisch bleibt und sich stets anpasst, verändert, entwickelt – etwas mit leben zu tun hat 😉
Das ist doch schön. Diese „Wer wir sind in Christi“ Sache hatte damals auch ne kritische Seite für viele zunächst. Denn damals konnte man damit viele Verkrampfungen bekämpfen. Wir brauchen Gott jetzt nicht auf „Teufel komm raus“ im Worship zu fühlen, weil wir sind in Christus erlöst ob wirs merken oder nciht. Wir brauchen nicht vors Brandenburger Tor zu fahren um dort zu fasten und unser Dämonen austreiben zu lassen, denn wir sind schon heilig. Usw. aber als man sich immer mehr von der greifbaren erfahrung entfernte wurde man halt immer abgedrehter. Ich denke deine Neukonzeption ist da etwas sehr gesundes.
Hallo Peter, bei allem Einverstaendnis zum Zweiten Teil des Textes:
Ich habe ein bisschen das Gefuehl, dass du bei der Kritik ueber die Menschen, die etwas zum Thema Identitaet lehren, weitgehend ueberziehst. Eine Lehre beurteilt man nicht an ihrem Missbrauch (womit schon Paulus bei der Gnade stark zu kaempfen hatte).
Ich habe es fuer mich als sehr hilfreich erlebt, als mir verschiedene Leute (nicht aus der gleichen Gemeinde, und auch aus unterschiedlichem kulturellem Kontext und mit unterschiedlichem Herkunftsland – nur um dem beliebten „Sektenvorwurf“ zu entgehen), auf meine wiederholten Anfragen immer wieder sehr hilfreich geantwortet haben. Meine Anfragen bezueglich dem ganzen Drumherum der Frage, wie das mit der Identitaet wirklich ist: wer ist Gott? was kennzeichnet ihn? Wer ist Jesus? Wer bin ich, in Jesu Augen? Ein mir bislang leider oft fehlende theologisches Grundlagenwissen – bzw. eigentlich weiss ich es, aber es will mir nicht „ins Herz“, weil es nicht ausreicht es nur zu verstehen. (Ich bin mir uebrigens der Unklarheit/Uneindeutigkeit des Begriffes „Herz“ bewusst).
Das Ganze hat sehr viel mit Gnade und Leben unter der Gnade zu tun, und nur wenn es nicht richtig erfasst ist, fuehrt es zu den von dir beschriebenen Missbrauchserscheinungen.
Ich nutze hier „erfasst“ als konstruierten Gegensatz zu „verstanden“, weil lediglich „verstanden“ sehr leicht zu logischen Folgeschluessen fuehrt (in der Art von: „dann _muss_ man ja…“) – die in die von dir genannten Irrwege fuehren.
Was denkst du? Habe ich dich falsch verstanden? Ueber einen Kommentar wuerde ich mich freuen!
@Thomas: Zum ersten denke ich nicht, dass hier ein Missbrauch einer „gesunden Lehre“ vorgelegen hat, sondern eine schon längst problematische Art, Dinge zu betrachten und darzustellen. Ein paar Aspekte dazu habe ich ja kurz angerissen. Es erinnert dann sehr an irgendwelche Mentaltechniken.
Zum andern – und jetzt weiß ich nicht, ob ich dich hier richtig verstehe – lässt sich die Frage nach Identität für mein Empfinden immer nur in der Form von konkreten Geschichten beantworten und nicht in irgendwelchen begrifflichen Abstraktionen. Die können bestenfalls Kürzel für eine Geschichte werden („Gnade“ zum Beispiel ist so ein Fall).
Dann aber fällt auch der Gegensatz, von dem Du sprichst, in sich zusammen: Ein kognitives Verstehen und die Schwierigkeit, das affektiv wieder einzuholen. Geschichten leisten immer beides, wenn sie gut und wahr sind.
Das ist schon wirklich eine spannende Sache, abstrakte Aussagen in Geschichten umzuwandeln. Da werden Dinge auf einmal viel klarer.
Was ich zum Beispiel die hartnäckigen Verfechter von Position 1 (Identität in Satzwahrheiten) immer mal gerne fragen würde: Könnt Ihr Euch wirklich vorstellen, dass Paulus mit seinen Leuten im Kreis gestanden ist – und die dann alle mit geschlossenen Augen und heißer Inbrunst proklamiert haben: „Ich bin mehr als ein Überwinder“, „Ich bin dies“, „Ich bin das“?
Alleine die bildliche Vorstellung treibt einem die Tränen in die Augen.
Weitere Anwendungsmöglichkeit: Man frage Leute mit sehr elitärem Gemeindeverständnis (wohl auch Kandidaten für Position 1), wie sie denn die Behauptung „wir sind wohl die einzig wirklich christliche Gemeinde an diesem Ort“ als Geschichte erzählen würden.
Das tun sie (wohlweislich) nicht, denn die Geschichte würde sich in etwa so anhören: Durch Jesus ist die christliche Kirche entstanden. Nach Jesus kam die Urgemeinde. Die haben alles richtig gemacht. Dann war mehrere 1000 Jahre Stillstand und Irrlehre. Und dann kam Gott sei Dank vor einigen Jahren unsere Gemeinde. Endlich kann Gott richtig wirken.
Tränen …
Jetzt bin ich ein bisschen traurig – gegen Geschichten habe ja garnichts. Ich bin immer fuer eine gute Geschichte, oder die Einbettung einer Aussage in eine Geschichte.
Vorweg, mein Hintergrund, um nicht in kleinen,unbequemen Schachtel zu landen: wenn ich in Deutschland bin – arbeite im Augenblick in England – ist meine Gemeinde eine lutherische Gemeinde. Aber ich schaetze freie Gemeinden auch sehr, bin hier in einer. Also bitte mich nicht mal schnell „einschachteln“.
Sind Aussagen wie „Ich bin ein Kind Gottes“, „ich bin erwaehlt“, „ich bin Teil des Lichts der Welt“ falsch? Ueber solche rede ich. Und ich schrecke immer noch zusammen, wenn ich solche mal ausspreche. Es passt nicht in mein traditionelles christliches Weltbild, zum Teil sind diese Aussagen ja „unerhoert“, klingen anmassend, ueberheblich.
Aber das sollte ich nicht – wenn Jesus sowas sagt (und diese Aussagen habe ich jetzt einfach mal aus den Evangelien genommen – Johannes, die ersten beiden), dann sollte ich die einfach nehmen duerfen, um mir mehr gegenwaertig zu werden, wer ich bin.
Das ist fuer mich sehr ermutigend 🙂
Und Abendmahl – mir sehr wichtig! Aber fuer mich ging es hier nicht um „einen Sieger“ oder um „was trumpft was“, sondern nur darum, klarzustellen, dass Identitaetsaussagen auch fuer sich genommen hilfreich sein koennen. Ich lehne ja die Geschichte nicht ab, und Geschichten folgen auf natuerliche Weise den Aussagen.
Beide Richtungen gehen meiner Meinung nach, Aussage und daraus natuerlich ergebende konkrete Geschichte (oft die Reflektion des Gesagten an der eigenen, selbst erlebten Geschichte) – oder anders herum, wie bei den Gleichnissen.
Sind wir uns eigentlich mittlerweile einig, oder siehst du das anders?
@Thomas: Uups, ich wollte dich nicht kränken und sicher nicht einschachteln. Ich denke, wir sind uns weitgehend einig. So lange der Kontext immer präsent ist, sind die Aussagen, die Du zitierst, auch nicht überheblich. Der bleibende Unterschied ist vielleicht der, dass ich das einseitiger sehe in dem Sinn, dass der Weg von der Geschichte (jetzt der biblischen, nicht meiner persönlichen) hin zur Kurzformel geht, aber nicht umgekehrt. Zumindest nicht ohne größere Risiken.