Henry Nouwen, Reaching Out (4): Platz für Fremde

Nouwen kommt zum zweiten Teil, in dem es um das Verhältnis zum Mitmenschen – dem anderen – geht:

Wir leben in einer Welt voller Fremder – nicht nur in dem Sinne, dass wir die meisten Menschen nicht kennen, die uns täglich begegnen, sondern auch in dem Sinn, dass sich viele als entwurzelt erleben. Die Unsicherheit macht Menschen ängstlich und aggressiv. Gastfreundschaft – die Liebe zum Fremden – ist in dieser Umgebung ein Schlüsselmerkmal christlicher Spiritualität. Denn in den biblischen Geschichten sind es oft die Fremden, die Gottes Verheißung mit sich tragen: Die Männer, die Abraham besuchen, Elia als Gast der Witwe, Jesus selbst mit den beiden auf dem Weg nach Emmaus. Eine Grundhaltung der Gastfreundschaft – der Zuwendung zum Fremden – macht heilende Gemeinschaft (“recreative community”) aus.

Von Natur aus stehen wir Fremden zwiespältig gegenüber. Gerade Menschen, die offensichtlich einen anderen sozialen und ethnischen Hintergrund haben, misstrauen wir in der Regel so lange, bis sie den Beweis erbracht haben, dass sie unbedenklich sind. Wir würden uns gern mehr um andere kümmern, instinktiv aber weichen wir ihnen aus. Selbst Kollegen und Kommilitonen betrachten (und erleben!) wir immer wieder als Konkurrenten. Der Friede und die Harmonie, die wir nach außen hin darstellen und propagieren, ist manchmal hinter den Kulissen vor lauter Konflikten nicht mehr anzutreffen. Der erste Schritt zur Veränderung ist, dass wir uns das eingestehen.

Dann kann Gastfreundschaft wachsen: Ein Ort, den ein Fremder in aller Freiheit betreten und wo er zum Freund werden kann. Wir versuchen Menschen nicht zu verändern oder auf unsere Seite zu ziehen. Wir treiben niemanden in die Enge, sondern eröffnen ihnen die Weite. Wir versuchen nicht sie zu beeindrucken und geben ihnen die Möglichkeit, sich selbst und Gott auf ihre ganz eigene Weise zu finden.

Das Paradox der Gastfreundschaft ist, dass sie eine Leere schaffen will, keine beängstigende Leere, sondern eine freundliche Leere, die Fremde betreten können und entdecken, dass sie als Freie geschaffen wurden; frei, ihre eigenen Lieder zu singen, ihre eigenen Sprachen zu sprechen, ihren eigenen Tanz zu tanzen; frei, auch wieder zu gehen und ihrer Berufung zu folgen. (S. 49)

Ein solcher Freiraum muss manchmal mühsam erkämpft werden, so wie man bei einem größeren Unglück Rettungswege durch in Panik geratene Menschenmengen bahnen muss. Und der leere Raum weckt alle möglichen Ängste, die wir gern durch Gerede und Hektik zerstreuen. Wir sind von so vielen Dingen, die wir für wichtig halten, eingenommen (occupied: “beschäftigt”/“besetzt”) und daher so oft auch vor-eingenommen (preoccupied), weil wir viele Fragen nicht offen lassen können und lieber nach der erstbesten Lösung greifen, die sich uns bietet.

Unsere Vorurteile sorgen in beruhigender Weise dafür, dass alles bleibt, wie es ist. Sie sind Mauern, die uns vor der beängstigenden Weite schützen. Dem Anthropologen Carlos Castaneda sagte der Indianer Don Juan, er müsse aufhören, sich ständig einzureden, dass alles in Ordnung sei. Ganz ähnlich spricht Jesus davon, dass unsere Sorgen verhindern, Gottes neue Welt zu sehen und in sie einzutreten. Dann erst können wir ein neues Verhältnis zu einander finden:

Wir können die Welt nicht durch einen neuen Plan, ein neues Projekt oder eine Idee verändern. Wir können nicht einmal andere Menschen verändern durch unsere Überzeugungen, Geschichten, Tipps und Vorschläge, aber wir können einen Freiraum schaffen, der Menschen ermutigt, ihre Waffen abzulegen, ihr Eingenommensein und ihre Voreingenommenheit abzulegen und dann aufmerksam und sorgfältig auf die Stimmen aus ihrem Innersten zu hören. (S. 53)

(Wer nachlesen möchte: hier geht es zu Teil 1, 2 und 3)

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