Wer verändert die Welt?

Es war das Frühjahr 1978. Ich lag mit einer Grippe im Bett und hatte alles Lesbare in meinem Zimmer verschlungen. Gähnende Langeweile machte sich breit. Irgendwann war sie dann so unerträglich, dass ich dieses Buch zu lesen begann, das meine Mutter auf meinem Nachtkästchen deponiert hatte. Wenn man Dreizehn ist, sind Bücher, die die eigenen Eltern gut finden, per definitionem langweilig. In diesem Fall beschrieb ein amerikanischer Prediger, wie Gott – ein erstaunlich unmittelbar redender, mir bis dahin unvorstellbarer Gott – ihn nach New York schickte, um dort Drogenabhängigen aus ihrem Elend zu helfen. Ich war fasziniert.

Meine Frage damals war, wie man die Welt verändern kann. Dass es dringend nötig war, die Welt zu verändern, war für mich keine Frage. An allen Ecken und Enden konnte man als denkender Mensch Krisen am Horizont erkennen: Hunger, Überbevölkerung, Ölkrisen, Umweltzerstörung oder ein möglicher Atomkrieg, das waren nur die wichtigsten Sorgen. Wissenschaftler und Politiker mussten nach Lösungen suchen. Aber würde es ihnen gelingen, die Welt zu retten? Mitten in diese Zweifel hinein traf nun also die Erkenntnis, dass Christentum mehr sein konnte als Traditionspflege und ein etwas höherer moralischer Anspruch; dass Menschen und Verhältnisse sich ändern könnten. Denn wenn das bei Drogenabhängigen wirkt (für einen 13-Jährigen so ziemlich das Schlimmste, was man sich ausmalen konnte – die „Kinder vom Bahnhof Zoo“ hatten gerade mächtig für Schlagzeilen gesorgt, ohne Lösungen anzubieten), dann ist auf einmal vieles denkbar. Ich machte mich auf die Suche und landete bei katholischen Charismatikern.

Was mir erst einmal gar nicht so auffiel, war die Tatsache, dass dort viel weniger vom Verändern der Welt die Rede war, ebenso wie beim evangelischen Pendant, dagegen viel mehr vom Verändern der Kirche. Erst die Kirche, dann kommt die Welt schon von selbst, schien die Devise zu sein. Wie alle Erneuerer waren sie vom eigenen Anliegen begeistert und überzeugt; die Schattenseite davon war, dass man dazu neigte, alle anderen als defizitär einzustufen. In dem Maß, wo der (teils unverdiente, teils auch verdiente) Widerstand zunahm, verhärteten sich die Fronten dann oft. Das Muster ließ sich damals in schöner Regelmäßigkeit landauf, landab beobachten, anhängig von den Protagonisten verliefen die Lagerbildungen mal friedlicher, mal heftiger.

Unglücklicherweise schien die größte Inkompatibilität, die unerbittlichste Konkurrenz und das heftigste Misstrauen gegenüber den Aktivisten zu bestehen, die sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzten. Der eigentlich doch eher anarchische charismatische Impuls begann, sich mit konservativen bis reaktionären Bildern von Kirche und Gesellschaft zu verbinden.

Heute sehe ich das sehr deutlich, als Teenager war ich dazu gar nicht in der Lage. Ein paar Jahre lang dominierten fromme Erweckungsphantasien, die bevorzugt aus „überkonfessionellen“ Bewegungen importiert wurden, die geistliche Tagesordnung. Richard Rohr hat mir vor ein paar Jahren erzählt, wie er sich in dieser Phase aus dem charismatischen Spektrum löste, weil er solche Engführungen und Dualismen ablehnte. Auf der Haben-Seite standen jedoch authentische Gotteserfahrungen. Vielleicht lag es daran, dass ich die Schattenseiten erst später richtig bemerkte.

Heute sehe ich Vieles in einem anderen Kontext als damals. Konkret wurde ich an meine eigenen Erfahrungen erinnert, als ich in Walter Winks Autobiographie „Just Jesus“ las, wie er 1954 als junger Student in einer ausgewachsenen Glaubens- und Sinnkrise bei Pfingstlern in Salem/Oregon die „Geisttaufe“ erlebte. In einem Gottesdienst spürte er während des Singens ein Kribbeln am ganzen Körper, als stünde er unter Strom: „Ich wusste, dass etwas Reales, etwas, das stärker war als Dynamit, mit mir spielte.“ Als die Pastoren mitbekamen, dass da gerade etwas mit dem jungen Walter geschah, beteten sie nach dem Gottesdienst weiter mit ihm:

Die drei Pfarrer standen um mich herum, während ich mich hinkniete, priesen Gott und sprachen in Zungen, und machten das herrlichste Getöse, das ich je gehört hatte. Plötzlich schwanden meine Ängste, Stolz, Zweifel, und all meine Vorbehalte. Da waren nur noch Gott und ich, und der Lobpreis war wie eine Barriere, die alles andere draußen hielt. Nun nahm die Kraft zu, die durch mein Blut, meine Nerven pulsierte. Meine Füße brannten, die Hände ebenso. Plötzlich berührte eine Hitze meine Beine. Sie breitete sich aus. […] Ich erinnere mich an die herrliche Befreiung, als ich im Knien meine Hände zu Gott ausstreckte.

Wink beschreibt, wie er aufstand, umfiel und aufgefangen wurde, lachte, sang und sich in dem allen vollkommen geborgen wusste. In den folgenden Monaten musste er diese umwälzende Erfahrung in sein Leben integrieren. Auf der einen Seite fühlte er sich ganz und heil wie nie zuvor. Auf der anderen Seite fühlte er sich gespalten – Verstand und Erfahrung, Geist und Kreatürlichkeit schienen nicht zusammen zu passen. Im Blick auf die fundamentalistische Theologie, die ihm dort begegnet war, kam er zu dem Schluss, dass Gott ihm die Vernunft, die er ihm anvertraut hatte, neu zurückgab — mit der Aufforderung, doch kräftig Gebrauch davon zu machen. Etwa dadurch, dass er den Dualismus von Geist und Materie, der damals die Theologie bestimmte, nachdrücklich in Frage stellte und sich auf den Weg zu einer integralen Spiritualität machte. Mit gravierenden Folgen für die Frage, ob das Gebet etwas in dieser Welt ausrichten kann.

Hier schließt sich für mich der Kreis. Ich habe das Gefühl, dass ich über die letzten vielleicht zehn Jahre Ähnliches erlebt habe wie das, was Wink beschreibt. Ich habe nie aufgehört zu fragen, wie man die Welt verändert. Das Evangelium spielt für mich dabei eine wichtige Rolle, nicht der Glaube an einen Fortschritt, der alles von selbst löst. Ich glaube zudem schon lange nicht mehr, dass sie heil wird, indem wir sie verkirchlichen. Vor allem, wenn damit eine Frömmigkeit einhergeht, die sich ängstlich, überheblich oder feindselig abgrenzen muss, und die mit den reaktionären Kräften (Tea-Party/PI-News…) in unserer Gesellschaft gemeinsame Sache macht. Ich glaube, dass der Sinn charismatischer Erfahrung das exakte Gegenteil dieser Dinge ist: Sie macht frei von Angst, schüttelt Ordnungen und Hierarchien durcheinander, sie hebt soziale Schranken auf. So ähnlich sieht das auch Gilles Kepel. Er erkennt revolutionäres Potenzial sogar bei klassisch pfingstlich-evangelikalen Erweckungspredigern:

Dadurch, dass die Erweckungsprediger den einzelnen in unmittelbaren Kontakt mit dem Jenseits bringen wollen, ermöglichen sie es ihm, sich ohen Rücksicht auf Macht-, Wissens- und Besitzungleichheiten über sein gesellschaftliches Umfeld oder seine berufliche Lage einfach hinwegzusetzen. Jeder kann gerettet werden – ob arm oder reich, ob schwarz oder weiß, ob Landwirt oder Geschäftsmann. Der Geist weht, wo er will – oder doch wenigstens dort, wo der Prediger ihn hinlenkt. Ethnische oder familiäre Abstammung haben keine Bedeutung mehr. (S. 168) … Wunderheilungen, die man gemeinhin als ein Zeichen für die Scharlatanerie des Arztes und die geistige Zurückgebliebenheit des Patienten betrachtet, implizieren eine vergleichbare, ja radikalere Infragestellung der gesellschaftliche Hierarchie des Wissens und der Kompetenzen. (169)

Kepel unterscheidet in seinem 1991 erschienenen Buch übrigens Evangelikale, denen es um die „Resozialisierung“ einzelner durch eine neue Beziehung zu Gott und die Einbindung in christliche Gemeinschaft ging, die aber eher apolitisch blieben, von Fundamentalisten wie Jerry Falwell, deren politische Kampagnen und Mobilisierungen am rechten Rand des politischen Spektrums gegen den „säkularen Humanismus“ stattfanden. Die Tea-Party ist eine aktuelle Auswirkung dieser Richtung, beziehungsweise eine Folge davon, dass der Fundamentalismus seit den Achtzigern stark. Die Fixierung weiter Teile der konservativen Christenheit, nicht nur in den USA, auf die Themen Abtreibung, Homosexualität, Pornographie, den schon erwähnten „Humanismus“ und „Zerstörung der Familie“ hat hier ihren Ursprung. Die Fundamentalisten bekamen regen Zulauf aus dem Lager der Evangelikalen, das hat Scot McKnight vor ein paar Jahren erst erneut beklagt.

Mit dem Ansatz der Resozialisierung von unten (frei nach Franckes „Weltveränderung durch Menschenveränderung“) kam ich eine Weile ganz gut zurecht. Mit den fundamentalistischen Einflüssen – dem strikten Verbot von Bibelkritik und erst recht der reaktionären politischen Agenda – kam ich dagegen nie klar. Da hielt ich mich lieber an Ron Sider und Tony Campolo. Spätestens seit Beginn der 90er Jahre fragte ich mich: Wo sollten neue Impulse herkommen? Die einen machten kräftig Anleihen in der Psychologie und übersetzten deren Erkenntnisse oder Theorien in christlichen Jargon, die anderen orientierten sich am Managament und entwickelten ein marktkonformes Christentum. Beides oft erstaunlich unkritisch. Das war der institutionellen und traditionellen Kirchlichkeit zwar in mancher Hinsicht überlegen, doch es hatte auch seine Schattenseiten. Der Neoliberalismus kam ihm nämlich zu jedem Knopfloch heraus. Um Kepel noch einmal zu zitieren:

… anders als in Ländern katholischer Tradition, in denen die Kirche über eine starke institutionelle Position verfügt, tummeln sich auf dem amerikanischen Markt zahllose kleine, unabhängige Unternehmer, die getreu den Gesetzen des Kapitalismus in scharfer Konkurrenz zueinander stehen. […] Nirgendwo im zeitgenössischen Katholizismus, Islam und Judentum findet sich jene Wahlverwandtschaft zwischen einer religiösen Bewegung und dem – mitunter bis zum äußersten getriebenen – Geist des Kapitalismus. (196)

Auch hier hatte ich Dinge gefunden, die ich sympathisch und ansprechend fand, ich lernte ernsthafte und engagierte Leute kennen – und spürte nach einer Weile trotz allem eine Kluft, die ich nicht recht überbrücken konnte, weil sie nicht so sehr mit Äußerlichkeiten zu tun hatte, es ging vielmehr um das Wesen des Evangeliums.  Es dauerte eine Weile, bis ich das für mich so klar formulieren konnte. Aber was ist das Evangelium und inwiefern geht eine verändernde Kraft von ihm aus? Das war die Frage, die sich rund um das 40. Lebensjahr stellte und neu beantwortet werden musste. Dieser Blog enthält die Spuren dieses Fragens. In aller Dekonstruktion, die das auch auslöste, war es eher ein zähes Ringen als ein plötzlicher Bruch. Die Antworten mussten nicht nur vom Verstand her stimmig sein, so viel war klar. Dass darin meine Lebensfrage aus der achten Klasse wieder mit neuem Nachdruck auftauchte, fiel mir zunächst gar nicht so auf.

Im Verlauf dieser Zeit habe ich immer wieder Menschen kennengelernt, die ähnliche Fragen stellen und benachbarte Wege gehen – seltene und sehr kostbare Momente waren das. Trotzdem waren sie zahlreich genug, um Kurs zu halten und nicht den Mut zu verlieren, wenn Gewohntes nicht mehr greift oder wenn ich merke, wie groß die innere Distanz zu manchem geworden ist, was in früheren Zeiten noch Heimatgefühle bewirkt hat. Wink erzählt in seiner Biografie, dass er später als Professor in New York einem geistlichen Begleiter von seiner Gottesbegegnung bei den Pfingstlern in Oregon berichtete. Damals glaubte er, die Erfahrung sei verschüttet und verloren. Sein Gegenüber antwortete:

Glaube bedeutet, die Erfahrung zu leben, wenn man sie nicht sehen kann. Deine Erfahrung hat Dir ein unerschütterliches Gespür für das Leben gegeben. Hat Gott seine Meinung geändert? Denkst du, Gott hat keine Verwendung mehr für dich? Glaubst du nicht, dass Gott möchte, dass du heil wirst? Du kennst die Wahrheit. Du kannst nicht mehr zur Unwissenheit zurückkehren.

Wink lernte damals, zu seiner Erfahrung zu stehen, ohne bei ihr stehen zu bleiben. Auch damit hat er dazu beigetragen, meine Welt – und die vieler anderer – kräftig zu verändern.

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Die Suche nach der verlorenen Heimat

Gilles Kepel befasst sich seit langem mit fundamentalistischer Religiosität. 1991 schrieb er sein Buch „Die Rache Gottes“ und markiert die späten Siebziger als Beginn einer „Krise der Moderne“, die in den unterschiedlichen Religionen zu ähnlichen Phänomenen führt. Man versucht, die Moderne mit ihren eigenen Mitteln zu überwinden.

Der neue Kurs der katholischen Kirche seit dem Amtsantritt von Papst Johannes Paul II. oder die evangelikalen Bewegungen, die die Vereinigten Staaten bis ins Innerste erschüttern, werden – außerhalb der ständig größer werdenden Schar der Anhänger – herablassend als eine Erscheinungsform des mittelalterlichen Obskurantismus interpretiert.

Wenn man diese Phänomene aber miteinander vergleicht, erkennt man, dass dieses weitverbreitete Urteil nicht den Tatsachen entspricht. Die meisten Anhänger und Aktivisten der zeitgenössischen religiösen Bewegungen entstammen keineswegs ungebildeten Bevölkerungsschichten (Analphabeten, alten Menschen, Bauern usw.), sondern verfügen häufig über ein staatliches Diplom in vorwiegend technischen Studienrichtungen. Die Art und Weise, wie sie die Gesellschaft beschreiben, deren Krise analysieren und eine Therapie vorschlagen, ist geprägt von Denkmustern eines Bildungssystems, das selbst eine typische Errungenschaft der Moderne ist – die sie doch gerade bekämpfen wollen. (…)

Die religiösen Bewegungen zu studieren, die damals auf der ganzen Welt aus dem Boden schießen, heißt, durch sie hindurch die umfassenden Veränderungen zu erkennen, die die zeitgenössischen Gesellschaften in diesem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts durchmachen – Veränderungen, deren Auswirkungen die Öffentlichkeit zwar empfindet, deren Ursachen ihr jedoch schleierhaft sind. Diese mitunter so sonderbar, irrational und fanatisch anmutenden Bewegungen zu studieren heißt, ihre Argumentation und die von Ihnen angestrebten Alternativen Sozialisationsformen in dem Maße ernst zu nehmen, wie sie über eine Welt verzweifeln, in der sie sich nicht mehr zu Hause fühlen.

Auf dem Studientag emergente Theologie (8./9. Mai in Fulda) werden wir uns übrigens weiter und intensiver mit der Thematik auseinandersetzen.

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Schließlich

„Ich gehe jetzt zur Tür hinaus
und komme wieder rein,“ sagte sie
„und dann fangen wir nochmal an,
als wäre nichts  gewesen.“

Das Leben ist eine lange Reihe von Türen
du drückst die Klinke und gehst durch
sie fallen von selbst ins Schloss
noch bevor du dich im Raum gründlich umgesehen hast.

Ein Zurück ist nicht vorgesehen.
Du kannst weiter gehen.
Jemand kann dir öffnen:
Neue Türen, andere Räume.

Es befiehlt sich kategorisch, sagen sie,
stets so zu handeln,
dass man die Optionen vermehrt.
Maximiere die Möglichkeiten!

Wenn ich aber nur eine Wahl habe
und nicht hinter die nächste Tür blicke,
was nützen die vielen Optionen
– ich grüble nur länger.

Wie anschlussfähig ist das Schicksal?
Unsichtbar zieht es die Tür zu,
schließt aus, was eben noch möglich war,
mich selbst eingeschlossen.

Es war ja meine Wahl.
Erschöpft sinke ich zu Boden
Lehne mich an das unverrückbar Vergangene
Die Rest-Zukunft im prüfenden Blick.

Es ging schon mal einer
frei durch Türen und Wände
auch durch die letzte.
Ich staune ent:schlossen.

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Sinndustrialisierung

Wie „diesseitige Tranzendenz“ funktioniert, schildert Zygmunt Bauman in „Postmoderne Religion?“ so treffend, dass es auch nach gut 15 Jahren nicht minder aktuell klingt. Nicht die Konsumgüter an sich lassen die Kassen klingeln, sondern die Verheißung ungeahnten Erlebens – eine Art Heilsversprechen bzw. eine Form der Erleuchtung. Dazu muss der Konsument allerdings seinen Teil beitragen und an sich arbeiten, indem er nämlich seine Genussfähigkeit maximiert. Auch dafür gibt es selbstverständlich die passenden Dienstleistungen und Angebote:

Das Versprechen neuer, überwältigender, sinnverwirrender oder haarsträubender, jedenfalls immer erregenderer Erfahrungen gilt als das Verkaufsargument für Lebensmittel, Getränke, Autos und Kosmetika genauso wie Brillen oder Pauschalreisen. Alles lockt mit der Aussicht auf bis dato unbekannte Eindrücke, die zu »durchleben« stärker wäre als jegliches bereits Probierte. Jedes neue Gefühlserlebnis muss »größer«, überwältigender und aufregender werden als das vorherige, und das Schwindelgefühl eines »totalen« Gipfelerlebnisses winkt immer schemenhaft am Horizont. Man hofft – und genau dies wird auch stillschweigend oder ausdrücklich insinuiert –, man werde auf dem Wege der quantitativen Akkumulation sinnlicher Intensität schließlich zu einem qualitativen Durchbruch gelangen – zu einem nicht nur tieferen und genussreicheren, sondern »völlig anderen« Erlebnis; man hofft, auf dieser Reise würden einem »metaempirische« Waren und Dienstleistungen helfen – alles was darauf abzielt, die psychischen und körperlichen, »Eindrücke empfangenden« Kräfte und Fähigkeiten zu stärken. Es geht nicht nur um das Angebot immer noch erhabenerer Freuden – man muss auch lernen, das ganze in ihnen enthaltenen Potenzial herauszupressen; (…)

Das Ziel eines solchen Trainings charakterisiert die Metapher des multiplen Orgasmus: ein Körper in Hochform, in dem ein ebenso trainierter Geist steckt, ist in der Lage zu wiederholter, ja sogar anhaltender Gefühlsintensität; ein Körper, der immer auf der Höhe ist, stets offen für alle Erfahrungsmöglichkeiten, die die Welt ringsum nur bieten kann – eine Art wohltemperiertes Klavier, jederzeit zu Melodien von erhebender Schönheit bereit.

 

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Mose und die kooperative Anarchie

Mit dem Ruf nach Recht und vor allem „Ordnung“ werben Politiker der Rechten von Putin bis Le Pen für ihren Kurs. Sollte man ihnen dabei zustimmen oder muss man ihren Vorstellungen von einer gerechten Gesellschaft – als Christ wenigstens – energisch widersprechen?

Ich hatte kürzlich schon einmal Walter Dietrich zum Thema Gerechtigkeit zitiert. Für ihn stellt das Stichwort die Achse dar, um die sich das Erste Testament dreht, alle Brüche und Widersprüche eingeschlossen. Dietrich charakterisiert die Grundspannung an dieser Stelle so, dass er quasi von einer Gerechtigkeit von oben und einer von unten redet:

Rückblickend stellen wir fest, dass die gesamte Geschichte des Volkes Israel von der Grundfrage bestimmt ist, wer das Recht auf seiner Seite hat, wer am Ende Recht behalten soll: die mit den Verhältnissen jeweils Zufriedenen, weil durch sie Bevorzugten, mit ihrem Weltbild eines zuverlässig stabilen Kosmos und eines geregelten Oben und Unten zwischen den Menschen, und ihrem Gottesbild von einem majestätisch fernen, verlässlich gleichbleibenden, in uralten Mythen und festgelegten Riten zu verehrenden Hochgott – oder die an den Verhältnissen jeweils Leidenden, die durch sie Benachteiligten, mit ihrem Weltbild von der möglichen und oft genug erwiesenen Veränderbarkeit der Ordnungen und vom Recht aller auf ein menschenwürdiges Leben, sowie ihrem Gottesbild von dem durch die Geschichte mitgehenden, sich in die konkrete Lebensgestaltung der Menschen einmischenden und namentlich die Schwachen schützenden Gott des Volkes .

Richard Horsley argumentiert, dass der Aufstieg Israels zum Königreich und zur zeitweiligen Regionalmacht diese begriffliche Doppelbödigkeit verursachte, weil ab Saul, David und Salomo das imperiale Königsrecht zunehmend neben und allmählich über das mosaische Bundesrecht gesetzt wird, das aus der Erinnerung an Sklaverei und Befreiung eine hierarchische Gesellschaft und ein wirtschaftliches Gefälle im Volk verhindern sollte, eine Art sozialökonomische Charta. Er schreibt: „Israel war im Blick auf JHWH eine Theokratie, hinsichtlich der konkreten sozialen Praxis könnte man es aber als kooperative Anarchie bezeichnen.

Gott verschafft den klagenden Hebräern Recht, und er gebietet ihnen auch, Recht zu halten  – Spiritualität und soziale Verhältnisse werden mit demselben Wortfeld charakterisiert. Die Propheten klagen auch in den folgenden Jahrhunderten die alte, egalitäre mosaische Ordnung immer wieder gegen die (in ihren Augen: heidnische) Machtpolitik der Könige ein und kündigen sogar das Ende der Monarchie an – und des Tempels, mit dem die Könige sich schmückten und dessen Priester ihnen ergeben waren.

In der neu entwickelten Ideologie des imperialen Königtums wurde der König „zur Rechten Gottes“ inthronisiert und im Namen Gottes als „der Messias“ ausgerufen, „der (eingeborene) Sohn JHWHs“ (wie die Großen Mesopotamiens), dem Gott alle Könige und Völker unterworfen hat (Psalm 2; 110). Die Ideologie imperialen Königtums richtete sich auf einen anderen „Bund“ – zwischen JHWH und der davidischen Dynastie – der schließlich den mosaischen Bund zwischen JHWH und dem ganzen Volk überschrieb und unterdrückte (2. Samuel 7).

Liest man die Texte, ohne diese Unterscheidung zu beherzigen, dann ergibt sich in der Tat ein sehr widersprüchliches Bild. Es wird nicht nur schwer bis unmöglich, die Propheten zu verstehen, sondern auch die Botschaft Jesu. Der nämlich beginnt sein Wirken nicht von ungefähr im ländlichen Galiläa, und er knüpft mit seiner Predigt vom Schuldenerlass und der Rückgabe enteigneter oder gepfändeter Güter am mosaischen Ideal an. In der Zuwendung zu den Armen, der Kritik an Tempel und Palast, der radikalen Ablehnung hierarchischer Machtverhältnisse und der damit verbundenen Proklamation der Königsherrschaft JHWHs nimmt er den Gedanken einer alternativen, freien Gesellschaft wieder auf und entwickelt ihn fort.

Gerade indem Jesus scheinbar „konservativ“ auf die ältere Tradition zurückgreift, untergräbt er das Imperium: Denn diese Vorstellung von Gerechtgkeit zeigt, wie Dietrich sagte: Ordnungen und Verhältnisse können und müssen geändert werden, da wo sie Menschen von einem menschenwürdigen Leben ausschließen. Verbindungen von Christentum und “Abendland“ oder Orthodoxie und Nation zementieren in der Regel Ungleichheit und Unmenschlichkeit, selbst wenn sie unaufhörlich die Moral- und Ordnungskeule gegen Minderheiten schwingen, weil die ihre Gewohnheiten in Frage stellen.

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Tod und Popcorn

Der Tod drängelte sich – unerwartet, wie so oft – ganz oben auf die Tagesordnung meiner letzten Woche. Das relativierte manches, was mich sonst vielleicht mehr beschäftigt hätte, ließ mich aber noch länger über ein paar Seiten aus Zygmunt Baumans Essay „Postmoderne Religion?“ nachdenken. Dort spricht Bauman von einer „antieschatologischen Revolution“ in der Moderne. Gegenüber der Vormoderne, deren ganz Sorge sich um die Frage des ewigen Seelenheils drehte, verschiebt sich die Aufmerksamkeit radikal auf das Diesseitige. Sünden- und Höllenängste des Mittelalters führten ironischerweise dazu, dass die

Faszination und Betörung durch das Leben nach dem Tod sowie die Anforderungen einer ganz auf Seelenheil ausgerichteten Frömmigkeit auf Gipfel getrieben wurden, die für Menschen, die noch am normalen Leben teilnehmen wollten, nicht mehr zu erreichen waren. Mönche. Prediger und andere »Künstler religiösen Lebens« setzten Frömmigkeitsmaßstäbe, die nicht nur mit allgemein verbreiteten »sündhaften Neigungen« kollidierten, sondern auch mit der bloßen ‚Aufrechterhaltung des Lebens als solchem; die Aussicht auf ein »ewiges Leben« geriet damit für alle mit Ausnahme einiger Heiliger außer Reichweite.

Als Reaktion darauf und nicht unbedingt im Sinne der Bußprediger, entwickelte sich aus dieser Maßlosigkeit heraus einerseits eine makabre Zurschaustellung von Tod und Leiden, andererseits schlug das memento mori um in ein memento vivere und die Freuden des irdischen Lebens (geflissentlich übersehen von vormodernen „missionarischen“ Paradigmen, die bis heute alles auf die Frage konzentrieren, wohin jemand wohl käme, sollte er heute sterben).

Denn analog zum paulinischen „Tod, wo ist dein Stachel?“ entwickelte die Moderne mit großem Erfolg drei komplementäre Strategien, um den Schrecken des Todes zu relativieren.

Der Tod wurde erstens in professionelle Obhut verwiesen und aus dem Alltag ausgegliedert:

Wie alles andere im Modernen Leben wurde der Tod einer arbeitsteiligen Behandlung unterworfen: er wurde zur Sache von »Spezialisten«. Für alle übrigen, die Nichtprofis, entwickelte sich der Tod zu etwas Anstößigem; eine peinliche, in gewisser Weise […] der Pornografie verwandte Angelegenheit, ein Ereignis, über das man nicht öffentlich und schon gar nicht »vor den Kindern« sprach. Man verbannte die toten und vor allem die Sterbenden aus dem Alltagsleben…

Zweitens wurde der Tod zerlegt in Einheiten, die sich bewältigen ließen:

Wie alle anderen »Ganzheiten« wurde auch die Aussicht auf den absolut und unwiderruflich bevorstehenden Tod scheibchenweise in unzählige, immer kleinere Bedrohungen für unser Überleben fragmentiert. an dem Faktum selbst kann man nicht viel ändern, und es wäre einfältig, sich mit etwas zu befassen, woran nun einmal nichts zu ändern ist. Die kleinen Gefahren jedoch kann man bekämpfen, zur Seite drücken, ja sogar besiegen. Und der Kampf gegen sie ist eine so zeit und energieraubende Betätigung, dass von beidem nichts übrigbleibt, um über die letztendliche Nichtigkeit all dessen nachzusinnen. Der Tod […] wurde in die kleinen, doch unzähligen Fallen und Hinterhalte des täglichen Lebens aufgelöst. Man neigt dazu, ihn immer wieder anklopfen zu hören – in fettreichem Fast Food, in salmonellenverseuchten Eiern oder cholesterinreichen Versuchungen, im Sex ohne Kondom oder im Zigarettenrauch, in asthmaerzeugenden Hausstaubmilben, … in zuwenig oder zuviel körperlicher Bewegung, in übermäßigem Essen oder übertriebenem Fasten, in zuviel Ozon und im Ozonloch; doch weiß man nun, wie man die Tür verbarrikadieren muss, wenn er klopft, und man kann die alten verrosteten Schlösser und Riegel oder Alarmanlagen gegen immer »neue und bessere« austauschen.

Drittens fand eine Virtualisierung des Todes statt. Während der wirkliche Tod immer mehr im Privaten verschwindet, wird der öffentliche Tod in Kino und Fernsehen unterhaltsam und spektakulär inszeniert, der tödliche Kampf zur einer Kunstform entwickelt, die (Tarantino lässt grüßen) um ihrer selbst willen existiert. Die schiere Flut des Sterbens auf der Mattscheibe erzeugt denselben Effekt wie eine Menge nackter Körper auf einem Bild, sie neutralisiert die Wirkung des einzelnen (hier Begehren, da Schrecken und Empathie).

In noch viel eindrucksvollerer Weise, als Aldous Huxley es sich ausmalte, ist seine Vision einer Todeskonditionierung (indem man Kindern Menschen im Todeskampf zeigt und sie dabei mit ihren Líeblingssüßigkeiten füttert) zur gängigen Praxis geworden – mit Auswirkungen, die dem, was er sich vorstellte, nicht sehr nachstehen.

Die Vorstellung des Lebens als eines „Seins zum Tode“ ist damit massiv geschwächt. Der Tod verleiht dem Leben, das auf ihn zuläuft, keine Bedeutung mehr, sondern er ist nur noch das Nicht-Ereignis, das eine Lebensgeschichte beendet, die just in dem Augenblick uninteressant und irrelevant wird, wo sie keine neuen Episoden mehr hervorzubringen verspricht. Und während der Tod im Leben eines vormodernen Menschen, das wenig Abwechslung und Überraschung bot, das eine völlig unkalkulierbare Ereignis war, so ist er heute häufig das einigermaßen absehbare, jedenfalls medizinisch erklärbare Ende eines Lebens, das von Umbrüchen, Ungewissheiten und Apokalypsen – Bauman spricht von der „Instabilität alles Erreichten und der Zerbrechlichkeit menschlicher Bindungen“ und der „Launenhaftigkeit von Regeln, die sich schon vor Spielende wieder ändern“ – gekennzeichnet ist.

Ungewissheit postmodernen Typs zeugt nicht von einem Bedarf an Religion, sie bewirkt vielmehr eine ständig steigende Nachfrage für Identitätsexperten. Wen die Ungewissheit postmodernen Typs quält, der braucht keine Prediger, die ihm etwas über die Schwäche des Menschen und die Unzulänglichkeit menschlichen Vermögens erzählen. Er braucht die Bestätigung, dass er/sie es schaffen kann – und Anleitung, wie dies anzustellen sei.

Ich kann nicht auf alles eingehen, was Bauman hier anreißt, aber mich hat seine Analyse insofern überrascht, als ich im Blick auf seine jüdische Herkunft erwartet hätte, dass er den Kern des Glaubens und damit von Religion nicht in der Frage nach Tod und Jenseits sieht, wie es dann im katholischen Spätmittelalter der Fall war. Zu Beginn des Essays, aus dem ich zitiert habe, beschreibt er noch sehr treffend die Unmöglichkeit einer umfassenden Definition von Religion, nur um das alles mit einem Satz von Tisch zu wischen und festzustellen, Religion sei „schließlich nichts anderes […] als das intuitive Wissen um die Grenzen dessen, was wir Menschen als solche tun und verstehen können“, Religiosität bestehe mithin im „Bewusstsein menschlicher Unzulänglichkeit und dem Eingeständnis der Schwäche“, die er im Folgenden dann strikt auf Tod und Transzendenz bezieht.

Für den Alttestamentler Walter Dietrich hingegen (und das hätte ich bei Bauman eigentlich erwartet, weil es ja sein Ur-Anliegen darstellt) ist der rote Faden der hebräischen Bibel die Frage nach Gerechtigkeit, der „Herstellung und Wahrung lebensfreundlicher Verhältnisse gerade für die in ihrer Existenz oder ihrem Wohl Bedrohten […]. Für Israel kennzeichnend ist dabei, dass sich religiöse Motivation und politische Aktion untrennbar miteinander verbinden“ (Der rote Faden des Alten Testaments, in: Ders., Theopolitik. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, S. 21)

Für mein Empfinden gilt diese Aussage ebenso für das Christentum und Jesu Botschaft vom Reich Gottes. Besonders auch in dem Sinn, dass Jesu Eintreten für Gerechtigkeit ihn zum Märtyrer und Opfer eines Justizmordes machte – ein Ereignis, an dem deutlich wird, dass sich derjenige ganz besonders mit dem Tod beschäftigen muss, der die sozialen Verhältnisse verändern will. Dazu kommt das für die ersten Christen völlig unerwartete Geschehen der Auferweckung, in dem erkennbar wird, dass der Tod als die Summe und endgültige Festschreibung aller lebensfeindlichen Verhältnisse und Bedrohungen auf eine völlig andere Art und Weise und von anderer Seite relativiert wurde, als es im Projekt der Moderne geschah und geschieht. Wer sich gegen Großkonzerne, Geheimdienste, Diktatoren, rechte Todesschwadronen oder mafiöse Strukturen stellt, darf keine Angst vor dem Tod haben und wird ihn schwerlich durch den Konsum von Popcorn und Actionkino ausblenden können.

Ein „aktuelles“ Evangelium, das sich auf Identitätsmanagement reduzieren lässt und zu diesem Zweck die Ur-Angst postmoderner Menschen beschwichtigt, in den ständigen Wahlzwängen Entscheidendes zu verpassen, ist ebenso ungenügend wie ein traditionelles, dass sich auf Schuld und Tod reduzieren lässt. Wer mutig vom Tod reden kann, hat auch in Sachen Gerechtigkeit etwas zu sagen. Wer sich vor dem Tod in Wellness flüchtet, wird auch davor zurückschrecken, sich den Mächten dieser Welt tapfer entgegenzustellen.

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Frauwillige Selbstkontrolle, oder: mit St. Patrick dem Zwang zur Perfektion trotzen

Ich kam letzte Woche nicht mehr dazu, auf dieses Interview des SZ-Magazins mit der britischen (schottischen!) Kulturwissenschaftlerin Angela McRobbie hinzuweisen. Sie spricht davon, dass Frauen in der neoliberalen Gesellschaft anders unter Druck stehen als in traditionellen Umgebungen, und dass diese neuen Anforderungen und Erwartungen ebenso verinnerlicht werden wie frühere Klischees und Rollenbilder, und wie das alles unter einer Schicht Ironie halbherzig relativiert wird, im Grunde aber doch ungebrochen gilt. Den folgenden Satz fand ich sehr erhellend (und so schrecklich weit sind Männer von diesen Dingen auch nicht entfernt, wie mir scheint), weil sie zeigt, wie verdeckt und zugleich  hier Macht und Ansprüche wirken

Im Gegensatz zu Männern müssen Frauen darüber hinaus noch sich selbst und allen anderen ständig beweisen, wie perfekt sie sind. Sie haben es verinnerlicht, sich den ganzen Tag zu fragen: Bin ich schön genug, dünn genug? Ihre Selbstkontrolle ist strenger als jede Kontrolle von außen. Damit sind sie die perfekten Mitglieder einer neoliberalen Gesellschaft.

[…] Einer der Wege, wie Macht heutzutage wirkt, wie sie die Menschen durchdringt und kontrolliert, ist die Selbstbeurteilung: Frauen beobachten und beurteilen sich ständig selbst – aber auch die Frauen um sie herum. Sie stehen in Konkurrenz. Diese Kontrolle stärkt gleichzeitig das Stereotyp, dass Frauen eben nicht solidarisch untereinander sind, sondern boshaft und zickig. Ich glaube, nur durch eine gemeinsame Politik, durch ein gemeinsames Wir-Gefühl, kann diese Selbstbeurteilungskultur durchbrochen werden.

Und so funktioniert diese freiwillige Selbstkontrolle unter den Leistungsbereiten und Aufstiegswilligen, während all jene mit Missbilligung und Argwohn betrachtet werden, die sie verweigern – die „gefallenen Frauen“ von heute sind die, die nichts (oder nicht genug) aus sich machen:

Die neoliberale Gesellschaft bestraft Frauen, denen das Management ihres Lebens nicht gelingt: die alleinerziehende Mutter; die Frau, die Kinder von verschiedenen Männern hat; die Frau, die nicht arbeitet und auf Kosten anderer lebt. Und natürlich die Frau, die nicht auf sich achtet oder nicht das Beste aus sich macht.

Bei Männern würde man von Losertypen reden, allerdings müssen die sich schon viele Unvollkommenheiten leisten, um in dieser Schublade zu landen. Sieben Wochen ohne Runtermachen, so heißt die aktuelle Fastenaktion passenderweise, sind bestimmt ein Schritt in die richtige Richtung. Aber auch da liegt erst einmal die Verantwortung bei jeder und jedem einzelnen. Das „Wir-Gefühl“ und die „gemeinsame Politik“ zur Überwindung der Selbstbeurteilungskultur kommt nicht von selbst. Manchmal habe ich den Eindruck, Christen versuchen sich durch noch rigorosere Selbstbeurteilungen abzuheben anstatt das zu tun, was die Lehre von der Rechtfertigung uns eigentlich anbietet: dankbar und fröhlich auf alle Perfektion zu pfeifen.

Weil heute St. Patrick’s Day ist, schließe ich mit einem Zitat aus seinem Bekenntnis. Der Mann war sich seiner offensichtlichen Defizite schmerzhaft bewusst, aber er ließ sich von ihnen nicht abhalten, Großes zu vollbringen. Seine irisch-rustikale Art hat tausendfach Nachahmer gefunden. Wer ein grünes Getränk zur Hand hat, darf dem Heiligen heute dankbar zuprosten.

Ich war noch jung, ja fast noch ein unmündiges Kind, als ich in Gefangenschaft geriet, und noch wusste ich nicht, was ich suchen und was ich meiden sollte. Dafür schäme ich mich bis heute und ich habe größte Hemmungen, meinen Mangel an Bildung offenzulegen, denn ich vermag mich nicht sprachgewandt in der geforderten Kürze auszudrücken, so wie ich es vom Verstand und vom Herzen her gerne würde, und so, dass der Sinn meiner Worte dem entspräche, was ich sagen möchte.

Aber selbst wenn mir gegeben wäre, wie es anderen gegeben ist, ich könnte nicht schweigen, weil ich Dank sagen will. Mag ich manchen auch angesichts meiner Unwissenheit und lahmen Zunge überheblich erscheinen, so steht es doch geschrieben, dass die Zungen der Stammelnden schnell lernen werden, von Frieden zu sprechen. Um so mehr müssen wir es versuchen, als dass wir, wie es heißt, ein Brief von Christus sind, um das Heil bis an die Enden der Welt zu tragen. Und wenn dieser Brief auch nicht wohlfeil verfasst worden ist, so ist er doch aufrichtig und mit fester Überzeugung in eure Herzen eingeschrieben, nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes. Und der Geist selbst bezeugt es ja auch, dass die Schlichtheit des Ackers vom Allerhöchsten geschaffen worden ist.

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Galaktisch gesegnet

Vor gut neun Jahren war ich für eine Predigt auf der Suche nach einem griffigen Synonym zu dem Satz: „Das Reich Gottes ist nahe“. Wie haben sich die jüdischen Zeitgenossen Jesu das praktisch vorgestellt, wenn Gottes Reich anbricht? Damals fiel mir folgende Analogie ein (vgl. Jesaja 35):

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Jahre später stelle ich anlässlich des Todes von Spock-Darsteller Leonard Nimoy also nun fest, dass in der Tat ein enger inhaltlicher Zusammenhang besteht: Der vermeintlich vulkanische Gruß (die meisten traditionellen Grußformeln sind ja Segensworte) zeigt den hebräischen Buchstaben „Schin“, mit dem so gewichtige Worte wie Schaddai, Schalom und Schechinah beginnen. Nimoy hat die Segensgeste mit der gespreizten Hand als Kind im Synagogengottesdienst kennengelernt, wie er in dem folgenden Video verrät, das Michael Blume diese Woche postete:

Nun, da ich den Hintergrund kenne, werde ich das Beispiel sicher wieder öfter verwenden. Und dabei immer an diesen besonderen Menschen denken, der (verständlicherweise) so lange brauchte, mit seinen deutschen Fans und deren Land Frieden zu schließen. Es ist ihm aber doch gelungen, und der Segen wird ihn überdauern. 

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Lernen, wie man lebt

Mein Glaube war recht schlicht und direkt: Es ging nur um Jesus. Ich wollte wissen, wer dieser Jesus wirklich ist. Die Kirche war meine Zuflucht; ich lernte etwas über Jesus und sah an seinem Beispiel, wie man lebt. Sein Beispiel, wie man lebt, eröffnete mir eine neue Freiheit, die ich fühlte, noch bevor ich sie in Worte fassen konnte. Für alle, die sich selbst, so wie ich, als Christen bezeichnen, ist Jesus der Ursprung unseres Menschseins.

aus: Walter Wink, Just Jesus. My Struggle to Become Human

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„Love the hell out of them!“

Der 7. März war der 50. Jahrestag des „bloody Sunday“ von Selma. Im gleichnamigen Film, der momentan in den (anspruchsvolleren) Kinos läuft, kann man sich ein Bild davon machen, wie die schwarzen Demonstranten dort auf der Edmund Petrus Bridge von weißen Polizisten brutal niedergeknüppelt wurden. Dennoch war es ein Wendepunkt für die Bürgerrechtsbewegung in den USA. Zum nächsten Marsch fanden sich viele Sympathisanten ein, unter ihnen auch Walter Wink, dessen Lebensthema der gewaltfreie Widerstand nach Selma werden sollte, und der große Abraham Heschel, ein Freund von Martin Luther King.

Freilich kann so ein Film nicht alles zeigen. Heschels Tochter Susannah schildert hier, welche Bedeutung Selma für ihren Vater hatte, der vor den Nazis in die USA geflohen war. Für Heschel war der Protest ein prophetisches Ereignis:

My father arrived in 1940 as a refugee from Nazi Europe, where all too many Christian theologians were declaring Jesus an Aryan, not a Jew, and throwing the Old Testament out of the Christian Bible because it was a Jewish book. It seemed miraculous for him to discover Martin Luther King, Jr., placing the Exodus and the prophets of Israel at the center of the civil rights movement.

Marching out of Selma felt like a reenactment of the Exodus, but in a new way. Not only were the Israelites leaving Egypt, the place of enslavement, but also the Egyptians, because there was a hope at Selma that white America was repudiating its racism. My father had written, “The tragedy of Pharaoh was the failure to realize that the exodus from slavery could have spelled redemption for both Israel and Egypt. Would that Pharaoh and the Egyptians had joined the Israelites in the desert and together stood at the foot of Sinai.”

Wer Selma nicht gesehen hat, sollte trotz der Kritik von Heschel in den Film gehen, und sich dann weiter informieren. Etwa bei John Lewis, der am 7. März 1965 den Demonstrationszug anführte, und in diesem Interview mit Krista Tippett bewegende Einblicke gibt in die Haltung und Denkweise der Widerstandsgruppe. Die spirituelle Dimension, die im Film nur am Rande erscheint, wird hier ausführlich besprochen. Martin Luther King etwa rief in den Vorbereitungstreffen seinen Mitstreitern zu: „Love the hell out of them!“ (auf Deutsch könnte man in leidlich guter Entsprechung sagen: „Liebt sie auf Teufel komm raus!“).

John Lewis twitterte zum 50. Jahrestag der Niederschlagung der Proteste in Selma

Edmund Pettus, nach dem bis heute (!) die Brücke benannt ist, auf der sich alles abspielte, war übrigens General der Konföderierten im Sezessionskrieg und ein Großmeister des Ku-Klux-Klan. Wie nah uns diese Ereignisse sind, zeitlich wie räumlich, zeigen die Unruhen und der strukturelle Rassismus in Ferguson/Missouri oder die Tatsache, dass ein Ermittler des NSU-Terrors Kontakte zum KKK pflegten und Kollegen der 2007 in Heilbronn ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter dem KKK angehörten.

Nachgebaut wurde ein teil der Brücke kürzlich für die Oscar-Verleihung. John Legend und Common traten dort mit dem Titelsong aus „Selma“ auf. King hatte am 25. März 1965 seine Rede nach dem Marsch von Selma nach Montgomery, der schließlich doch genehmigt wurde, und bei dem Heschel, Wink und viele andere dabei waren, mit einem Zitat aus der Battle Hymn of the Republic beendet. Darauf bezieht sich der Text von Glory, und hier kommt auch die religiöse Dimension des Protestes klar zum Vorschein. John Lewis sagte in dem Interview, man müsse auch an die Feinde glauben, nämlich an deren Fähigkeit und Bereitschaft, sich zu ändern.

„One son died, his spirit is revisitin’ us“ heißt es im Text. Das könnte ein Hinweis darauf sein, wo die Kraft und der Mut zum Kampf herkommen.

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Bloß nicht grün werden

Da hatte ich doch eben Žižeks Feststellung erwähnt, die Vergangenheit werde ständig neu erfunden um Machtansprüche in der Gegenwart zu erheben, als ich über diesen Artikel von Elizabeth Stoker-Bruenig stolperte, der das Unbehagen katholischer Traditionalisten mit Papst Franziskus’ pragmatischem (statt dogmatischem) und dialogischem Zugang zur Vergangenheit beleuchtet. Dabei fallen ihr Widersprüche wie dieser auf:

The conservative reverence for the past does not necessarily mean that their tactics or politics to protect it will be properly traditional. … Thus conservatives can claim a deep attachment to the America of their grandparents while trying to dismantle labor unions and Social Security, mainstays of the era they profess to love.

Und sie fährt fort:

To insist that the Church differentiate herself from the world by adhering to the praxis of the past—be it saying Mass in Latin or ignoring man-made climate change because it is not present in biblical text—is to relate to the past in a wholly modern way. Those who ignored climate change in the Middle Ages did so because it was unknown, not because they intended to make a particular statement about the transcendent factual bearing of the biblical text. … To consider whether or not one would prefer to be modern is to be modern; the decision is already made.

Gegenwärtig, so Stoker-Bruenig, arbeitet der Papst an einem Papier zur Klimaproblematik, und Rechtskatholiken wie Neokonservative schießen schon lange vor dessen Erscheinen gegen seinen vermeintlichen Inhalt – etwa indem sie beklagen, der Papst kontaminiere die reine Lehre mit „grünem Heidentum“. Das ist freilich nur möglich, weil ausgerechnet jene, die sich auf die Vergangenheit berufen, dabei verdrängen, dass mit Franziskus von Assisi (oder Hildegard von Bingen, aber die dürfte ihnen schon deshalb noch suspekter sein, weil sie eine Frau war) schon einmal andere Zugänge zu Natur und Schöpfung da waren als neuzeitliche Ausbeutung und „Unterwerfung“ derselben.

Man kann ja gern verschiedener Meinung sein, was die Gegenwart und den zukünftigen Weg angeht. Wenn allerdings die immer schon passend gefilterte Vergangenheit dazu missbraucht wird, andere als Verräter an einem heiligen Erbe zu diskreditieren, dann ist das schlicht ein reaktionärer Backlash. Genau dieser Vorwurf wurde Jesus ja auch gemacht. Zudem kann natürlich auch kein Konservativer wissen, was Luther oder irgendeine andere kirchlich-theologische Normgröße täte, wenn sie oder er heute lebte. Relativ sicher sagen lässt sich hingegen: Sie täten vermutlich nicht exakt dasselbe wie zu ihren Lebzeiten. Es ist also kein Ausdruck von Respekt vor den Müttern und Vätern, ihr Lebenswerk zur kirchenpolitischen Keule zu machen. Stoker-Bruenig bilanziert abschließend:

the past cannot be recovered, but only shabbily reconstructed. It is most useful when considered an open matter. This is true of the past in our lives, of the past in politics, of the past in the Church: Dialogue is the most we can make of it. And that is enough.

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Die Saat der Gewaltfreiheit ausstreuen

Seit ein paar Wochen diskutieren wir hier in einer recht ansehnlichen Runde über Walter Winks Verwandlung der Mächte. Es geht beim Thema Macht und Gewalt munter hin und her zwischen Theologie und Politik, Geschichte und Gegenwart, persönlichen und gesellschaftlichen Fragestellungen.

Gestern haben wir über Gewaltfreiheit gesprochen. Während Milliarden ins Militär investiert werden und während Gewaltakte die Schlagzeilen beherrschen, ist dies in unserer Gesellschaft ein eher vernachlässigtes Thema. Wir haben überlegt, was wir dazu beitragen können, dass sich das ändert, und sind auf folgende Punkte gekommen:

  1. Wir können das theologische Gespräch über biblische Ansätze zu Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit fördern und wach halten. Dazu gehören auch geschichtliche Vorbilder wie die alte Kirche, die sich von staatlicher Gewalt fernhielt, und die Friedenskirchen, die aus der Täuferbewegung heraus entstanden sind.
  2. Wir können Menschen durch Einübung in Kontemplation und Achtsamkeitsübungen fähig machen, Reflexen von Kampf und Flucht, Angst und Aggression in kritischen Situationen so lange nicht nachzugeben, bis sich ein dritter Weg zeigt. Eigentlich ist das sogar eine „Nebenwirkung“ einer Spiritualität des Schweigens, Hörens und Wartens, die primär die Begegnung mit Gott sucht. Diese Nebenwirkung stellt sich aber nicht bei allen Formen christlicher Spiritualität im gleichen Maße ein, sondern sie stellt sich durch Meditation ein. Workshops über Zivilcourage und gewaltfreien Widerstand können das dann gezielt erweitern und vertiefen.
  3. Wir können gezielt und bewusst Geschichten sammeln und erzählen, die von Versöhnung zwischen Feinden handeln, gewaltfreier Lösung von Konflikten, energischer Solidarität mit leidenden und benachteiligten Menschen und in denen erkennbar wird, wie sich Gottes Reich unter Menschen als herrschaftsfreie Ordnung auswirkt. Das müssen keineswegs alles „christliche“ Geschichten sein, gerade an dieser Stelle ist es großartig, „Menschen des Friedens“ in allen möglichen Lagern zu entdecken und auf sie aufmerksam zu machen.

    (Aktuelle Fußnote: Heute beginnt in Nürnberg die IWA Outdoor Classics, ein Branchentreffen, das seine brisante Ware verharmlosend als Ausrüstung für Freizeitsport in der Natur und zum Schutz lieber Menschen anpreist, während Aussteller wie Sig Sauer oder Heckler und Koch immer wieder wegen zwielichtiger Geschäfte in die Schlagzeilen geraten.)

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Blutige Endlosschleifen

Unser zurückliegendes Gemeindewochenende hatte den Weg der Israeliten aus Ägypten ins gelobte Land zum Thema. Vielleicht sollte man besser sagen: Die Geschichte diente als eine Metapher für Übergänge und Veränderungen, die in den letzten Monaten besonders präsent und spürbar waren.

Der heikelste Teil dieser Geschichte ist die so genannte „Landnahme“, die im Buch Josua einige der verstörendsten Texte des Alten Testaments hervorgebracht hat: Geschichten von heiligem Angriffskrieg, Völkermord und Vertreibung. Passend dazu verbrachten wir die Tage in einem Haus, das uns auf Schritt und Tritt an das Schicksal der Sudetendeutschen erinnerte. Deren Vertreibung freilich ist untrennbar mit dem Angriffskrieg des Dritten Reichs verbunden. Die Bilder dort an den Wänden lassen den Schmerz derer erahnen, die damals ihre Heimat verloren.

Während wir also das „Land einnehmen“ ausdrücklich so definierten, dass es um Kooperation statt Konfrontation und Konkurrenz geht, um Gemeinwohl statt um Gruppeninteressen und um Dienst statt Dominanz, hat Slavoj Žižek in diesen Tagen anlässlich des Besuchs von Israels Premier Netanjahu in Washington und bevorstehender Wahlen in Israel auf die verheerende Wirkungsgeschichte der Landnahme-Tradition hingewiesen. Wenn der Nahost-Konflikt gelöst werden soll, wenn Israel einen Frieden möchte, der nicht in der Vernichtung und Vertreibung der Palästinenser besteht, dann darf die ferne Vergangenheit nicht als Legitimation von Zwang und Gewalt in der Gegenwart herhalten:

The lesson is simply that every form of legitimization of a claim to land by some mythic past should be rejected. In order to resolve (or contain, at least), the Israeli-Palestinian conflict, we should not dwell in ancient past—we should, on the contrary, forget the past (which is in any case basically constantly reinvented to legitimize present claims).

Analog zum Vergessen einer Vergangenheit, die ohnehin „ständig neu erfunden wird, um die Gegenwart zu rechtfertigen“, kann man vielleicht ja auch eine bewusst und explizit gewaltfreie Reinterpretation heiliger Texte versuchen. Diese wird die geschilderten Brutalitäten nicht leugnen, aber sehr wohl fragen, ob die triumphalen Siege und die anschließenden Massaker im Laufe der Überlieferungsgeschichte nicht auch stilisiert und aufgebauscht wurden, etwa um das Selbstwertgefühl eines immer wieder bedrohten Volkes zu heben und den Abschreckungsfaktor zu stärken.

Umgekehrt muss sie freilich den fundamentalistischen Fehler vermeiden, die Vorstellung religiös motivierter Gewalt als Gottesurteil und Akt des Gehorsams Gott gegenüber zu bekräftigen (und damit „neu zu erfinden“), der ganze Gruppen von Menschen willkürlich niedermachen lässt, um seinen Erwählten Platz zu schaffen. Wenigstens in diesem Sinn muss die Vergangenheit Vergangenheit bleiben, dass unter solch blutige Episoden ein klarer historischer, theologischer und praktischer Schlussstrich gezogen wird.

Neben der fernen spielt freilich auch die jüngere Vergangenheit eine legitimierende Rolle für die heutige Politik des Staates Israel, wie Žižek unter Verweis auf einen Satz von Simon Wiesenthal zeigt:

The problem at the moment is that the State of Israel, though “continually victorious,” still relies on the image of Jews as victims to legitimize its power politics, as well as to denounce its critics as hidden Holocaust-sympathizers. Arthur Koestler, the great anti-Communist convert, formulated a profound insight: “If power corrupts, the reverse is also true; persecution corrupts the victims, though perhaps in subtler and more tragic ways.”

Žižeks Sorge, dass Israel im Zuge dieses Konfliktes einen hohen Preis zahlt, ist nicht von der Hand zu weisen. Eine Lösung des Konflikts scheint in weiter Ferne. Wie Rabbi Michael Lerner schreibt, setzt Israel – nicht erst seit Netanjahu – auf die aussichtslose Strategie der Unterdrückung, die vor allem Gegendruck erzeugt, zu immer groteskeren Feindbildern führt und die eigenen dunklen Seiten ausblendet. Er verweist (analog zu Koestler) darauf, dass Israelis wie Palästinenser in hohem Maß an posttraumatischem Stress leiden. Die Alternative wäre eine Strategie der Großzügigkeit: Sich dem anderen zuzuwenden und ihn mit seinen Bedürfnissen als gleichwertig anzuerkennen. Die Billion Dollar, die der Krieg in Afghanistan und dem Irak verschlungen hat, hätte man besser anlegen können, schreibt Lerner:

We could have used that trillion dollars to end global and domestic homelessness, hunger, poverty, inadequate health care, inadequate education, and to repair the destruction advanced indsutrial societies both capitalist and socialist have done to the global environment. Such a Global Marshall Plan might be dismissed as „unrealistic,“ just as the movements to end apartheid and segregation, provide equal rights for women, end legal discrimination against gays and lesbians, were also dismissed at first as unrealistic, naive, utopian or even „dangerous.“

Das Geld ist verbrannt. Aber man muss denselben Fehler ja nicht zweimal machen. Dazu kann der Blick in die Geschichte durchaus hilfreich sein: die eigenen Fehler zu identifizieren und daraus zu lernen (statt auf den Fehlern anderer herumzureiten und dabei die eigenen zu wiederholen).

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Die verpasste Chance

Hin und wieder habe ich Auslegungen der Geschichte vom „reichen Jüngling“ (Markus 10,16-31) gelesen, die es irgendwie schafften, den Text völlig auf den Kopf zu stellen. Verständlich, denn wer möchte schon in einer Gesellschaft, die sich als wohlhabend und im globalen Vergleich durchaus auch als „reich“ versteht, seinen Zuhörern oder Lesern ein hartes Urteil zumuten.

Überhaupt nicht mehr klar wird dabei meistens, warum Jesus den Reichen auffordert, sein Vermögen (sprich: Grundbesitz, anders konnte man größere Beträge damals kaum anlegen) zu verkaufen und das Geld „den Armen“ zu geben und ihm nachzufolgen, wenn doch der Reichtum kein prinzipielles Problem ist, sondern nur die Tatsache, das dieses Individuum (das eher zufällig reich war, auch Arme hängen ja an Hab und Gut) etwas zu sehr an seinem Besitz zu hängen schien.

Richard Horsley, den ich nun schon mehrfach zitiert habe, verweist in diesem Zusammenhang auf die Tradition des mosaischen Bundes, die das Horten von Besitz, das Nehmen von Zinsen, Enteignungen von ererbtem Land verbot und auf die Rückgabe verpfändeten Gutes und den Erlass von Schulden drängte. Jesus bezieht sich, während er durch das ländliche Galiläa zieht, auf diese Traditionen. Bergpredigt und Feldrede können sogar als Erneuerung und Aktualisierung des mosaischen Bundes und Gesetzes gelesen werden (die Regeln der Essener hatten einen ähnlichen Charakter).

Anstößig ist der Reichtum des jungen Mannes nämlich deswegen, weil er sich der Armut seiner Nachbarn verdankt. Reichtum ist insofern betrügerisch, als er auf der Ausbeutung anderer beruht, die als Tagelöhner arbeiten müssen oder von ihrem Land vertrieben werden. Und Jesus ersetzt das „begehren“ in seiner Aufzählung der Gebote durch „betrügen“. Alle Beteuerungen des Reichen, er habe das Gesetz doch gehalten, werden durch die Weigerung widerlegt, den (in Jesu Auslegung des Willens Gottes) unrechtmäßigen Reichtum aufzugeben.

Indem er sich als tadellosen Anhänger des Gesetzes darstellt, betrügt der Mann sich selbst und seine Umgebung. Und er steht mit dieser Behauptung im Gegensatz zu dem, was Jesus die Dorfgemeinschaften lehrt: den gegenseitigen Erlass von Schulden, die Fürsorge für die schwächeren Glieder der Gemeinschaft, Kooperation und Solidarität. Folglich handelt der nächste Abschnitt (10,32-45) von der politischen Macht, die ebenso wie die wirtschaftliche unter dem Vorzeichen der Herrschaft Gottes steht und – damit untrennbar verbunden – der radikalen Gleichheit aller in der erneuerten Bundesgemeinschaft verpflichtet ist. Heimliche Machtansprüche der Zebedaiden (als wäre der Messias ein Herrscher, der Privilegien an Günstlinge vergibt) werden an dieser Stelle ebenso abgewiesen wie naive Vorstellungen, eine solche soziale Revolution könne vom imperialen System geduldet oder unterstützt werden.

Es ging also nicht um bloße „Almosen“ für die Armen – ein mitleidiges Verteilen von Geld, das anderen für eine begrenzte Zeit am Konsum teilnehmen lässt und irgendwann aufgebraucht ist, ohne etwas verändert zu haben. Damit wäre freilich wenig gewonnen. Doch der Mann hätte sich der messianischen Wirtschaftsrevolution anschließen können. Er hätte mit den einfachen Leuten vom Land eine Art Kibbuz gründen können und damit die nachösterliche Gütergemeinschaft der Urgemeinde vorwegnehmen können, in der Menschen, die am Boden waren, zu einem Leben in Würde ermächtigt werden.

Kein Wunder, dass Jesus – über alle persönliche Sympathie hinaus – traurig ist darüber, dass sein Gegenüber diese Einladung ausschlägt, sein Leben und das vieler anderer zu ändern. Und uns muss zu denken geben, dass Jesus hier keinen Spielraum für Verhandlungen und Kompromisse sieht…

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