Blutige Endlosschleifen

Unser zurückliegendes Gemeindewochenende hatte den Weg der Israeliten aus Ägypten ins gelobte Land zum Thema. Vielleicht sollte man besser sagen: Die Geschichte diente als eine Metapher für Übergänge und Veränderungen, die in den letzten Monaten besonders präsent und spürbar waren.

Der heikelste Teil dieser Geschichte ist die so genannte „Landnahme“, die im Buch Josua einige der verstörendsten Texte des Alten Testaments hervorgebracht hat: Geschichten von heiligem Angriffskrieg, Völkermord und Vertreibung. Passend dazu verbrachten wir die Tage in einem Haus, das uns auf Schritt und Tritt an das Schicksal der Sudetendeutschen erinnerte. Deren Vertreibung freilich ist untrennbar mit dem Angriffskrieg des Dritten Reichs verbunden. Die Bilder dort an den Wänden lassen den Schmerz derer erahnen, die damals ihre Heimat verloren.

Während wir also das „Land einnehmen“ ausdrücklich so definierten, dass es um Kooperation statt Konfrontation und Konkurrenz geht, um Gemeinwohl statt um Gruppeninteressen und um Dienst statt Dominanz, hat Slavoj Žižek in diesen Tagen anlässlich des Besuchs von Israels Premier Netanjahu in Washington und bevorstehender Wahlen in Israel auf die verheerende Wirkungsgeschichte der Landnahme-Tradition hingewiesen. Wenn der Nahost-Konflikt gelöst werden soll, wenn Israel einen Frieden möchte, der nicht in der Vernichtung und Vertreibung der Palästinenser besteht, dann darf die ferne Vergangenheit nicht als Legitimation von Zwang und Gewalt in der Gegenwart herhalten:

The lesson is simply that every form of legitimization of a claim to land by some mythic past should be rejected. In order to resolve (or contain, at least), the Israeli-Palestinian conflict, we should not dwell in ancient past—we should, on the contrary, forget the past (which is in any case basically constantly reinvented to legitimize present claims).

Analog zum Vergessen einer Vergangenheit, die ohnehin „ständig neu erfunden wird, um die Gegenwart zu rechtfertigen“, kann man vielleicht ja auch eine bewusst und explizit gewaltfreie Reinterpretation heiliger Texte versuchen. Diese wird die geschilderten Brutalitäten nicht leugnen, aber sehr wohl fragen, ob die triumphalen Siege und die anschließenden Massaker im Laufe der Überlieferungsgeschichte nicht auch stilisiert und aufgebauscht wurden, etwa um das Selbstwertgefühl eines immer wieder bedrohten Volkes zu heben und den Abschreckungsfaktor zu stärken.

Umgekehrt muss sie freilich den fundamentalistischen Fehler vermeiden, die Vorstellung religiös motivierter Gewalt als Gottesurteil und Akt des Gehorsams Gott gegenüber zu bekräftigen (und damit „neu zu erfinden“), der ganze Gruppen von Menschen willkürlich niedermachen lässt, um seinen Erwählten Platz zu schaffen. Wenigstens in diesem Sinn muss die Vergangenheit Vergangenheit bleiben, dass unter solch blutige Episoden ein klarer historischer, theologischer und praktischer Schlussstrich gezogen wird.

Neben der fernen spielt freilich auch die jüngere Vergangenheit eine legitimierende Rolle für die heutige Politik des Staates Israel, wie Žižek unter Verweis auf einen Satz von Simon Wiesenthal zeigt:

The problem at the moment is that the State of Israel, though “continually victorious,” still relies on the image of Jews as victims to legitimize its power politics, as well as to denounce its critics as hidden Holocaust-sympathizers. Arthur Koestler, the great anti-Communist convert, formulated a profound insight: “If power corrupts, the reverse is also true; persecution corrupts the victims, though perhaps in subtler and more tragic ways.”

Žižeks Sorge, dass Israel im Zuge dieses Konfliktes einen hohen Preis zahlt, ist nicht von der Hand zu weisen. Eine Lösung des Konflikts scheint in weiter Ferne. Wie Rabbi Michael Lerner schreibt, setzt Israel – nicht erst seit Netanjahu – auf die aussichtslose Strategie der Unterdrückung, die vor allem Gegendruck erzeugt, zu immer groteskeren Feindbildern führt und die eigenen dunklen Seiten ausblendet. Er verweist (analog zu Koestler) darauf, dass Israelis wie Palästinenser in hohem Maß an posttraumatischem Stress leiden. Die Alternative wäre eine Strategie der Großzügigkeit: Sich dem anderen zuzuwenden und ihn mit seinen Bedürfnissen als gleichwertig anzuerkennen. Die Billion Dollar, die der Krieg in Afghanistan und dem Irak verschlungen hat, hätte man besser anlegen können, schreibt Lerner:

We could have used that trillion dollars to end global and domestic homelessness, hunger, poverty, inadequate health care, inadequate education, and to repair the destruction advanced indsutrial societies both capitalist and socialist have done to the global environment. Such a Global Marshall Plan might be dismissed as „unrealistic,“ just as the movements to end apartheid and segregation, provide equal rights for women, end legal discrimination against gays and lesbians, were also dismissed at first as unrealistic, naive, utopian or even „dangerous.“

Das Geld ist verbrannt. Aber man muss denselben Fehler ja nicht zweimal machen. Dazu kann der Blick in die Geschichte durchaus hilfreich sein: die eigenen Fehler zu identifizieren und daraus zu lernen (statt auf den Fehlern anderer herumzureiten und dabei die eigenen zu wiederholen).

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8 Antworten auf „Blutige Endlosschleifen“

  1. Europäische Endlosschleife

    „[W]e should, on the contrary, forget the past (which is in any case basically constantly reinvented to legitimize present claims).“

    Kurioserweise ist Žižeks Argumentationsweise in demselben Text nicht nur der beste „Beweis“ für seine These, sondern macht zudem gleichzeitg deutlich, wie bestenfalls absurd, schlimmstenfalls brandgefährlich eine solche (zumal selektive) Geschichtsvergessenheit sein und werden kann.

    Egal wie man zur israelischen Politik stehen mag – dass Žižeks nicht umhin kann, Israel geistige Nähe zu den Nazis zu unterstellen, wie besonders im letzten Satz deutlich wird, sollte m.E. nicht nur bei mir zu einem deutlichen Widerspruch führen (und vielleicht sogar zu denken geben…).

    1. Auf so einen Kommentar hatte ich schon gewartet. Es ist ja nicht nur der letzte Satz. Žižek entdeckt ja eine ganze Reihe von Parallelen. Wenn man das aber immer nur empörend findet und zurückweist (den Empörungsmechanismus beleuchtet er ja auch), dann gibt es keine kritische Diskussion mehr, weil jede Kritik eben schon wieder „Antisemitismus“ ist. Wenn man den letzten Satz liest, dann findet man da erstens eine große Hochachtung vor dem Judentum, zweitens stellt Žižek (klar ist „Blut und Boden“ provokant formuliert) Israel explizit in eine Reihe mit einer größeren Zahl von Völkern, die (a) territoriale Ansprüche aus der Vergangenheit geltend machen und diese (b) ethnisch oder religiös begründen. Dieses Muster hatten die Nazis ja weder erfunden noch gepachtet. Und freilich ist es seine nicht ganz neue These, dass Opfer in der Gefahr stehen, erlittenes Unrecht zu reproduzieren. Wenn das aber eine allgemeine Gefahr ist, warum sollte Israel davon a priori ausgenommen sein?

      1. „Auf so einen Kommentar hatte ich schon gewartet.“
        Freut mich 🙂

        „Es ist ja nicht nur der letzte Satz.“
        Ja, eben… Und je mehr ich darüber nachdenke, weiß ich nicht einmal, ob ich andere Sätze nicht noch bedenklicher finde.

        „Žižek entdeckt ja eine ganze Reihe von Parallelen.“
        Weitere Parallelen wären zum Beispiel: Auch in Israel gibt es Autobahnen und die israelische Gesetzgebung ist z.T. von den „Nürnberger Rassegesetzen“ beeinflusst.

        „Wenn man das aber immer nur empörend findet und zurückweist (den Empörungsmechanismus beleuchtet er ja auch), dann gibt es keine kritische Diskussion mehr, weil jede Kritik eben schon wieder „Antisemitismus“ ist.“

        Ich hätte fast geschrieben: Immerhin schwingen die Israel-Kritiker-Kritiker diesmal nicht die Nazi-Keule. Denn die schwingt Žižek ja schon ganz fleißig.
        Sachlich ausgedrückt: Beileibe ist nicht *jede* Kritik an Israel antisemitisch, wie wenig umgekehrt jede Kritik an Žižeks (et al.) Argumentationsmustern schon diesem „Empörungsmechanismus“ entspringt. Beides kann durchaus sachlich begründet sein und meine erster Kritikpunkt an seinem Text (von Dir leider unbeachtet) war ja auch, dass Žižek zu einem Vergessen einer Vergangenheit aufruft, (da?) die ohnehin „ständig neu erfunden wird, um die Gegenwart zu rechtfertigen“. Gleichzeitig versucht er dabei aber selbst, seine Thesen immer wieder mit – freundlich ausgedrückt – sehr eigenwillig interpretierten historischen Ereignissen und mehr als fragwürdigen Parallelen zu untermauern, während er die (Aspekte der) Vergangenheit, die ihm nicht in den ideologischen Kram passt, vergessen machen will. Und somit schreibt er selbst – nolens volens? – mythische Geschichte.

        „Wenn man den letzten Satz liest, dann findet man da erstens eine große Hochachtung vor dem Judentum“
        Ich dachte, es ging Žižek nur um den Staat Israel, nicht um das Judentum in toto?

        „zweitens stellt Žižek (klar ist „Blut und Boden“ provokant formuliert) Israel explizit in eine Reihe mit einer größeren Zahl von Völkern, die (a) territoriale Ansprüche aus der Vergangenheit geltend machen und diese (b) ethnisch oder religiös begründen. Dieses Muster hatten die Nazis ja weder erfunden noch gepachtet.“

        Zunächst: In den letzten beiden Absätzen spricht er in den von Dir genannten Zusammenhängen nur noch von „Juden“ und vom „jüdischen Volk“.
        Sodann: Wenn dieses Muster weder von den Nazis erfunden noch gepachtet wurde, warum vergleicht er Israel (ausgerechnet) mit Nazi-Deutschland und nicht mit einem anderen aus der „größeren Zahl von Völkern“? Die Palästinensergebiete sind nicht die einzigen besetzten Territorien dieser Welt, ebenso gibt es zahlreiche andere Völker bzw. Volksgruppen, die nach Autonomie streben. Übrigens auch mitten in Europa…

        „Und freilich ist es seine nicht ganz neue These, dass Opfer in der Gefahr stehen, erlittenes Unrecht zu reproduzieren. Wenn das aber eine allgemeine Gefahr ist, warum sollte Israel davon a priori ausgenommen sein?“

        Ja, diese Gefahr besteht. Ebenso wie die Gefahr, dass hinter dieser und anderer Thesen Žižeks eigentlich der Versuch steckt, (a) sich von der Last der Verantwortung für die europäische Geschichte zu befreien, indem man die Opfer zu Mittätern macht und/oder (b) alte Stereotypen neu zu erfinden, um diese für die Gegenwart zu rechtfertigen.
        Knapp 67 Jahre nach seiner Gründung kann man jedenfalls konstatieren, dass Israel trotz fehlender Fünfprozenthürde noch immer eine ziemlich lebhafte Demokratie ist, keine Behinderten „euthanasiert“, Homosexuelle nicht zwangskastriert und/oder ermordet, keinen Weltkrieg angefangen oder Gaskammern gebaut hat und es auch mit der deutschen Gründlichkeit weder bei der von Žižek konstatierten „Blut-und-Boden-Ideologie“ (provokant formuliert, schon klar!) noch bei der „ethnischen Säuberung“ so genau nimmt (schließlich entspricht die Fläche Israels samt besetzter Gebiete grade einmal 40% der Fläche des Freistaates Bayerns und auch die „ethnisch gesäuberten“ Palästinenser verzeichnen nach wie vor ein Bevölkerungswachstum von über 3%.)
        Insofern könnten die wohlwollenden europäischen Bewährungshelfer der Juden/Israelis m.E. eigentlich inzwischen getrost davon ausgehen, dass die Gefahr ziemlich gering ist, dass ausgerechnet die Opfer des größten Menschheitsverbrechens dieses reproduzieren. Sie könnten den Vergleichsrahmen bei der Gefahrenbewertung also deutlich verkleinern. Der Israel-Palästinakonflikt ist einer von nach wie vor vielen territorialen und ethnischen Konflikten der Welt und selbst unter diesen mit Abstand nicht einmal der verheerendste. Und jetzt haben wir noch gar nicht darüber geredet, dass „die“ Palästinenser – anders als die Juden im „Dritten Reich“ – durchaus auch Ihren Anteil an dem Konflikt haben.
        (Selbstverständlich darf diese Feststellung umgekehrt nicht zu einer Verharmlosung des Leides und der Verantwortung und Schuld Israels an dem Konflikt führen.)

        1. Meinetwegen vergleichen wir es gern mit anderen ethnisch-religiösen Konflikten, wenn man dann besser über das Unrecht auf allen Seiten reden kann. Ich hatte das Blut-und-Boden Zitat ja bewusst nicht in meinen Text eingebaut. Vielleicht muss man dann den Palästina-Konflikt auch nicht mehr so minutiös kleinrechnen…

          1. Hallo Peter,

            ich finde, dies würde einer Versachlichung der Diskussion sicher gut tun und hierbei sollten – da haben Du und ferner auch Žižek natürlich ganz recht – auch viele von der (vermeintlich) „pro-israelischen“ Seite mal dringend in sich gehen.

            Interessant und gefährlich zugleich ist m.E., dass es ja im Grunde in allen drei „großen“ Religionen bedeutsame Strömungen gibt, die versuchen, ihre Ansprüche auf das Land geschichtlich (und auch) mit ihren Heiligen Schriften zu legitimieren.
            Insofern wäre eine gewaltfreie Interpretation der entsprechenden Tenach-/Bibel-/Koranstellen ein sehr wichtiger Schritt.

            Dass Žižek These, dass die Erfindung der Vergangenheit zur Legitimation von Machtansprüchen auch in anderen Kon-Texten deutlich wird, hast Du heute erst verdeutlicht. Bei Žižek läuft das ja rigoros auf die Forderung des Vergessens der Vergangenheit hinaus.
            Ist das denn überhaupt ein gangbarer Weg für uns Christen, denn die jüdisch-christliche Tradition ist nunmal auch grade eine des Gedenkens und damit des Aktualisierens von Gottes (Heils-) Geschichte mit den Menschen.

            Wenn es aber im Christentum nicht um das Vergessen der Vergangenheit, sondern um ihre angemessene Interpretation geht (ist Interpretation schon „Erfindung“ im Sinne Žižeks?) – und die Bibel macht ja keinen Hehl daraus, dass sie Geschichte *deutet* – welches wäre dann Deiner Meinung nach der angemessene Deutungszugang zur Bibel und ihrer/ihren Geschichte(n)? (Und wie müsste man diesen hermeneutischen Schlüssel wiederum legitimieren)?

            1. Zizek fordert ja m.E. nicht ein Ende der Beschäftigung mit der Geschichte überhaupt, er findet sie selbst ja viel zu spannend. Theologisch könnte man aus christlicher Perspektive sagen, dass Jesus im NT die enge Verbindung Gott-Volk-Land insofern sprengt, als die Gottesherrschaft nicht mehr geografisch zu fassen ist (damit sind m.E. auch alle Erwartungen von Rückgabe und Rückführung überwunden, es kann also streng genommen keinen christlichen Zionismus geben). Die zweite hermeneutische Vorentscheidung müsste dann die sein, gewaltfreie Auslegungen kriegerischer Texte zu finden. So wie Martin Luther King 1965 in Montgomery zwar die „Battle Hymn of the Republic“ zitieren kann, aber es völlig klar ist, dass es kein bewaffneter Kampf mehr ist. Wir haben ja auch gelernt, die Bibel einigermaßen egalitär zu lesen, obwohl viele Texte aus einer patriarchalen Welt stammen. Und wie Paulus betont: wir kämpfen prinzipiell „nicht gegen Fleisch und Blut“.

              Passend zu unserer Diskussion über Opfer und Täter stellt sich der Außenminister Israels anscheinend gerade selbst in die Blutspur des IS – unfassbar: http://www.sueddeutsche.de/politik/wahlkampf-in-israel-lieberman-will-arabischen-gegnern-den-kopf-abhacken-1.2386143

  2. Kurze sachliche Anmerkung: eine englische *trillion* ist keine Billiarde, sondern eine Billion. Eine Billiarde sind eine Million Millarden, so viel Geld hätte diue USA ruiniert.

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