Von der Genugtuung zur Versöhnung

LeRon Shults geht in The Faces of Forgiveness: Searching for Wholeness and Salvation der Frage nach, wie die Versöhnung zwischen Gott und Menschen in Christus richtig zu deuten ist, und stellt dabei fest, dass viele Sühnetheorien darin ihre Grenzen haben, dass sie technisch und abstrakt sind:

Viele Erörterungen über Vergebung in der frühen Neuzeit beschränkten sich auf eine objektive rechtliche Transaktion, die am Kreuz stattfand. […] Wenn Vergebung auf eine formale juridische Erklärung beschränkt wird, dann wirkt sie sich nicht unmittelbar aus auf die Qual der Schmach und des Zorns, die menschliches Leben in Gemeinschaft erdrücken. (S. 125)

Liest man dagegen in der Bibel nach, dann entsteht ein anderes Bild: Gott schließt (nach den unterschiedlichen Strafaktionen der biblischen Urgeschichte angesichts menschlicher Gewalttätigkeit und Größenwahns) einen Bund mit Abraham, in dem er sich als barmherzig und gerecht zu erkennen gibt. Ersteres rückt in Exodus 34,6-7 (vgl. Num 14,17-18) ins Zentrum:

Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue: Er bewahrt Tausenden Huld, nimmt Schuld, Frevel und Sünde weg, lässt aber (den Sünder) nicht ungestraft; er verfolgt die Schuld der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation.

Die Parallelität von Segen und Strafe wird aber schon in Dtn 24,16 eingeschränkt und in Jona 4,2 gewinnt die Gnade endgültig das Übergewicht: „denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und reich an Huld und dass deine Drohungen dich reuen.“ Barmherzigkeit beschreibt das Wesen Gottes also zutreffender als Vergeltung. Bei den Schriftpropheten begegnen wir dann auch der Einsicht, dass Vergebung keine rein kultische Angelegenheit in einem technischen Sinne ist (Gott kann auch „einfach so“ vergeben), sondern dass es vor allem um eine Veränderung des Herzens und Verhaltens geht. Diese Verbindung göttlicher Gnade und menschlicher Veränderung wird in der Erwartung des neuen Bundes bei Ezechiel und Jeremia besonders deutlich.

Die Linie setzt sich im Neuen Testament fort. Besonders interessant ist, dass der kultisch-juridische Begriff der Vergebung (griech.: aphiemi) bei Paulus zurücktritt hinter das „in Christus“ sein und die Wirkung der göttlichen Gnade (griech.: charizomai), auch wenn unsere Bibelübersetzungen in beiden Fällen von „vergeben“ sprechen. Shults stellt fest:

Im Verständnis des Paulus ist Vergebung nicht in erster Linie eine Entscheidung, die auf einem rechtlichen oder finanziellen Bilanzbogen vermerkt wird; sie ist die reale Gegenwart göttlicher Gnade, die menschliche Beziehungen heilt. Sowohl in göttlicher als auch menschlicher Vergebung haben wir es mit der versöhnenden Absicht der Gnade zu tun. Deshalb beschreibt Paulus das Heil im Allgemeinen mit dem weiteren Begriff der Versöhnung. (S. 138)

Diese Verschiebung weg von unpersönlichen Kategorien hin zu Kategorien der Beziehung lässt sich auch – freilich nicht ungebrochen – in der Theologiegeschichte nachweisen. Luther etwa hatte eine ausgesprochene Abneigung gegen den Begriff „Satisfaktion“, für ihn stand nach Ansicht vieler Forscher die Vereinigung mit Christus durch den Gemeinschaft stiftenden Geist Gottes im Zentrum, die auch in Calvins Institutio eine wichtige Rolle spielt, im Altprotestantismus jedoch bald wieder hinter eher mechanistischen Sühnetheorien verschwindet.

Die unpersönlichen Metaphern bringen unter anderem die Schwierigkeit mit sich, dass sie einer Logik folgen, die Vergebung für Täter an den jeweiligen Opfern vorbei denkbar macht, diese also auf das Verhältnis zu Gott beschränkt und die soziale Dimension sündhaften Verhaltens unberührt lässt – ein Gedanke, der dem prophetischen Ruf zur Umkehr wie auch dem priesterlichen Sühnegeschehen fremd ist.

Für uns heute ist diese Verschiebung insofern von größter Bedeutung, als wir nicht mehr wie das Mittelalter und die Antike in einer Ontologie der Substanz denken (in der etwa die Seele von Flecken gereinigt werden muss). In den letzten 100 Jahren ist (wieder näher am hebräischen Denken) die Relation zur entscheidenden Kategorie geworden. Statt metaphysischer Transaktionen ist für uns das Thema relationaler (und damit auch personaler) Transformationen das entscheidende Kriterium, also der ganzheitlichen Heilung und Wiederherstellung von Beziehungen.   

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