Sühne – ein frischer Zugang

Mein Vorschlag, vorübergehend (!!) auf die Sühnemetapher im klassischen Gewand zu verzichten, ist bei manchen Lesern auf empörte Ablehnung gestoßen (Zustimmung gab es freilich auch), andere haben Zweifel geäußert, ob das erstens möglich und zweitens sinnvoll sei. Ich würde nach wie vor beides mit einem nachdrücklichen „ja“ beantworten, aber vielleicht hilft es ja, noch einmal einen Schritt zurück zu gehen.

Kürzlich bin ich in meinen Überlegungen zur Soteriologie auf einen Text gestoßen, den der katholische Theologe James Alison vor fast zehn Jahren geschrieben hat. Alison gelingt es darin, das Motiv der Sühne so zu interpretieren, dass er ihn von den Entstellungen befreit, die sich im Laufe der Auslegungsgeschichte angelagert haben.

Alison setzt ein mit einer wichtigen Unterscheidung. Eigentlich ist das Sühnegeschehen keine Theorie (des Schuldausgleichs zwischen Gott und Menschen), sondern eine Liturgie. Sie ist keine Erklärung, mit der man sich eines „Sachverhalts“ bemächtigt, sondern ein Widerfahrnis. Die Anweisung für den großen Versöhnungstag in Levitikus 16 bringt das deutlich zum Ausdruck. Ich kann Alisons höchst lesenswerte Darstellung hier nicht ausführlich wiedergeben, aber in diesem liturgischen Drama nimmt der Hohepriester die Rolle Gottes ein und vergießt das Blut Gottes, der aus seiner Liebe und Barmherzigkeit heraus das Volk mit sich versöhnt. Das ist in vieler Hinsicht die Umkehr heidnischer Opferkulte, in denen eine zornige Gottheit besänftigt werden muss. Im jüdischen Verständnis, das Paulus später aufgreifen wird, sind wir diese zornige Gottheit, und die Sühne dient dazu, uns von diesem Hang zur Gewalt zu befreien und einen neuen Weg ins Leben zu bahnen.

Das Neue Testament nimmt Sühnemotive an vielen Stellen auf, wie Alison zeigt. Die beiden Engel im leeren Grab an Ostern etwa kennzeichnen den Ort als den neuen Gnadenthron, der Hohepriester brachte sich selbst als „Opfer“ (Alison sagt hier „victim“, nicht „sacrifice“), und er schafft damit nicht etwas Schlechtes ab, sondern er erfüllt etwas Gutes. Jesus tritt an die Stelle einer Serie von Stellvertretungen. Und damit bewirkt er, sagt Alison, einen anthropologischen Durchbruch: Denn auch die rituelle Tötung ist ein Gewaltakt, der auf die menschliche Neigung verweist, ihre Probleme gewaltsam zu lösen – und sei es nur indirekt über einen eigentlich unbeteiligten Sündenbock, der zum Gewaltopfer wird, damit das Leben anderer weitergehen kann.

Im Abendmahl wird das alles liturgisch vergegenwärtigt und wir sind eingeladen, daran teilzunehmen und selbst zum „neuen Tempel“ zu werden. Der Unterschied zwischen dieser Liturgie und den populären Sühnetheorien liegt dabei auch in der ethischen Konsequenz. Eine Theorie kann man zum Kriterium von Rechtgläubigkeit machen und zu einer Linie, die schon wieder sauber trennt, wer nun „drin“ ist im neuen Bund und wer unversöhnt „draußen“ steht. Dagegen stellt uns die Liturgie der Begegnung mit dem Opfer unserer Aggression und Gewalt nicht in die Rolle des Richters, sondern des potenziellen Täters, des „Anderen“, der Gott und seinem Nächsten gegenüber erst noch zum „wir“ finden muss. Diese Begegnung wirft all unsere Vorstellungen von Ordnung und alle Strukturen von Vergeltung über den Haufen. Zugleich erkennen wir – auch das hat Alison wunderschön herausgearbeitet – die eigene Sünde erst richtig, indem wir Gottes Vergebung annehmen:

Someone was approaching you even when you didn’t realize there was a problem, so that you begin to discover, “Oh! So that’s what I’ve been involved in.” Now, this is vital for us: it means that in this picture “sin”, rather than being a block that has to be dealt with, is discovered in its being forgiven. The definition of sin becomes: that which can be forgiven.

… What we are given is a sign of something that has happened and been given to us. What is difficult for us is not grasping the theory, but starting to try and imagine the love that is behind that. Why on earth should someone bother to do that for us? That’s St Paul’s issue. “What then shall we say to this? If God is for us, who is against us? He who did not spare his own Son but gave him up for us all, will he not also give us all things with him?” (Rom 8:31-32)

 

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