Stellt Beichtstühle auf!

Von der Mehrheit der Mitbürger bestenfalls halbherzig beachtet, sind die Nachrichten zum Spähverhalten von NSA & Co in den letzten Tagen eher schlimmer als besser geworden, wie etwa die Aussagen von Lavabit-Gründer Ladar Levison, der seine Firma lieber dicht machte, als die Privatsphäre seiner sämtlichen (!) Kunden zu opfern, oder die Erfahrungen des Schriftstellers Ilja Trojanow, dem die Einreise in die USA ohne Angabe eines Grundes verweigert wurde.

Ein Hinweis darauf, warum nicht mehr Menschen auf die Barrikaden gehen, findet sich am Anfang des sechsten Kapitels von Zygmunt Baumans Collateral Damage. Bauman zitiert seinen Kollegen Alain Ehrenberg, der an einen Herbstabend in den Achtzigern erinnert. Eine gewisse Vivienne erklärte damals in einer Talkshow, sie habe noch nie einen Orgasmus erlebt, weil ihr Mann Michel an vorzeitiger Ejakulation leide. Drei Jahrzehnte später ist das schon so banal, dass man sich wieder mühsam klar machen muss, worin der Tabubruch damals bestand: Etwas ganz Privates aus der intimen Beziehung zweier Menschen wurde in der jedermann zugänglichen Öffentlichkeit ausgebreitet. Zugleich wurde erstmals öffentlich eine Sprache benutzt, die bislang strikt im emotionalen Nahbereich angewandt wurde.

Rückblickend lässt sich sagen, dass seither die klare Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zusehends aufgehoben wurde. Das Ereignis markiert den Übergang zur „Beichtgesellschaft“, so jedenfalls lässt sich Baumans Terminus Confessional Society übersetzen, die Enthüllungsgesellschaft, in der das „Hosen runter!“ zum kategorischen Imperativ geworden ist, so dass sich jeder, der auf Privatsphäre besteht, dem Verdacht aussetzt, er habe etwas zu verbergen (oder, schlimmer noch, nichts Interessantes zu vermelden?).

Was zunächst wie der Triumph des Privaten wirkte, das sich in der Öffentlichkeit selbstbewusst behauptete, wurde zum Pyrrhussieg. Der Beichtstuhl, Symbol für den Schutzraum, in dem Privates angemessen zur Sprache gebracht werden konnte, ohne dadurch öffentlich zu werden, ist seither nur noch verwanzt zu denken. Nun werden Dinge nicht mehr vor Gottes Angesicht und in der Gegenwart seines zum Schweigen verpflichteten menschlichen Repräsentanten, sondern vor laufenden Kameras und damit potenziell vor aller Augen enthüllt. Er schreibt:

In einer verwirrenden Kehrtwende gegenüber den Gewohnheiten unserer Vorfahren haben wir den Mut, die Hartnäckigkeit und vor allem den Willen verloren, solche Rechte noch zu verteidigen, diese unersetzlichen Bausteine individueller Autonomie.

In der „festen“ Moderne hat die Furcht vor einer Invasion des misstrauischen, kontrollwütigen Staates in die Privatsphäre des einzelnen die Menschen heftig bewegt. George Orwell schrieb in 1984: „Wenn Sie ein Bild von der Zukunft haben wollen, so stellen Sie sich einen Stiefel vor, der auf ein Gesicht tritt. Unaufhörlich.“ Ergo war man darauf bedacht, das Private vor einem potenziell totalitären System zu schützen, und mit ihm die eigene Autonomie, Identität und Selbstbestimmung. Längst aber hat sich die Situation dem genähert, was Peter Ustinov 1954, seiner Zeit weit voraus, so formuliert hatte: „This is a free country, madam. We have a right to share your privacy in a public space.“

Warum ist die Auflösung des Privaten ein solches Problem? Weil, so Bauman, dessen selektive Enthüllung Nähe und Distanz in menschlichen Beziehungen definierte und damit echte und dauerhafte Bindung ermöglichte. Wo wahllos alles im Leben einer Person zugänglich geworden ist, wo es keine Geheimnisse mehr gibt, da lösen sich diese Bindungen auf. Sich dem anderen zu offenbaren ist kein Vertrauensbeweis mehr und weckt auch kein Gefühl der Verantwortung und Verpflichtung.

Für Sascha Lobo hat mittlerweile die Ära des Pseudoprivaten begonnen, weil die Bürger die Bespitzelung stillschweigend tolerieren, statt sich zur Wehr zu setzen. Verständlich wird die ausbleibende Gegenwehr, wenn man mit Bauman ihre Vorgeschichte betrachtet. Und doch muss man mit Lobo allen, die sich heraushalten, den Vorwurf machen, dass sie momentan im Begriff sind, das längst aufgeweichte Konzept des Privaten nun völlig aufzugeben, ohne zu ahnen, dass wir alle irgendwie Levisons und Trojanows sind.

Vielleicht sollten wir in den Fußgängerzonen demonstrativ Beichtstühle aufstellen, in denen das wieder erfahrbar wird, wie es ist, in einem vor neugierigen Blicken und voyeuristischer „Anteilnahme“ geschützten Rahmen über sich zu sprechen. In Gegenwart eines Menschen, der mich weder neugierig als Stofflieferanten für Klatschgeschichten versteht, den ich auch nicht beeindrucken muss, der mich nicht als potenzielles Sicherheitsrisiko argwöhnisch belauscht, sondern mir zuhört als einem Geheimnisträger, dessen Würde eben darin besteht, sich nicht einmal selbst restlos entschlüsseln und äußern zu müssen – weil dieses Geheimnis meiner selbst bei Gott, und nur bei ihm, aufgehoben ist.

Aus einer in der Begegnung mit Gott gegründeten Souveränität heraus – die keltischen Christen würden von der „Zelle des Herzens“ sprechen – könnte das Götzenhafte des nach Allmacht strebenden Sicherheitsapparates wie auch einer Öffentlichkeit, die alle privaten Kundgaben allmählich und doch unentwegt in seichte Unterhaltung verwandelt und damit aus dem vermeintlich Individuellen etwas völlig Austauschbares macht, endlich sichtbar werden. Wir könnten anfangen, uns gegen diese Ansprüche zur Wehr zu setzen und uns mit denen solidarisieren, die als Feinde des Systems wegen Gehorsamsverweigerung ausgegrenzt und drangsaliert werden.

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