Stiefmütter, Schwiegermütter und skandalöse Situationen

Heinz Schilling schreibt in seiner Luther-Biographie von einem Zwischenfall zwischen Luther und Georg Spalatin, der nach seiner Zeit am kursächsischen Hof als Superintendent von Altenburg einem verwitweten Pfarrer erlaubte, die Mutter seiner verstorbenen Ehefrau zu heiraten. Luther machte dem früheren Freund daraufhin derart massive Vorwürfe, dass der in eine Angstdepression verfiel und Monate später starb.

Dass Luther so lospolterte, hat eine biblische Analogie: In 1.Korinther 5 tadelt Paulus die Gemeinde in Korinth dafür, weil sie duldete, dass ein Mann aus der Gemeinde mit seiner Stiefmutter liiert war. Es lässt sich aus dem Text selber nicht mehr rekonstruieren, ob der Vater gestorben, die Ehe zwischen Vater und Stiefmutter geschieden und die beiden eventuell sogar irgendwie rechtskräftig ein Paar waren. Ein Kommentator spekuliert zu der Stelle, es müsse ein Fall von ganz besonders schwerem Ehebruch vorgelegen haben, weil Paulus so heftig reagierte.

Aber vielleicht war das, wie Luthers Beispiel zeigt, ja gar nicht der Fall. Vielleicht hatte da tatsächlich nur einer die verwitwete Stiefmutter geheiratet oder heiraten wollen? Nach Deuteronomium 23,1 ist das an sich ein schweres moralisches Vergehen, und nach Paulus‘ Darstellung war es das angeblich auch in den Augen der nichtjüdischen Welt.

Wenn sich das also so verhielt, dann ist das Spannende an diesen beiden Episoden ja dies, dass wir heute (und das zeigt ja schon das Postulat des Kommentators, da müsse doch noch mehr dahinter stecken!) die Aufregung in beiden Fällen nicht mehr verstehen und dass der gesellschaftliche Skandal, den Paulus an die Wand malt, bei uns gar nicht mehr zu befürchten wäre. Gewiss würde der eine oder andere den Kopf schütteln oder die Nase rümpfen, aber das war’s dann auch schon.

Wir bewerten manche Dinge heute anders. Anders als Luther, der von „Blutschande“ (also Inzest) sprach, auch anders als Paulus. Es ist richtig und notwendig, dass wir das tun und uns ein eigenes Urteil bilden und dabei auch der veränderten Rechtslage Rechnung tragen. Ich weiß nicht, wie Dtn 23,1 im heutigen Judentum interpretiert wird – vermutlich gibt es dazu auch mehr als eine Meinung. Als Christen können wir solche Aussagen eben auch nicht einfach nur biblizistisch unmittelbar auf heutige Situationen übertragen, selbst wenn das bei Paulus noch möglich (oder gar kulturell angebracht) gewesen sein sollte.

Spalatin hat mutig entschieden und dafür einen hohen Preis bezahlt. Die Wittenberger wollten ihm jene evangelische Freiheit nicht zugestehen, die sie selbst (durchaus höchst umstritten) in Anspruch nahmen

So weit die Geschichte. Eventuelle Parallelen zur Gegenwart darf sich jeder selbst überlegen.

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