Torn (12): Die Spannung offen aushalten

Im Schlusskapitel von Torn bringt Justin Lee nach den schon beschriebenen Ratschlägen noch einen weiteren wichtigen Gedanken ins Spiel. Christen, die zu ihrer Homosexualität stehen, sagt er, sollten ihren Platz in der Kirche finden. Er selbst habe sich immer gefragt, ob Gott etwas mit ihm anfangen könne, obwohl er doch homosexuell sei. Nun sieht er, dass er nicht trotz, sondern wegen seiner Orientierung etwas Besonderes zu geben hat.

Christen wie er können dazu beitragen, die schon ausführlich thematisierte Kluft zwischen den beiden „Lagern“ zu überwinden. Viele haben tiefe Krisen und Zweifel durchlebt, und haben dabei zu inneren Klärungen und einem tieferen Gottvertrauen gefunden. Und weil viele von ihnen auch unter den Zuständen in den Kirchen gelitten haben, können sie einen authentischen Beitrag zur Versöhnung leisten.

Dazu müssen sie sich aber auf allen Ebenen des Gemeindelebens einbringen dürfen, was zu erheblichen Spannungen führen kann, wenn etwa ein homosexuelles Paar auf eine Gemeinde trifft, die davon überzeugt ist, dass die beiden zölibatär leben sollten. Oft wird in diesem Zusammenhang dann auf 1.Korinther 5 Bezug genommen, wo Paulus darauf beharrt, dass Christen sich in einem Umfeld, dass sie misstrauisch beäugte, moralisch tadellos verhalten sollten. Heute ist in westlichen Ländern die Situation freilich umgekehrt: Kaum jemand lauert auf eine Chance, Christen als moralisch verwerflich zu diskreditieren, vielmehr werden konservative Christen als strenge Moralapostel gemieden. Der gesellschaftliche Konsens, dass Homosexualität prinzipiell „falsch“ sei, bricht momentan überall zusammen, allmählich auch unter Evangelikalen.

Statt in 1.Korinther 5 liefert uns Paulus den Schlüssel zum richtigen Umgang mit unterschiedlichen moralischen Urteilen in Römer 14, wo Paulus dazu aufruft, dass die verschiedenen Seiten einander erlauben, ihrem Gewissen zu folgen. Selbst unter homosexuellen Christen gibt es unterschiedliche Positionen, die im Gay Christian Network miteinander ins Gespräch gebracht werden. Es gibt durchaus gleichgeschlechtliche Paare, die sich aus bewusst einer Gemeinde angeschlossen haben, die ihre Beziehung offiziell nicht unterstützt, weil sie sich dorthin von Gott gerufen sehen.

Damit das gelingt, muss man sich im Dialog üben: Eltern müssen lernen, ihren homosexuellen Kindern zuzuhören, statt voreilige Schlüsse zu ziehen. Schwule und lesbische ChristInnen sollten mit ihren Verwandten und Freunden Geduld haben, unüberlegte Äußerungen nicht auf die Goldwaage legen, und ehrlich von den eigenen inneren Kämpfen reden. In Gemeinden und zwischen Gemeinden gilt es, offen und ohne Druck ins Gespräch zu kommen über die unterschiedlichen Standpunkte.

Das ist Christen ja generell aufgetragen: den Anderen ernsthaft verstehen zu wollen, auch wenn man selbst noch nicht verstanden wird – etwa, indem wir Vorurteile aussetzen und die Sprache des anderen lernen. Das bedeutet sich den Verzicht auf die eigene Meinung, aber die Bereitschaft, sie als etwas Vorläufiges zu betrachten. Schließlich haben wir täglich mit Menschen zu tun, die in vielen Fragen ganz anderer Auffassung sind als wir selbst. Wenn wir einander im Licht der Gnade sehen, dann treten diese Unterschiede zurück und die Gemeinsamkeiten rücken in den Vordergrund.

Ich hoffe, der Kurzdurchgang hat gezeigt, dass sich die Lektüre von Torn lohnt. Momentan ist leider kaum zu erwarten, dass sich ein evangelikaler Verlag an eine Übersetzung wagt. Das allein zeigt natürlich auch, wie tief die Gräben derzeit noch sind. Aber es muss ja nicht ewig dabei bleiben.

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