„Es steht geschrieben…“

Iain McGilchrist berichtet in The Master and His Emissary von einem interessanten Experiment. Probanden wurden mit einem falschen Syllogismus konfrontiert, zum Beispiel:

  • Grundprämisse: Alle Affen klettern auf Bäume.
  • Nebenprämisse: Das Stachelschwein ist ein Affe.
  • Folgerung: Stachelschweine klettern auf Bäume.

Normale Probanden erkennen den Fehler in der zweiten Annahme. Wurde aber während des Versuchs die rechte Hemisphäre des Gehirns deaktiviert, hielt dieselbe Versuchsperson den Schluss für korrekt. Auf die Frage des Versuchsleiters, ob das Stachelschwein denn tatsächlich ein Affe sei, antworteten die Probanden mit nein – das Stachelschwein sei kein Affe. Dennoch stimmten sie der Schlussfolgerung beim nächsten Mal, als sie mit ihr konfrontiert wurden, wieder zu. Als Begründung gaben sie an: „Das steht da so“. Hatte man umgekehrt bei derselben Testperson die linke Hemisphäre deaktiviert, erkannte die rechte den Fehler sofort.

Für McGilchrist zeigt das Experiment anschaulich, dass das formallogische Denken die Tendenz hat, sich zu verselbständigen und den Bezug zur konkreten Wirklichkeitserfahrung zu verlieren. Es bildet ein geschlossenes System von Zeichen, das nur im Blick auf sich selbst stimmig ist, aber nicht mehr mit Außenwelt und deren Erfahrung richtig eingehen kann.

Man kann mit jedem Text auf der Welt so verfahren. Ab und zu freilich begegnet mir das – sicher berufsbedingt – auch mit Bibellesern. Es gibt eine Art, die Bibel zu lesen, die im Wesentlichen selbstreferenziell funktioniert. Wahr ist, was dort geschrieben steht und zwar einzig und allein, weil es dort geschrieben steht, vermeintlich so und nur so. Wer so tickt, entdeckt meist auch in der Bibel selbst nichts Neues mehr, sondern erkennt, was er schon weiß, und was er (aufgrund seiner Vorprägung) dort zu finden erwartet.

Wenn die Realität sich nun diesen Prämissen nicht fügt, was früher oder später fast immer wieder einmal der Fall ist, wird weder das eigene Vorverständnis noch die generelle Gültigkeit einer bestimmten biblischen Aussage für diesen Fall in Frage gestellt, sondern die Erfahrung als Irrtum zurückgewiesen beziehungsweise schlicht ignoriert. Denn „absolut“ sind unsere Wahrheiten häufig nur so lange, wie sie auf keine irritierende, vieldeutige Erfahrung treffen. Weil aber dieses „Wissen“ immer weniger durch Erfahrung geerdet ist, kann man es anderen auch nur in einer Art „Friß-oder-Stirb“-Manier aufs Auge drücken. Gott zu erkennen funktioniert dann nur, indem man die Augen vor der Welt und ihren Widersprüchen verschließt. Freilich ist das selten im positiven Sinne naives „Gottvertrauen“, als das diese Haltung immer wieder gern hingestellt wird, oft geht es dabei da mehr ums Recht haben oder die Bestätigung der eigenen Prämissen – die nämlich auch nach einem Dreisatz funktionieren: Die Bibel ist Gottes Wort – Gott ist allwissend und wahrhaftig – alles, was in der Bibel steht, ist absolut wahr. Dazu gesellt sich dann oft noch die etwas zwanghafte, angsterzeugende Schlussfolgerung: Wer die Bibel kritisch liest (und zwar ganz egal welche Aussage er im einzelnen hinterfragt!), misstraut Gott und macht sich zum Richter über ihn – der Urimpuls des Sündenfalls quasi. Und mit dem Einsetzen der Angst erstarrt die Fähigkeit, in der Bibel ein lebendiges Buch zu sehen und mit ihr in all ihren Schärfen und Unschärfen lebendig auseinanderzusetzen.

Freilich hat man denselben Fehler auch umgekehrt gemacht und viele biblische Inhalte zu bloßen „Fabeln“ erklärt, weil sie sich einem reduktionistischen Rationalismus widersetzten und dessen materialistische und szientistische Grundannahmen erschüttern, wie ein Blick auf die plumpe „Wunderkritik“ im 18. und 19. Jahrhundert zeigt, deren Vertreter meinten, das mechanische Uhrwerk des Newton’schen Universums sei die einzig gültige Realität. Richard Rohr würde das eine wie das andere als „dualistisches Denken“ bezeichnen.

Wer also die Bibel (und alles andere) mit eingeschalteter rechter Hirnhälfte und mit wachem Geist liest – potenziell sind das wir alle – der findet in ihr immer wieder Sätze und Erfahrungen, die ihn einen neuen Blick auf die Welt und das Leben, also auch neue, unerwartete Erfahrungen ermöglichen. Er findet Horizonterweiterungen statt Scheuklappen, sieht genauer hin statt die Augen zu verschließen, und erliegt nicht dem Irrtum, dass man nur durch den Rückzug auf den Buchstaben der Schrift schon gegen Irrtümer abgesichert wäre. Und plötzlich erkennt man Gottes Handschrift in den alltäglichen und natürlichen Dingen, in den Worten und Gedanken anderer Menschen und sogar in eigenen Erlebnissen und Einsichten. Das stelle ich mir unter Weisheit und einem gesunden, nichtdualen kritischen Bewusstsein vor.

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