Spätrömische Dekadenz

Den ausschweifenden Lebensstil der Römer für den Untergang ihres Imperiums verantwortlich zu machen war lange Zeit in Mode bei Historikern und Moralisten, zuletzt noch bei einzelnen Politikern, die wohl fürchteten, dass ein Mindestlohn in Deutschland ähnlich hedonistische Verfallserscheinungen auslösen könnte und dafür mit solchen Thesen satt unter die Mindestlohngrenze der politischen Zustimmung von 5% gerieten.

Aber die Erklärung war in dieser Form schon immer falsch, schreibt Rodney Stark in The Rise of Christianity. Man habe viel zu lange eine eigentlich bekannte Tatsache unterschätzt. Mehrere Epidemien hätten die Population so stark dezimiert, dass immer mehr „Barbaren“ ins Reich geholt wurden, um die brachliegenden Fläche zu bewirtschaften oder das Militär zu verstärken. Viren, nicht Dekadenz schwächten das Reich bis irgendwann die hereindrängenden Germanenstämme leichtes Spiel hatten.

Alle Hedonisten dürfen also aufatmen – falls sie sich je den Kopf über solche Fragen zerbrochen haben, was doch eher unwahrscheinlich ist. Und die Schluss-mit-Lustig-Fraktion muss sich neue Argumente suchen. Sie könnte die Individualethik zurückstellen und sich auf den Klimawandel verlegen. Da droht ein sehr konkreter Untergang, der sich auch sehr konkret als Folge eines bestimmten Verhaltens darstellen lässt und der Verletzung bestimmter Grenzen.

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Glaube und Globalisierung

Tony Blair und Miroslav Volf haben in Yale ein Seminar über Faith & Globalisation gegeben, inzwischen läuft schon die dritte Runde. Man kann sie auf iTunesU hören, wer sich dafür interessiert, kann hier klicken.

Von da aus kann man auch die Aufnahmen der bisherigen Kurse finden und hineinhören. Neben Blair und Volf sind weitere interessante Leute dabei und manche Clips sind auch angenehm kurz. Hier eine kleine Einstimmung:

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Insurrection (4): Erkennen, was ich weiß

Freitag und Samstag habe ich mich auf dem Netzwerktreffen „Ecclesia Attractiva“ der AMD im Wuppertal aufgehalten und eine ganze Reihe sehr interessanter Menschen und Initiativen kennengelernt. Frost und Hirsch würden sich, wenn sie nicht noch am Leben wären, bei dem Titel zwar im Grab umdrehen, aber es war keineswegs alles „attractional“, was dort zur Sprache kam.

Schauen wir nun aber dem talentierten Mr. Rollins weiter über die Schulter bei seiner Apotheose des Zweifels. Mir ist übrigens wieder eingefallen, wo mir der Gedanke schon begegnet ist, dass unser wahres Begehren das Begehren des Anderen ist – er stammt von Jacques Lacan.

Im vierten Kapitel nun ist endlich etwas klarer, worauf er hinaus will. Die letzte Form, die existenzielle Begegnung mit dem Abgrund des Zweifels zu umschiffen, ist der stellvertretende Glaube eines geistlichen Leiters, besonders der des Pfarrers. So lange der hält, kann sich jedes Gemeindeglied Zweifel leisten, ohne in Angst zu geraten, Es ist ja immer jemand da, der die Verbindung offen hält. Strauchelt er aber, dann bricht Panik aus, weil der psychologische Schutz fehlt. Diese Erwartung führt auf Seiten der Leiter dazu, dass sie die eigenen Zweifel verheimlichen, sagt Rollins. Man erfährt davon bestenfalls im persönlichen Gespräch.

Wir weichen der existenziellen Begegnung mit unseren Zweifel auch deshalb so gern aus, weil wir im Grunde schon wissen, was uns da erwartet. Aus demselben Grund also, aus dem wir aufrüttelnde Filmdokus wie An Inconvenient Truth meiden, sagt Rollins. Dann nämlich können wir nicht mehr so tun, als wüssten wir nichts. Wir müssten überlegen, was wir konkret ändern, oder uns dämliche Ausreden suchen und alles beim Alten lassen, oder zugeben, dass uns die Sache (der Klimawandel, die Ungerechtigkeit, Gott, der Nächste) schlicht egal ist.

So weit, so zutreffend. Bissige Fußnote: Es gibt ja durchaus auch Prediger, bei denen man sich wünscht, sie würden mal über irgendetwas anderes reden als nur über ihre nicht so schrecklich interessanten und verdienstvollen Zweifel und Halbherzigkeiten, die ihnen zu allen Knopflöchern herauskommen. Gemeinden, in denen die religiöse Grundstimmung nicht allzu menschlicher Triumphalismus, sondern ebenso menschliche milde Depression und bequeme Verliebtheit ins Scheitern ist. Hat Rollins von denen noch keinen getroffen?

Als ich mich schon langsam fragte, ob wir bei Rollins statt von „wiedergeborenen Christen“ von „wiedergestorbenen“ reden sollten, da bekam er gegen Ende des Kapitels doch noch die Kurve. Erst mit einem Zitat von Kierkegaard, der zwischen Dichtern und Kritikern unterscheidet: Während der eine etwas existenzielle erleidet und daraus seine Kunst gebiert, sieht der andere das unter formalen und ästhetischen Gesichtspunkten, bleibt aber teilnahmslos. A/Theismus – den Begriff benutzte Rollins schon in How Not To Speak of God – heißt dann nicht, den Glauben inhaltlich zu entleeren oder zu bestreiten, sondern ihm die Funktion als Schutzmechanismus gegen das Leiden an und mit Gott in dieser Welt zu nehmen.

Am Ende nimmt Rollins Bezug auf Mutter Theresa und ihren jahrzehntelangen Kampf mit der Abwesenheit Gottes. Er zitiert aus einem ihrer Briefe und erwähnt dann, dass sie diese Zweifel zwar existenziell erlitten hat, aber nie öffentlich thematisierte. Einerseits war ich erleichtert, dass Mutter Theresa Rollins Test auf wahren Glauben (Rechtgläubigkeit wäre ein zu böses Wort) bestanden hatte, andererseits fragte ich mich unwillkürlich, ob sie nicht genau das gemacht hatte, was Rollins zu Beginn des Kapitels so kritisiert hatte, nämlich nach außen hin an den orthodoxen Formulierungen festhielt, während in ihr für niemand außer ihren Beichtvater erkennbar der Sturm des Chaos tobte. Oder habe ich jetzt schon wieder etwas nicht kapiert?

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Bewegende Worte

hat Mona Simpson, Steve Jobs leibliche Schwester, für ihren Bruder gefunden. Wer sie noch nicht gelesen hat, findet ihr Ansprache hier. Es ist eine sehr intime und sehr menschliche Perspektive und man spürt, wie sehr sie ihrem Bruder zugetan war.

Unter den schwierigen Bedingungen ist das ja gar nicht selbstverständlich, um so schöner, dass es so war.

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Insurrection (3): Postmoderner Ikonoklamus?

Das dritte Kapitel von Insurrection hat mich etwas ratlos gemacht. Peter Rollins stellt verschiedene Arten vor, wie Glaube (an den religiösen deus-ex-machina) und Zweifel koexistieren können, ohne dass es ersterem an den Kragen geht:

  • Man kann theologische Lippenbekenntnisse zum Wert des Zweifels und Erfahrungen von Verlust abgeben und parallel an einem Gemeindeleben teilnehmen, das diese Gedanken und Erfahrungen (etwa im Liedgut und der Liturgie) verschweigt und konterkariert,
  • man kann sich von organisierter Religiosität zeitweilig verabschieden, nur um in de nächsten Krise wieder auf sie zurückzugreifen (um den drohenden Sturz in die Angst abzuwenden), subkutan hat man sie jedoch immer behalten,
  • man kann eine indirekte Teilhabe an der heilen Welt des religiösen Glaubens über Ehepartner und Kinder pflegen, während man sich selbst als „nicht religiös“ bezeichnet und gebärdet. Rollins spricht süffisant davon, dass man letzten Endes eine „dunkle Nacht der Seele erleben und dabei alle Lichter an lassen kann.“
  • Einen anderen Umgang mit Zweifeln pflegt man im Fundamentalismus: Hier herrscht das unausgesprochene Gesetz, dass der Zweifel überhaupt nicht thematisiert werden darf. Vorhanden ist er selbstverständlich und führt zu skurrilen Vermeidungsstrategien.

So oder so, meint Rollins, wird die eigentlich nötige existenzielle Verlusterfahrung umgangen, man flirtet (wenn überhaupt) lediglich mit der Vorstellung, ohne ernst zu machen. Quer durch alle kirchlichen Traditionen. Für Rollins bedeutet das: Man drückt sich um das Kreuz, man hat noch gar nicht begonnen, im christlichen Sinn zu glauben.

Die eine Frage wäre, ob dieses sehr allgemeine und gewagte Urteil über eine große Vielfalt von Individuen, Gemeinschaften und Konfessionen gerechtfertigt ist. Noch spannender finde ich die Frage, ob man sich um eine solch existenzielle Erfahrung überhaupt drücken kann. Wenn ich mich mit Menschen unterhalte, die ähnlich Dinge erlabt haben, dann scheint mir, dass sie sich das nicht aussuchen und dass auch alle Versuche, es zu verhindern, aussichtslos waren.

Ist Rollins‘ selbsternannte Pyro-Theologie also eine postmoderne Form von Ikonoklasmus, mit dem er jede Vorstellung anfällt, von der er befürchtet, sie könne irgendeine Form von Gewissheit und Trost vermitteln? Und ist sie darin nicht, wie die Verachtung des Volksglaubens durch die radikalen Reformatoren (die Bilder und Kunstwerke in den Kirchen pauschal als „Götzenkult“ diffamierten) am Ende vielleicht auch eine Form von elitärer Bevormundung anderer, für die man sich mancher Dinge ganz erstaunlich gewiss sein muss? (Jason Clarks engagierter Widerspruch wäre dann das postmoderne Pendant zu Luthers Invokavitpredigten)

Warten wir mal ab, was das vierte Kapitel bringt.

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Insurrection (2): Gott verlieren?

Wir hatten zum ersten Kapitel schon eine muntere Diskussion und inzwischen ist Jason Clarks Kritik zu Insurrection erschienen. Ich habe sie nur kurz überflogen, wer sie lesen möchte, findet sie hier.

Nach dem Einstieg mit einer etwas eigenwilligen Bonhoeffer-Interpretation wendet sich das zweite Kapitel der Frage zu, welche Rolle das Kreuz für den christlichen Glauben spielt. Rollins bietet hier einen Remix aus dem bekannten Diktum von Chesterton, am Kreuz sei Gott für einen Augenblick Atheist geworden, und gewissen Reminiszenzen an Luthers Theologia Crucis, auch wenn dessen Name nirgends erscheint.

Rollins wehrt sich gegen ein „mythologisches“ Verständnis des Kreuzes. Mythen definiert er als sinnstiftende Erzählungen und eine (Re-)mythisierung des Kreuzes heißt für ihn, den Tod Jesu zur bloßen Durchgangsstation zu machen in einer Geschichte, die durch und durch und ohne jeden Bruch sinnvoll ist. Jesu aramäisch geäußerte Klage der Gottverlassenheit ist , weil nicht Hebräisch formuliert (das ist ein recht wackliges Argument) auch nicht als Zitat aus Psalm 22 zu verstehen, so als würde Jesus noch in der Klage über sein Leid an Gott festhalten. Sie geht auch über die in Gethsemane geäußerte Leidensbereitschaft bis zum Märtyrertod hinaus: Für Rollins (und es ist sicher kein Zufall, dass er sich zwischendurch auf Nietzsche bezieht) ist es der Verlust Gottes und des Glaubens selbst, der hier stattfindet.

Rollins bedient sich hier eines berühmten Zitats von Elie Wiesel, der davon sprach, dass Gott im KZ am Galgen gehangen hatte. Es ist allerdings nur der Verlust des Deus Ex Machina, der hier stattfindet, so dass der Platz für den wahren Gott frei wird. Das erinnert an Meister Eckarts „Ich bitte Gott, dass er mich Gottes quitt mache“. Aber ist es so gemeint, im Sinne der mystischen Purgatio? Was mir an dieser Stelle fehlt, ist eine trinitätstheologische Reflexion über diesen Aspekt des Kreuzesgeschehens. Ich habe mich beim Lesen gefragt:

  • Hatte Jesus bis dahin etwa auch eine allgemein-religiöse Vorstellung von Gott, die sterben musste?
  • Wenn ja: Was bedeutet das für das Verständnis seiner vorösterlichen Verkündigung?
  • Hätten wir mit diesem Gedanken dem Kreuz nicht schon wieder einen – wenn auch anderen – „Sinn“ untergejubelt?

Das Kreuz muss für Christen mehr sein als ein Glaubensinhalt. Es geht darum, diesen Verlust Gottes existenziell zu erfahren. Rollins wird an dieser Stelle ausnahmsweise biografisch, wenn auch nicht zur konkreten Erfahrung des Gott-Verlierens. Er spricht von der Notwendigkeit, sich von seinen familiären und damit auch religiösen Prägungen zu befreien. Am Kreuz, sagt er mit Zizek, kann man erkennen, was „Vater [und Mutter] hassen“ in Jesu Sinne bedeutet: Den Verlust der eigenen, ererbten Identität zugunsten einer radikalen Offenheit und Unbestimmtheit. Letztlich sind auch nicht die anderen Menschen, sondern wir selbst unser Kerkermeister: „Wir sind gespaltene Subjekte, die im sich Krieg mit dem befinden, was wir erschaffen haben und was uns erschafft“ (S. 35). Der Deus Ex Machina ist für Rollins ein Teil dieser alten Identität der Entfremdung.

Weitere Fragen bleiben für mich am Ende dieses Kapitels:

  1. Fehlt dem Aufruf zum radikalen Bruch bei Rollins das konkrete Ziel – steht bei Jesus das Verlassen des Alten nicht im Schatten der Ankunft des Neuen? Und ist es nicht der Ruf Christi statt der eigene Entschluss, der diesen Aufbruch erst möglich macht?
  2. Ist die radikale Offenheit nicht eine idealistische Fiktion und ähnelt sie nicht mehr dem Weg des verlorenen Sohnes, der alle Bindungen kappt und seine Identität negativ (Rollins spricht von „Subtraktion“, Miroslav Volf spräche in diesem Zusammenhang vielleicht auch von „Exklusion“) definiert?
  3. Ist der Verlust Gottes für Rollins keine Erfahrung eines schon Glaubenden auf seinem Lebensweg, wie bei Mutter Theresa, Johannes vom Kreuz und anderen (Tomas Halik hat etwas Ähnliches im Leben der Therese von Lisieux beschrieben), sondern der Anfang des eigentlichen Glaubens und die Abkehr vom religiösen Aberglauben und frommen „Heidentum“ eines geordneten, sinnvollen Universums, von dem Rollins sich abgrenzt?

Schauen wir einmal, was die folgenden Kapitel dazu austragen.

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Für müde Krieger

In den letzten Tagen hat mich Van Morrisons „I’m Tired, Joey Boy“ begleitet. Die trüben Herbsttage stehen ja erst noch bevor. Man könnte also eine wunderbare Burnout-Prävention damit bestreiten. Das beginnt schon mit der Ursachenforschung, wenn es dort treffend heißt:

Ambition will take you

And ride you too far and

Conservatism bring you to boredom once more

Zwischen Stillstand und Überforderung liegt der Weg zurück zum Ursprünglichen. Das beschreibt der Belfast Cowboy mit diesen Worten:

Sit down by the river

And watch the stream flow

Recall all the dreams

That you once used to know

Der Gang in die Einsamkeit und zurück zum Einfachen führt dazu, dass die Wogen sich glätten und die Stürme legen:

Love of the simple is all that I need

I’ve no time for schism or lovers of greed

Go up to the mountain, go up to the glen

When silence will touch you and heartbreak will mend

Ich werde mir das Lied noch ein paarmal anhören… 🙂

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