Zuspruch und Wirklichkeit

Heute las ich einen Bibeltext, der, wie ich zunächst fand, den Mund gehörig voll nahm bei der Beschreibung der Wende, die Jesus für die Welt und das Leben der Christen (nein, aller Menschen) gebracht hat. Meine eigene Erfahrung und der Vergleich mit dem, was Menschen um mich her erleben, erschien mir in dem Augenblick weit hinterherzuhinken. Spontan war mir mehr danach, Gott darum zu bitten, dass er uns hilft, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu verringern.

Dann wurde mir plötzlich bewusst, dass es so gar nicht gemeint war. Ein Wortspiel aus dem Englischen fiel mir ein: „Not an expectation to live up to, but a promise to live into“. Und genau das ist es! Auch zwischen Zuspruch und Wirklichkeit besteht noch eine Kluft, aber sie wird dadurch geschlossen, dass wir auf dem Weg bleiben, dem Zuspruch vertrauen und uns immer wieder die Verheißungen vor Augen halten. GInge es um einen Anspruch, dann stellte sich sofort die Schuldfrage: Wer trägt die Verantwortung dafür, dass meine persönliche Erfahrung nur ein fader Abklatsch dieser Aussagen ist? Aber Gott und die biblischen Autoren legen uns hier keine Latte vor die Nase, die wir nur überspringen oder reißen können, sondern sie bauen uns ein Sprungbrett. Die Kluft ist erst dann ein Problem, wenn ich nicht mehr springen will.

Es geht dabei auch um die Richtung der Zeit. Der biblische Zuspruch blickt vom herrlichen Ende zurück und sieht den Sonnenaufgang auf den Gesichtern derer, die ihm entgegen gehen. Von hinten betrachtet, aus der Perspektive dessen, der noch auf dem Weg (oder erst am Anfang des Weges ist) verdunkeln wir bloß den Schimmer am Horizont. Aber wenn irgendetwas mit dieser Welt – und mit mir – besser werden soll, dann muss ich mir diese Perspektive der Verheißung schenken lassen, die im Senfkorn schon den großen Baum sehen kann.

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7 Antworten auf „Zuspruch und Wirklichkeit“

  1. „Aber wenn irgendetwas mit dieser Welt – und mit mir – besser werden soll, dann muss ich mir diese Perspektive der Verheißung schenken lassen, die im Senfkorn schon den großen Baum sehen kann.“

    Das triffts – danke!

  2. Danke Peter. Du hast so ungefähr in Worte gefasst, was ich empfinde, wenn ich an „meine“ Gemeinde denke, für die ich zT mit Verantwortung trage und ihre Menschen, um die man sich soviel Gedanken macht. Natürlich muss man Realist bleiben und die Dinge sehen, die verbesserungswürdig sind und fernab von dem, was man persönlich sich erhofft. Auf der anderen Seite steht aber die feste die Zusage, dass wir auf SEIN Ziel zugehen. Uns dabei von „seinen Augen leiten“ zu lassen, den Blickkontakt halten, nur darum muss es uns wirklich gehen. Auf dem Weg bleiben und weitergehen – mit dieser wunderschönen Perspektive.

    Ein tolles Bild: Licht von vorne…

  3. Spannend finde ich, wenn man neben Dein Modell („Sprungbrett“) die ungesunden Alternativen stellt, die es ja zu dieser heiklen Frage auch gibt.

    Version 01: „Wir reißen die Latte, und zwar dauernd“. Also: Permanente Schuldkomplexe, die man mit austauschbaren Ritualen zu bekämpfen/kompensieren versucht. Ich glaube, es sind nicht wenige, die auf diese Art unter ihrem Glauben leiden. Könnten sie die Verheißung sehen, wäre viel geholfen.

    Version 02: „Wir springen locker drüber“. Extreme Vertreter dieser Spezies sind sicher Gruppen wie Wort+Geist. Und interessant: In ihrer Theologie (so weit ich sie kenne und verstehe) gibt es die Dynamik zwischen heute und morgen („herrliches Ende“) gar nicht. Es gibt nur das Heute, in dem man ein irgendwie definiertes Alles haben möchte. Gleichzeitig wird der Horizont so weit eingeschränkt (Jesus, meine Gruppe und ich), dass man die Nöte des Jetzt (die „Kluft“ im Jetzt) gar nicht mehr wahrnimmt; nicht die eigenen, nicht die der anderen und schon gar nicht die der „Welt“. – Wirklichkeitsflucht also, die eine Verheißung gar nicht braucht. Und wer da dann schwach wird, hat nichts mehr, woran er sich halten kann.

    Mit offenen Augen für die Realität immer wieder verheißungsvoll zu springen – das ist schon eine ganz andere Alternative.

  4. Ich muss in dem Zusammenhang immer an Philipper 3 denken – und finde die Stelle unendlich tröstlich. Wenn nämlich ein Paulus zuerst in ergreifendsten Worten schildert, was wir in Christus nicht schon alles haben – nur um dann von sich selbst zu sagen: Ihr lieben, ich habe das alles genauso wenig begriffen wie ihr, ich habe lediglich eine Vorahnung davon, aber die ist so toll, dass ich alles dransetze, um dem so nah zu kommen wie es mir nur irgendwie möglich ist.

    Aber ist es am Ende nicht der gesündeste Weg, genau diese Spannung, in der wir alle stehen, als gegeben zu akzeptieren und einfach auszuhalten= Eine Spannung, die wir ja genauso auch zwischen Römer 7 und Römer 8 finden. Beides ist ja tagtägliche Lebensrealität. Bei mir zumindest. Ich weiß, dass ich bei Gott am besten aufgehoben bin. Und trotzdem renn ich immer wieder woanders hin, um dort was zu suchen und natürlich nicht zu finden (oder wenn, dann nur einen billigen Abglanz, der einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt), das nur Gott mir geben kann. Und genauso ahne ich bestenfalls, was ich in Gott habe, und kann ichs unmöglich in meinen Kopf hineinkriegen, wie unfassbar fantastisch das ist. Aber irgendwas hat mich daran so gefangengenommen, dass ich trotz aller Irrungen und Wirrungen einfach nicht anders kann als dem dann doch irgendwann wieder nachzugehen.

    Es ist schon ein verrücktes Leben als gefallener Mensch in einer gefallenen Schöpfung. Da kann es einen ganz schön herumreißen. Der alte Mensch in mir plärrt „LINKS“, während der neue Mensch genau weiß, dass es rechts viel besser wäre – und den alten Menschen plärren lassen und sich nicht zu viel zu scheren darum ist ein Weg des sich langsam und stur und mühsam drin einübens, der vielmaliges und frustrierendes Scheitern mit sich bringt. Und wenn man es dann tatsächlich schafft, in diesem ganzen Streben nicht auch noch in religiöse Denk- und Verhaltensmuster hineinzukippen, dann, ja dann, dann ist das echt eine lohnende Sache, so zu leben. Manchmal schaff ichs sogar! Und wenn nicht, dann denk ich an guten Tagen an Paulus, wenn er sagt, ich lasse das alte hinter mir und streck mich nach dem aus, was vor mir ist. Wurscht was war, ich will bei Christus sein, weil es nirgendwo besser sein kann für mich.

    Hat Christus irgendwann behauptet, das Nachfolge einfach ist…!?? Und trotzdem würd ich um nichts in der Welt mehr ohne ihn leben wollen… Aber wie ich schon sagte, es ist ein verrücktes Leben als Christ in dieser Welt. Gehts wem anders?

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