Wenn dein Kind nicht dein Kind ist…

201307121106.jpgVor ein paar Tagen hatte ich ein sehr interessantes Gespräch mit einer sympathischen Mutter über Reinkarnation. Sie erzählte, wie sie und andere mit Hilfe von Hypnose und eines Therapeuten den Ereignissen früherer Leben auf die Spur kamen und mit diesen Einblicken aktuelle Probleme lösen konnten, sprach von Kindern mit „alten Seelen“ und dass es doch, gäbe es nur dieses eine Leben, ein unerträglicher Gedanke wäre, wenn manche viel früher sterben als andere oder ein grausames Schicksal zu erdulden hatten.

Und dann wollte sie wissen, wie ich das sehe.

Ich stimmte zu, dass der Gedanke an einen viel zu frühen Tod, ein unerfülltes Leben, und noch mehr der an schreiende Ungerechtigkeit und maßloses Leid schwer zu ertragen ist. Aber macht die Annahme, es gebe ein nächstes und ein übernächstes Leben, das Ganze besser? Wäre sie nicht (mindestens so wie die feige „Vertröstung“ auf den Himmel, die Christen immer wieder, und gelegentlich leider zu Recht vorgeworfen wurde) insgeheim eine eher abstrakte Rechtfertigung dieser Dinge, die man sich durch Fehlverhalten in einem früheren Leben zugezogen hat oder im nächsten Leben dann erstattet bekommt? Und wie würde sich das auswirken auf meinen Einsatz für Gerechtigkeit jetzt, in diesem Leben?

Noch viel schwieriger fand ich den Gedanken da, wo er konkret wird: Wenn es eine „Seelenwanderung“ gibt, wir es also nicht mit einzigartigen Menschen zu tun haben, sondern mit einzigartigen Seelen (die Differenzierung stammte von meiner Gesprächspartnerin) – leider mit einer gehörigen Teilamnesie! –, dann ist mein Kind gar nicht mein Kind und ich bin nicht das Kind meiner Eltern, sondern lediglich eine „Seele“, die sich dieses Umfeld als Durchgangsstation ausgewählt oder zugewiesen bekommen hat. Mit mir hat das herzlich wenig zu tun. Zu glauben, dass nicht nur Augenfarbe, sondern auch seelische Eigenschaften nur ansatzweise „vererbt“ sein könnten, wäre eine Illusion. Wir wären alle irgendwie Adoptiveltern. Das kann natürlich auch gutgehen und würde vielleicht die Gefahr reduzieren, dass Eltern ein Kind als Erweiterung des eigenen Selbst missverstehen. Es käme ja schon irgendwie „fertig“ auf die Welt.

Über Vererbung hingegen müssten wir dann gar nicht mehr reden, und alles soziale Lernen würde mächtig relativiert, es bildet lediglich die oberste Schicht eines dicken, schier undurchdringlichen Psycholaminats. Psychische Störungen werden dann nicht mehr nur als verstehbare Reaktionen auf die überschaubare (und in der Regel auch überprüfbare) Lebensgeschichte und Umgebung hin befragt. Das Buddeln nach Erklärungen in der Vergangenheit und im Unbewussten, das schon der klassischen Psychoanalyse einiges an Kritik eingetragen hat, kann nun spekulativ ins Unendliche erweitert werden. Wenn man von „alten Seelen“ ausgeht, die schon etliche Leben auf dem Buckel haben (und eventuell von einem ganz anderen Planeten stammen), dann ist irgendwann jede nur denkbare Komplikation auch „tatsächlich“ passiert und erlebt worden.

Und der Skeptiker in mir argwöhnt: Freilich wird in den meisten Fällen dazu ein „Therapeut“ nötig sein, und freilich kostet das immer eine Stange Geld. Nicht auszuschließen, dass die intensive persönliche Zuwendung positive Wirkungen entfaltet – aber beweist das schon die Theorie? Zumal man dann eine ganz strikte Geist/Materie-Spaltung annehmen muss, unser Denken, Fühlen und Erinnern also ein gänzlich körperloses wäre und damit im krassen Widerspruch zu dem stünde, was wir gerade über unser Gehirn alles entdecken…

Mich interessiert das Ganze auch, weil wir an diesem Wochenende in einem Seminar mit Andreas Ebert und Niklas Tartler über Leid und Schuld, aber auch den großen Segen nachdenken werden, den unsere jeweiligen Familiensysteme mit sich bringen. Immer ausgehend von der Annahme: Jeder Mensch ist einzigartig. Wie wir miteinander umgehen, spielt eine wichtige Rolle – nicht nur für die oberste Schicht unserer Persönlichkeit. Aufgrund des ganz konkreten Ortes, den konkreten Zeit und konkreten Verhältnisse, in die ich hineingeboren wurde, ergeben sich ganz für jede(n) einzigartige Zumutungen und Möglichkeiten. Statt hinter diese Dinge zurückzuspekulieren hilft es mir, diese geschichtliche Situation genau zu betrachten und mit Gottes Hilfe und Führung richtig darauf zu antworten.

Wie gesagt: Die christliche Vorstellung von der Auferweckung von den Toten kann zwar auch als „Opium“ missbraucht werden. Richtig verstanden aber bestätigt sie gerade die Einzigartigkeit eines jeden Menschen. Gottes Liebe zielt ja gerade darauf ab, diese ganz besondere Geschichte mit jedem von uns nicht abbrechen zu lassen, sondern ihrer konkreten Erfüllung entgegenzuführen. Wir müssen nicht selber alles gut machen, neben dem Leben wird uns auch das Heil geschenkt. Daher hoffen wir mit Paulus auf die eine leibliche Auferstehung, die das Soziale (geheilte Beziehungen) und Ökologische (geheilte Schöpfung) mit einschließt. Daher sind auch die Beziehungen jetzt und hier, in der Familie, zu den Mitchristen, zum Nächsten nichts Austauschbares oder Belangloses. Auf sie fällt schon der helle Vorschein der neuen Welt. Sie haben Ewigkeitspotenzial, das unbegrenzt wachsen kann.

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