Waldgedanken

Zehn wundersame Tage des Schweigens und der Meditation in Gries liegen hinter mir. Alles begann bei strahlendem Wetter, in dem sogar der Frankenwald, in dessen Sichtweite ich das erste Viertel meines Lebens verbrachte, nicht so düster wirkt wie sonst. Mit dem gut gefüllten Rucksack stieg ich in Steinberg aus dem Bus und legte die letzten zwei steilen Kilometer durch den Wald zu Fuß zurück.

Ein weißhaariger und -bärtiger Waldbesitzer, den ich ein paar Tage später bei einem Spaziergang traf, erzählte mir in seinem gemütlichen Dialekt, die karge Fichtenwüste sei früher ein großer Buchenwald gewesen, bis die Eisenbahn gebaut wurde und die Einheimischen mit Holz für den Gleisbau den großen Reibach machten. Heute rodet und pflanzt dort anscheinend jeder, wie es ihm gerade passt; konstant ist nur, dass immer irgendwo gesägt wird, eine holzwirtschaftliche Dauerbaustelle, die auf Jahrzehnte garantiert keinen Schönheitspreis bekommen wird.

Wenn abends das Sägen beendet ist, beginnt nach kurzer Pause das Schießen. Immer wieder fielen in den zehn Tagen Schüsse in der Nähe des Exerzitienhauses. Entlang der Äcker auf den Bergrücken stehen im Schnitt alle dreihundert Meter Schießstände, aus denen die Jäger alles, was sich bewegt, ins Visier nehmen können. Das toppt die einstige Wachtturmdichte an der nahe gelegenen innerdeutschen Grenze doch sehr deutlich (Spaziergängern wird in dieser Gegend markante Kleidung empfohlen).

Eines Morgens lag dann auch ein verendetes, vermutlich am Vortag angeschossenes Wildschwein mitten auf meiner Joggingstrecke, ein paar Tage später lag noch ein Kadaver in einer Rinne am Abhang und verströmte ein unangenehmes Aroma. Deutlich netter sind die lebenden Tiere, die man dort trifft – abends kommen Feldhasen heraus und sitzen am Wegrand, Rotwild und sogar ein Fuchs kreuzten meinen Weg; und wenn es nirgends sägt und rumpelt, hört man die unterschiedlichsten Vogelstimmen.

Ich war froh, nicht im November dort zu sein. So konnte ich die Blumenwiesen genießen und das kleine Paradies, das um das Exerzitienhaus herum entstanden ist, mit Lupinen und Laufentenküken, Kräutern und Kirschbäumen. Der Leiter der kleinen Hausgemeinschaft, Pater Anton Altnöder, hat Gartenbau studiert, bevor er dem Jesuitenorden beitrat. Und offenbar können in dieser Oase auch Menschen neu aufblühen.

Am ersten Tag geht mir der Begriff „Zeitverschwendung“ durch den Kopf. Wie kann man hier mit voller Absicht tagelang unproduktiv herumsitzen? Oder verhält es sich umgekehrt: Kann man Monate und Jahre verlieren mit Dingen, die einen nicht richtig ausfüllen, an denen man nicht reift und wächst, die mehr Enttäuschung hinterlassen als Zufriedenheit, nur weil man sich nie die Zeit genommen hat, sich den tieferen Fragen des Lebens zu stellen, bevor man loshetzt?

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