Unbequeme Erinnerung

Es gibt Tage, da kann man in aller Demut stolz sein auf unsere Demokratie. Seit vorgestern gehört dazu: Navid Kermanis Rede zum 65. Jahrestages des Grundgesetzes, die mit folgender Passage für Aufsehen gesorgt hat (vor allem natürlich bei den Kräften, die damals für die „Verstümmelung“ des Textes verantwortlich waren):

Wir können das Grundgesetz nicht feiern, ohne an die Verstümmelungen zu erinnern, die ihm hier und dort zugefügt worden sind. Auch im Vergleich mit den Verfassungen anderer Länder wurde der Wortlaut ungewöhnlich häufig verändert, und es gibt nur wenige Eingriffe, die dem Text gutgetan haben. Was der Parlamentarische Rat bewußt im Allgemeinen und Übergeordneten beließ, hat der Bundestag bisweilen mit detaillierten Regelungen befrachtet. Nicht nur sprachlich am schwersten wiegt die Entstellung des Artikels 16. Ausgerechnet das Grundgesetz, in dem Deutschland seine Offenheit auf ewig festgeschrieben zu haben schien, sperrt heute diejenigen aus, die auf unsere Offenheit am dringlichsten angewiesen sind: die politisch Verfolgten. Ein wundervoll bündiger Satz – „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ – geriet 1993 zu einer monströsen Verordnung aus 275 Wörtern, die wüst aufeinander gestapelt und fest ineinander verschachtelt wurden, nur um eines zu verbergen: daß Deutschland das Asyl als ein Grundrecht praktisch abgeschafft hat. Muß man tatsächlich daran erinnern, daß auch Willy Brandt, nach dem heute die Straße vor dem Bundeskanzleramt benannt ist, ein Flüchtling war, ein Asylant?

Heute war Europawahl. Ob Kermanis Appell gegen die Abschottung Früchte getragen hat?

Share